menú
Wo ist die Treue daheim?
1. Ortung im Menschen
Der Ort, wo die Treue daheim ist, bleibt in der Geschichte der Menschheit seltsam verborgen. In der Frühzeit der Völker steht sie groß im Zentrum der vom wohlgeratenen Menschen erwarteten Eigenschaften, gefährdet natürlich durch den immer lauernden Verrat, aber in ihrer Stellung unangefochten. Wenn die Frühzeiten versinken und die Hochkulturen beginnen, drängen sich andere Tugenden vor, unter den vier kardinalen findet sich die Treue nicht mehr. Nicht als würde sie nicht mehr geschätzt, aber sie verwandelt sich im sozialen Bereich in nüchterne Überlegenheit – pacta servanda sunt –‚ im privaten in eine an einzelnen Individuen bewunderte Spezialität. Heute steht sie in einer härteren Krise als je.
Menschliche Treue beruht auf einem interpersonalen Ich-Du-Verhältnis, das gleichzeitig natürlich und sittlich begründet ist, wobei die Beziehung zwischen dem Naturhaften («es war immer so, und so ist es erfahrungsgemäß am besten») und dem Sittlich-Verantworteten («du mußt jetzt gegen deinen Vorteil die Treue wahren») unreflektiert in der Schwebe bleibt. Nur wo ich «trauen» kann, ist eine dialogische Existenz zwischen Menschen möglich: Gespräch, Vertrag, Übereinkunft, Geschäft, jedes gemeinsame Unternehmen zweier oder mehrerer. Es bedarf einer Vorgabe jedes Beteiligten, damit die Wege zwischen den Personen gangbar werden.
Was aber geschieht, wenn das natürlich-sittliche Grundverhältnis zwischen Ich und Du ersetzt wird durch eine feste, nicht vorgebende, sondern immer schon vorgegebene, die Personen überspielende Regel – man nennt sie Ideologie –‚ deren unbedingter Anspruch auf Richtigkeit jedes Mittel heiligt, durchaus auch Lüge und Verrat? Die Anwendung solcher Mittel muß dort erwartet werden, wo das soziale Geflecht sich von der Sphäre der interpersonalen Vorgaben ablöst. Nun kann ein Solschenizyn seine Kassandrarufe ausstoßen: «Traut ihnen nicht, es ist kein bißchen Treue in ihnen!», ihre Pläne rollen auf einer Ebene ab, wo ihr nicht mehr seid als von ihnen bewegte Schachfiguren. Die andere Hälfte der Welt? Sie ist in zwei Haltungen gespalten: auf der einen Seite versucht sie den ideologischen Block zu einer menschlichen Vertrauenshaltung zu bewegen («détente»), wird dabei aber durch bittere Erfahrungen dauernd enttäuscht. Auf der anderen ist sie, wie die ganze Welt durch die harten Gesetze der Technisierung, der Hochfinanz und der vom zweiten Block aufgedrängten Abwehrbereitschaft bestimmt, die trotz der noch verbleibenden Freiheits(zwischen)räume ein ähnlich überpersonales Netz von obersten Verhaltensregeln zu schaffen drohen.
Was wunder, wenn eine solche Welt von den aufsteigenden Generationen mit immer größerem grundsätzlichem Mißtrauen betrachtet wird. Von wem sollten sie die Treue lernen als die Einstellung, die allen Verkehr zwischen Menschen erst vermenschlicht? Wie sollte der Boden, auf den sie treten, tragfähig genug für solches Vertrauen sein? Und wenn man, nachdem man sich hinreichend versichert hat, einen oder zwei Schritte wagt, wie sollte man auf den Gedanken kommen können, seine ganze Existenz mitsamt ihrer Zukunft vorweg einzusetzen? So etwas nicht zu tun, erscheint in der gegenwärtigen Weltsituation, die auf keiner wenn auch noch so prekären natürlichen Sittlichkeit mehr aufruht, ein evidentes Gebot der Klugheit, das unreflex, instinktiv befolgt wird. Hier liegt ohne Zweifel der letzte Grund für die «partiellen Identifikationen» in der Kirche, vor allem für den Rückgang der Priesterweihen und der Ablegung endgültiger Ordensgelübde in ihr.
Ideologie ist eine «Wahrheit», die man ohne persönlichen Einsatz lernen und sich aneignen kann (so sehr sie nachträglich die Existenz einfordern wird). Die heutige Krise der Treue ist identisch mit der Krise der menschlichen Form der Wahrheit. Solange Wahrheit eine menschliche Form hat (der Mensch «Hirte des Seins» ist), verlangt sie, um in der Welt zu sein, vom Menschen Wahrhaftigkeit. Sie kann nicht als bloß unter-, außer-, übermenschliche Wahrheit existieren.
Die Sprache verrät uns in vielfachen Zeugnissen die engste Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Wahrhaftigkeit oder Treue, ob man nun vom Stamm «wahr» oder vom Stamm «treu» ausgeht, und zwar nicht nur im Hebräischen und damit Biblischen, wo bekanntlich beide Bedeutungen in emeth (und seinen Derivaten, wie amen) einfach zusammenfallen. Zu «wahr» gehört «be-währt», gehört das altnordische varar als Treuegelöbnis, die Göttin Var behütet die Treueschwüre; das angelsächsische waer besagt Dienstvertrag, Bündnis, Treue, HuId; althochdeutsch wara, mittelhoch deutsch ware ist wiederum Bündnistreue. Geht man von «Treue» aus, so begegnen einem sogleich das englische true, truth (wahr, wahrhaftig, loyal, Wahrheit, Aufrichtigkeit, Treue), truce ist der Waffenstillstand auf gegenseitiges «Treu und Glaube» hin (vgl. treuga Dei, trève), trust ist festes Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit des andern, Kredit. Treu ist einer, dem man trauen kann; wenn zwei einander trauen, können sie getraut werden. Der Ausruf «traun!» (den Luther liebte) heißt «in Wahrheit!». Und so fort.
Dieses Zueinander von Wahrheit und Treue ist kennzeichnend für die Menschenwelt. Man kann es nicht aus einer untermenschlichen (wenn auch als umfassend gedachten) Natur ableiten. In der Tierwelt gibt es Beispiele für alles Beliebige: für Zusammenhalten wie Auseinandergehen. Das ist bei den Herden-, den Begattungs- und Bruttrieben evident. Man kann menschliche Treue auch im engeren sexuellen Bereich nicht aus dem spezifischen Verhalten der Geschlechter in der Natur oder aus Sublimierungen dieses Verhaltens ableiten, wie es etwa (um ein Beispiel unter vielen zu nehmen) Nietzsche tut. Zwar scheint er in einem Text der «Morgenröte» der Meinung zu sein, die Sublimierung der Leidenschaften habe den Menschen veredelt, ihn «übermenschlicher» gemacht:
«Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, daß die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja daß die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines edlen Glaubens, trotzdem daß derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seinesgleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.»1
Aber nicht viel später, in der «Fröhlichen Wissenschaft» wird der Trugcharakter, der schon im ersten Text betont wird, bei dieser Sublimierung wenigstens für den Mann noch viel stärker herausgestrichen: «Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff ‹Besitz›, ‹besessen›; folglich will es einen, der nimmt, der sich nicht selbst gibt und weggibt, der umgekehrt vielmehr gerade reicher an ‹sich› gemacht werden soll – durch den Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihn das Weib sich selbst gibt. Das Weib gibt sich weg, der Mann nimmt hinzu – ich denke, über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine sozialen Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswert es sein mag, daß man das Harte, Schreckliche, Rätselhafte, Unmoralische dieses Antagonismus sich nicht beständig vor Augen stellt. Denn die Liebe, ganz, groß, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit etwas ‹Unmoralisches›. – Die Treue ist demgemäß in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt aus deren Definition; bei dem Manne kann sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte Wahlverwandtschaft, aber sie gehört nicht ins Wesen seiner Liebe – und zwar so wenig, daß man beinahe mit einigem Rechte von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue beim Manne reden dürfte: welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und nicht ein Verzichtleisten und Weggeben; das Haben-Wollen geht aber jedesmal mit dem Haben zu Ende…Tatsächlich ist es der feinere und argwöhnischere Besitzdurst des Mannes, der dies ‹Haben› sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, daß sie noch nach der Hingebung wächst – er gibt nicht leicht zu, daß ein Weib für ihn nichts mehr ‹hinzugeben› hätte.»2 Hier ist Treue ein Kennzeichen der Frau, aber als Maske für einen physiologischen Trieb, Untreue das Kennzeichen des Mannes, der sich mühsam und unbehilflich die Maske der Treue aufsetzt, aber damit nur seine geschlechtliche Untreue oder seine Eitelkeit kaschiert.
Wird Treue hier und in der Psychoanalyse vom Untermenschlichen (oder von den unterpersonalen Tiefenschichten des Menschen) her fragwürdig, so war sie im vorher Geschilderten als vom Über- (und Un-)menschlichen her konstruiert ebenfalls relativiert, wenn nicht gar zerstört worden. Sie kann ihren Ort zunächst nur im Menschlichen selber finden.
2. Fragilität des Menschlichen
Aber wie fragil erscheint die Natur des Menschen, wenn man aus ihr die Fundamente einer Treue erheben muß, die ihrerseits fähig sein soll, der Fragilität der menschlichen Entschlüsse und Verpflichtungen eine Stütze zu leihen! Dabei muß man diese Natur des Menschen unbedingt in ihrer Ganzheit nehmen, also mitsamt ihren Geschlechts- und Machttrieben, ihrem Drang zur Veränderung, zur Vergesellschaftung, auch zum Einsiedlertum. Daß das Unternehmen schwierig sein wird, ist von vornherein klar; wenn der Akt der Treue in jedem Einzelfall ein Wagnis ist, wie sollte dann die Gesamtbegründung der Treue aus dem «Wesen» des Menschen nicht gleicherweise dieses «Wesen» zu einem Wagnis herausfordern. Und doch muß man zeigen können, daß dieser «Sprung» nicht ins Blinde und Leere geht, daß ihm eine Rationalität eignet, die den Menschen als Menschen erst verständlich und sein Dasein erst lebenswert macht. Es muß bei einer solchen Beweisführung auch um mehr gehen als um einzelne heroische Fälle von persönlicher Treue. Solche Fälle werden von jedermann bereitwillig bewundert, aber man kann sich fragen, ob diese Bewunderung viel folgenreicher ist als die für einen treuen Hund, der auf das Grab seines Herrn sterben geht. Sie verpflichtet nicht zur Nachahmung so extremen Verhaltens. Um die Treue tragfähig zu machen, können zunächst wohl drei Wege eingeschlagen werden.
1. Treue ist die Voraussetzung für eine erträgliche Koexistenz zwischen Menschen, in Familien, Sippen, Städten, Völkern. Sie ist das, worauf man sich verlassen können muß, wenn man den eigenen Bereich zu den andern hin überschreitet, was jeden Augenblick erfordert ist. Sie gleicht darin der Sprache, die das Medium der Kommunikation ist, und ist doch von ihr verschieden, sofern ich gezwungen bin, mich an die Sprachkonventionen zu halten, wenn ich verstanden werden will, während mein Treuebeitrag an die Gemeinschaft weitgehend ein freiwilliger bleibt. Gewiß muß ich weitgehend den Anschein von Treue wahren, wenn ich mich sozial behaupten will. Aber da alles menschliche Dasein höchst veränderlich ist, die Situationen sowohl des Einzelnen wie der Gruppe in einem fort wechseln, endgültig Scheinendes sich alsbald als relativ und änderungsbedürftig erweist, zeigen auch die öffentlichen Verhaltensregeln eine große Versatilität. Verträge brauchen zahlreiche Klauseln für vorhersehbare und unvorhersehbare Fälle. Dabei ist kaum abzugrenzen, ob die Umstände sich ohne meine Schuld ändern und mich von gewissen Verpflichtungen entlasten oder ob meine innere Untreue, etwa aufgrund überhandnehmender, zum Schicksal aufgebauschter Leidenschaften die Ursache der gewandelten Lage ist. Mit beidem muß gerechnet werden. Damit trotz dieser Labilität so etwas wie soziales Leben möglich sei, springt als allgemein regulative Norm die sogenannte «Goldene Regel» ein, die nach der Bergpredigt lautet: «Alles, was ihr wollt, daß es die Leute euch tun, das tut auch ihnen» (Mt 7,12), die aber schon bei Herodot und beim Sophisten Antiphon, in der ganzen griechischen und römischen Antike bekannt und von da auch ins Judentum eingedrungen ist; Seneca zählt sie zu den Grundsätzen, «deren Wahrheitsgehalt ohne Begründing unmittelbar evident ist und die deshalb in ein Stadium sittlicher Unterweisung zu setzen sind, das der philosophischen Belehrung vorangehen muß»3. Kants kategorischer Imperativ sagt nichts wesentlich anderes. Auch eine hedonistische Ethik, die einzelne Akte der Untreue nicht sonderlich tragisch nehmen wird, muß doch um des größeren und beständigeren Glückes willen an der goldenen Regel festhalten. Sie allein sichert dem Einzelnen relative Gesichertheit und Kontinuität im Dasein. Deshalb wird sie grundsätzlich vom Vorteil des Einzelnen her begründet; sie hat eine ebenso starke egoistische wie altruistische Wurzel, ja das altruistische Moment in ihr wird im letzten durch die Wünsche und Abneigungen der Einzelnen in bezug auf sich selbst bestimmt. Wird von einem Menschen in einem Einzelfall verlangt, er solle auf private Gelüste verzichten und seinem gegebenen Wort treu bleiben, so erfolgt eine solche Erwartung zwar um des bonum commune willen, das aber unmittelbar dem betroffenen Einzelnen wieder zugute kommt. Er handelt im tieferen eigenen Interesse. Man wird sich nun aber doch ernstlich fragen, ob Egoismus und Interesse die eigentliche Grundlage der Treue zwischen Personen sein kann.
2. Was im interpersonalen Bezug rein menschlich schwer zu begründen ist, könnte vielleicht aus dem Bereich der Einzelperson glaubhafter begründet werden. Muß der sittlich integre Mensch nicht vor allem sich selber treu sein? Seinen Prinzipien, seinen Vorsätzen, dem Ideal, das er sich vorgesteckt hat, das er kennt und dem er nachstrebt? Hier dürfte ein Kriterium auftauchen, das unter Umständen die interpersonalen Beziehungen festigen, sie aber auch relativieren kann: wenn etwa meine Wahrhaftigkeit mir gegenüber ein Verhältnis der Liebe, der Freundschaft als nicht länger tragbar betrachtet, fordert die Ethik den berühmten «Abbruch der Kommunikation». Hier geht die Verantwortung mir selbst gegenüber vor meiner Verantwortung dem andern gegenüber. Daran wird aber sogleich die Problematik einer solchen Norm ersichtlich. Meine Prinzipien, Vorsätze und persönlichen Ideale sind der Veränderlichkeit der Lebensstufen und Lebenslagen ebenso unterworfen wie meine zwischenpersönlichen Beziehungen, ja sie müssen es geradezu sein, wenn ich ein lebendiger Mensch bleiben und kein pharisäischer Prinzipienreiter werden will (eine der penibelsten Sorten von Mitmenschen). Wäre es mir möglich, mein eigenes Ideal absolut, also auch für meine Zukunft zu entwerfen, so müßte ich über jede mögliche mir begegnende Situation Herr sein, ihr Anruf wäre nichts, worauf ich wirklich zu lauschen hätte, sondern worauf ich im voraus die fertige Antwort habe. Ja, ich könnte dann sogar meinem eigenen Reifungsprozeß überlegen sein, der Ausbildung meines Geschmacks, meiner Einschätzung menschlicher Verhältnisse und einzelner Mitmenschen. Schließlich müßte meine ganze Weltanschauung auf zeitlose Art bestehen und von mir selbst festgelegt worden sein. Denn ich dürfte ja als sittlich Handelnder nicht unter einem Zwang (der Vererbung, der Bestimmtheit durch die Umwelt usf.) stehen, sondern müßte meine Zukunft so frei entwerfen können, daß ich auch in der Zukunft immer noch frei wäre, obschon diese sicher anders aussehen wird als die Gegenwart. Aber was bleibt mir dann als inhaltlicher Entwurf außer dem Ideal meines jeweiligen Freiseins überhaupt? Mein ganzes Ideal könnte nur darin bestehen, in jedem kommenden Augenblick entsprechend meiner Verantwortung der jeweiligen Situation gegenüber entscheiden zu können und zu dürfen. Dieser Inhalt bleibt ein rein formaler, der materiell mit der absoluten Untreue allen gegenwärtig geltenden Pflichten gegenüber durchaus vereinbar ist. Treue läßt sich also nicht auf Selbsttreue gründen.
3. Selbsttreue aller Einzelnen würde notwendig zum sozialen Chaos führen, deshalb muß es so etwas geben, wie eine gemeinsame Preisgabe persönlicher Möglichkeiten, vielleicht sogar Rechte in die Gemeinschaft hinein, so daß etwas wie ein soziales Gesamtsubjekt entsteht, das sich über den Einzelsubjekten als maßgeblich erhebt. Der Verzicht kann verschieden motiviert werden – etwa bei Hobbes, bei Montesquieu, bei Rousseau, bei Fichte, bei Hegel –‚ er wird doch fast immer ein strenger, radikaler sein; das sich konstituierende Gesamtsubjekt wird (als «Leviathan», als die Konkretheit des «transzendentalen» oder «absoluten Subjekts») alle untergeordneten, persönlichen Bindungen relativieren und in allgemeinere hinein überwinden. Dieser Universalisierungsprozeß gewinnt in der hegelschen «Phänomenologie des Geistes» und viel stärker noch im marxistischen Programm eine solche Brisanz, daß jeder erreichten Stufe gegenüber eine je neue Untreue angezeigt ist (falls der Geist auf ihr nicht erstarren und sich selbst ins Unrecht setzen will), weil die letzte Treue vorweg die Integration in das endzeitliche Gesamtsubjekt besagt. Falls dieses geschichtlich antizipierend durch eine «Partei» repräsentiert wird, kann jedes Mittel, seine totale Verwirklichung zu beschleunigen, zweckmäßig und «erlaubt» sein: Archipel Gulag, Gehirnwäsche. Immer wieder muß hier auf Bertolt Brechts «Maßnahme» verwiesen werden, deren ursprünglichen, radikalen Text wir freilich nicht mehr besitzen.
Durch keine der drei Möglichkeiten läßt sich Treue als Grundeigenschaft (statt als bloße gelegentliche Verhaltungsweise) des Menschen aus diesem selbst begründen. Aber woher kam dann die unerschütterliche Gewißheit alter integrer Kulturen, daß ohne das Prinzip Treue menschliches Dasein seine edelsten Formen nicht zu entfalten vermag? Und gibt es nicht trotz allem Mißtrauen gegen endgültige Festlegungen auch unter den heutigen Menschen, die jungen nicht ausgeschlossen, ein Bedürfnis nach einem Weg durch das Wirrsal, dem man trauen, auf dem man getrost ausschreiten kann? Gibt es nicht zuweilen evidente Beispiele von lebenslänglich durchgehaltener Treue, die, von weitem betrachtet, als bloßes spießiges Beharrungsvermögen erscheinen mögen («denen fällt nichts mehr ein!»), aber aus der Nähe etwas ganz anderes enthüllen: ein großes inneres Leuchten?
3. Transparenz der Ewigkeit
Der Mensch ist ein Paradox: er hat keine beruhigte Mitte in sich selbst, sondern zwei Schwergewichte, eines, das ihn unter sich, im Biologisch-Animalischen zentrieren möchte, und ein anderes, das ihn über sich, in einem Bereich absoluter Werte und Güter, die ihm irgendwie von Natur nicht zustehen und diese Natur überanstrengen, beheimatet. Ohne ein solches Überziehen des Biologischen, wodurch es einer Sphäre dienstbar wird, die außerhalb seiner liegt, ohne diese ganzmenschliche, leib-seelische Anstrengung (askesis heißt Einübung) gibt es weder Ethik noch Religion. Und jede Ethik muß, um des Menschen würdig zu sein, einen religiösen Hintergrund haben, sonst bleiben die absoluten Werte, die der veränderliche Mensch anstrebt, abstrakt und für die Schwere des Daseins nicht tragfähig. Es ist schwerer, die Transparenz der religiösen Sphäre durch die wandelbare irdische hindurch in Begriffe zu fassen, als sie zu erleben. Denn es gibt einen Symbolismus der Daseinsgestalten, die nicht nur von den erwähnten alten Kulturen mit Leichtigkeit entziffert wurden, sondern auch heute von jedem unverbildeten Menschen erkannt werden können.
Nehmen wir zur Erläuterung die Geltung des vierten Gebotes: «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebest auf der Erde, die der Herr, dein Gott, dir schenkt» (Ex 20,12). Das biologische Zentrum im Menschen kann dagegen viele plausible Einwände erheben: Warum soll ich mich lebenslang zwei Individuen verdanken, die ein vielleicht ganz zufälliger Geschlechtsakt geeint hat, von denen ich gar nicht weiß, ob sie mich überhaupt wollten, und wer beweist mir, daß dieser Mann wirklich mein Vater ist? usf. Wenn schon von Treue und Verdankung die Rede sein muß, dann höchstens einer unpersönlichen Natur gegenüber, die für die Erhaltung der Gattung sorgt, von der ich ein ganz unbedeutendes Exemplar bin. Die alten Kulturen mochten im Gebot der lebenslänglichen Elternliebe einen animalischen Prozeß sakralisieren, um der Gesellschaft Stabilität zu geben; wir tun das auf andere Weise. – Blicke ich aber mit menschlichen Augen als Vater oder Mutter auf mein Kind, das mich anlächelt, dann weiß ich, daß hier ein unendlich tieferes Geheimnis sich offenbart: ich bin an der Hervorbringung eines Wesens beteiligt gewesen (und bleibe es weiterhin), das die biologische Sphäre hoch überragt, und das Überragende ist mehr, als was ich mitteilen konnte, es ist ein unbegreiflich Geschenktes, auch durch mich zu Verdankendes. Zeugen und Gebären ist in der menschlichen Sphäre ein Mysterium, das ins Ewige emporreicht, weil ein geisthaftes Wesen das Ergebnis ist und sich deshalb auch ein geisthaftes Verhältnis zwischen ihm und den Eltern herstellt. Es geht um ein Sichverdanken des Kindes den Eltern gegenüber, das eingebettet bleibt nicht nur in eine geistige Verantwortung der Eltern für das Kind, sondern in ein gemeinsames geistiges Danken von Kind und Eltern gemeinsam einem unenthüllten Ursprung gegenüber, der mehr ist als Natur. Dieses Band, das Kind und Eltern umschlingt, reißt nicht ab, wenn der Prozeß der Ernährung und Großziehung mit der Mündigkeit des Kindes abgeschlossen ist: da dieses Band in einem Überzeitlichen gründet, umfaßt es auch die Gesamtheit der Existenz. Alle Argumente für eine «vaterlose Gesellschaft» kommen gegen diese einfachste menschliche Erfahrung nicht auf. Die menschlichen Grundbeziehungen sind biologisch nicht aufzurechnen, auch wenn sie eine der Berechenbarkeit und Technisierung zugängliche Seite haben. Das Bezogensein auf ein Plus, das geschenkt wird und den unterscheidend menschlichen Wert ausmacht, ist kein äußerliches, vom autonomen Menschen auf ein außerhalb seiner Liegendes, Transzendentes, Verweisendes, vielmehr liegt dieser Verweis im Innersten des menschlichen Wesens selbst.
Deshalb ist das vierte Gebot und die hier grundgelegte lebenslängliche Treue ein Ausdruck des dem Menschen zutiefst eingeschriebenen Religiösen selbst. Und von hier aus versteht man, daß auch andere zwischenmenschliche Verhältnisse, vor allem das Verhältnis zwischen Gatten und das zwischen Freunden, am gleichen Symbolismus teilnehmen können. Es ist möglich, daß ein Mann in einer Frau, eine Frau in einem Mann – oberhalb der Blendungstaktiken des Eros – den einmaligen Personkern erblickt und diesen zu lieben sich entschließt, der ein unwiederholbares «Bild und Gleichnis» der Gottheit ist. Solche Liebe – sie ist nicht häufig – muß sich immer erst bewähren, eben als Treue, wenn die ersten, vordergründigen Enthusiasmen sich verbraucht haben. Es kann aber auch der ehelichen Treue gelingen, der naiven Liebe eine Lebensdauer weit über die biologisch vorgesehene Zeit hinaus zu erwirken. Wieder ist es der geliebte Mitmensch, der als solcher über seine irdische, vergängliche Gestalt hinausweist auf die Anwesenheit eines ewigen Momentes in ihm. Wer dieses wirklich erschaut hat, dem kann auch der Tod keine Widerlegung seiner Vision sein, selbst wenn man auf dessen Frage keine plausible Antwort bereit hat.
Nochmals dasselbe von der Freundschaft, in den Fällen, wo diese selbstlos den Wert des Freundes erkennt und schätzt. Daß es in allen solchen Verhältnissen immer auch die Seite der eigenen Bereicherung durch die gegenseitige Ergänzung gibt, braucht kein Einwand gegen das Gesagte zu sein. Wer über etwas Selbsterkenntnis verfügt, vermag sehr wohl zu unterscheiden zwischen dem, was er um des eigenen Vorteils willen beim Freunde sucht, und dem, was er ihm um seiner selbst willen gönnt und schenkt. «Schon weil du bist, sei dir in Dank genaht.»
Wir halten mit diesen Beispielen interpersonaler Treue inne und dehnen sie nicht auf Treue gegenüber dem Vaterland oder einer Partei oder einem Menschheitsideal aus. Denn diese mehr unpersönlichen Bindungen werden im letzten doch auch in den personalen grundgelegt sein. Wichtig war hier nur, daß sichtbar wurde, wie kraft einer immanenten Transparenz oder Transzendenz im menschlichen Wesen selbst eine ethisch-religiöse Sphäre sich anzeigt. Sie wird sich bei vielen Menschen, die echte Treue besitzen, nicht ausdrücklich als Glaube an eine personale Gottheit artikulieren. Immer aber wird sie zusammengehen mit einer Ehrfurcht vor dem anonymen Geheimnis, das auf dem Grund der mitmenschlichen Person aufscheint. Ein Zyniker kann nicht treu sein. Vielleicht ist es nicht einmal notwendig, daß das Geheimnis der Ewigkeit, das mir im geliebten Mitmenschen aufleuchtet, sich in jedem Fall ausdrücklich als Glaube an die Unsterblichkeit artikuliert. Aber solange dieser Mensch lebt und ich für ihn da sein kann, begegnet mir in ihm etwas überzeitlich Gültiges, und das kann mir genügen, um ihm in selbstloser Treue zugetan zu sein.
Dennoch ist alles in diesem Abschnitt Gesagte von der Fragilität des Menschlichen ebenso bedroht wie das schon Entwickelte. Deshalb wird man Solowjew recht geben, der in seinem Essay über den «Sinn der Geschlechterliebe» die außerordentliche Seltenheit vollkommener Liebe und Treue (als Einheit von Eros und Agape) betont. Zwar ist die Treue «kein leerer Wahn», aber sie bleibt in diesem «Land der Entfremdung» (regio dissimilitudinis, wie nach Platon und Plotin auch Augustin und Bernhard sagen) eine exotische Pflanze. Endgültig faßt sie Wurzeln auf Erden erst, wenn das Geheimnisvoll-Ewige im Menschen sich aufhellt durch die personale Treue Gottes gegenüber der Menschheit.
4. Die Treue Gottes und der Mensch
Der durchschnittliche Mensch kann aus eigener Kraft nur sehr schwer den Mitmenschen oder der ihm vorschwebenden Idee die Treue halten; noch schwerer wagt er es, einem solchen Ideal vorweg zu entsprechen. Bei den alten Kulturen wurde vieles durch ein Prinzip innerweltlicher Beharrlichkeit erleichtert, das die Zivilisation heute nicht mehr stützt. Die Fragilität der Verhältnisse, aber auch ihre technische Machbarkeit fördern das Mißtrauen. Der natürliche Symbolismus der menschlichen Grundverhältnisse verschleiert sich.
Um die Treue auf Erden einzugründen, mußte Gott seine ewige Treue offenbaren. Dazu genügt es natürlich nicht, daß der Mensch erfährt, die Gottheit besitze in sich und für sich die Eigenschaft göttlicher Treue, einer «Treue zu sich selbst», die der Mensch allenfalls nachahmen sollte, indem auch er «sich selber treu» ist. Das würde nur zur zweiten oben besprochenen Möglichkeit zurückführen, die sich als unzulänglich erwies. Es müßten schon inhaltliche Berührungspunkte zwischen der göttlichen und der menschlichen Weise der Beständigkeit gegeben sein, wie etwa beim Grundsatz des «naturgemäßen Lebens» der Stoa. Aber schließlich genügen diese Berührungspunkte auch wieder nicht, weil sie, von den Menschen befolgt, sie weder ganz göttlich noch ganz menschlich leben lassen und so gerade jene Sphäre verfehlen, in der spezifisch menschliche Treue gelebt wird.
Es bedarf vielmehr jener dem Menschen personal zugewendeten Treue Gottes, die eine echt menschliche Antwort einfordert und im Alten Testament vorbildlich verwirklicht wird. Jahwes Selbstbenennung als der «Ich-bin-der-der-ich-bin» würde Israel nichts nützen, wenn damit nicht auch die dem Volk verheißene geschichtlich sich manifestierende Treue mitausgesagt wäre, die immerwährende Begleitung. Und umgekehrt würde eine solche verheißene Begleitung nichts fruchten, wenn sie nicht von einem Gott her erginge, der in sich, seinem eigenen absoluten Wesen nach, die Eigenschaft der Treue besäße.
Das Alte Testament ist sich der Einzigartigkeit der Treue Gottes dem Volk gegenüber voll bewußt. Gott ist ein Fels des Rechtes und der Treue, der Geradheit und der Gerechtigkeit auch «inmitten eines verschlagenen und krummen Geschlechts» (Dt 32,4-5), und so strengt er einen Prozeß an gegen die Bewohner des Landes, denn «es gibt weder Rechtsein noch Treue mehr; man spricht Meineide, lügt, mordet, stiehlt, hurt…» (Hos 4,1). Immer wieder preisen ihn die Psalmen als den Treuen und Verläßlichen; die Worte 2 Tim 2,13 fassen das schon alttestamentliche Verhältnis bestens zusammen: «Wenn wir ihn verleugnen, wird er auch uns verleugnen; wenn wir treulos sind, er bleibt treu, denn er kann sich nicht selbst verleugnen.» Der scheinbare Widerspruch zwischen der ersten und der zweiten Aussage ist keiner, denn im Bundesschluß am Sinai werden Heil und Unheil verheißen, je nachdem das Volk dem Bund mit Gott treu ist oder nicht; Gott bleibt sich also in der Tat selber treu, wenn er das untreue Bundesvolk «verleugnet», was durchaus auch eine Form ist, zu seinem Bund zu stehen. Dieser wird nicht aufgelöst, sondern zeigt nur seine negativen Konsequenzen.
Die Folgen für den Menschen sind sogleich ersichtlich. Wer sich mit dem Gott einläßt, der sich in Treue dem Menschen zuwendet, der läßt sich ein für allemal mit ihm ein. Sowenig es für Gott ein Zurück gibt, weil seine Akte ewige Akte sind, sowenig gibt es ein solches für den Menschen, weil seine Antwort dem Angebot entsprechen muß. «Seid heilig, denn ich, euer Gott, bin heilig» (Lev 19,2). Gewiß ist zunächst nicht der Einzelne, sondern das Volk der Partner; aber das Volk besteht aus Einzelnen, denen Gott sein Bundes- und Treuezeichen einritzt, lebenslänglich: «Mein Bund soll in eurem Fleisch eingezeichnet sein, als ein ewiger Bund», sagt Gott zu Abraham, da er das Gebot der Beschneidung erläßt (Gen 17,13). Aber das fleischliche Zeichen kann nur ein Sinnbild des geistigen sein: das Hauptgebot der vollkommenen und pausenlosen Liebe zu dem einen Gott soll eingegraben sein «in deinem Herzen», «angebunden als ein Zeichen an deine Hand, als ein Stirnband zwischen deinen Augen, und du wirst es schreiben auf die Pfosten deines Hauses und über deine Türen» (Dt 6,6ff.). Die Vor-Läufigkeit des Alten Bundes auf eine transzendente Erfüllung hebt die Endgültigkeit dieser Treueforderung nicht auf, wie «Gottes Verheißungen ohne Gereuen» sind, so auch sein Wunsch, eine entsprechende umfassende Antwort zu erhalten. Jesus Christus wird dieses Treuegebot nicht nur bestätigen, sondern es über alle anderen erheben.
Gewiß hat der Alte Bund innere Grenzen. Sie werden dort sichtbar, wo das Schicksal Israels innerhalb des von ihm selbst dreifach feierlich besiegelten Bundes (Jos 24,14-27) von seinem eigenen Verhalten abhängig ist: dieses Schicksal kann Segen oder Fluch sein (Lev 26; Dt 28). Aber wir sagten schon, daß die Treue Jahwes zu seinem Bund sich in beidem offenbart. Ähnlich, nur noch ernster ist die Situation, wo der Bund der Masse des Volkes gegenüber aufgekündigt werden muß, weil er von der Mehrzahl beharrlich gebrochen worden ist (Jer 14,11ff.; Ez 11,22f.): hier konzentriert sich die Treue Gottes auf den «Rest Israels», den kleinen treugebliebenen Kern; ein Gedanke, der bei Jesaja grundgelegt, von Paulus zentral übernommen wird, um die Kontinuität vom Alten zum Neuen Bund und damit die «geschworene» Treue Gottes zu seinem Bund auszudrücken. So ist denn auch bei Jeremia gleichzeitig mit der verwerfenden Absage die Ansage des Neuen und ewigen Bundes (31,31ff.). Die Untreue des Menschen bricht also Gottes Treue nicht, wie die pathetische Selbstüberlegung Gottes bei Hosea es offenbart: «Mein Volk ist krank an seiner Untreue… Aber mein Herz kehrt sich um in mir, mein innerstes Mitleid entbrennt. Nicht will ich tun, was die Glut meines Zornes mir eingibt. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch, bin der Heilige mitten in dir, und ich liebe es nicht, zu verderben» (11,7-9).
Wichtig aber ist, daß mit dem Aufflammen der ewigen göttlichen Treue die menschliche Treue nunmehr auch in ein helles Licht rückt. Durch die vom Volk geforderte Bundestreue Gott gegenüber (2 Kön 20,3; Jes 38,3) werden die Menschen in die gegenseitige Treue erzogen: wer Gott fürchtet, wird auch vertrauenswürdig sein (Neh 7,2). Menschliche Treue ist ein Abbild und Reflex der ewigen Treue Gottes: «Ich werde dich mir antrauen auf immer, … dich mir antrauen in Treue, und dann wirst du wissen, was Gott ist» (Hos 2,22).
5. «Der treue Zeuge»
Die überschwengliche Erfüllung dieses Angetrautwerdens ist der Neue Bund, weil hier in der Person Jesu Christi die göttliche und die menschliche Treue schlechthin identisch geworden sind. Er ist die absolute Zusage Gottes an die Menschheit und die absolute Zusage der Menschheit an Gott. Darum wird er «der Treue» (2 Thess 3,3; 2 Tim 2,13; Hebr 2,17; 3,2) oder «der treue Zeuge» (Apk 1,5; 3,14) genannt.
Als die Offenbarung der Treue Gottes behebt er die restlichen Vorbehalte des Alten Bundes: wenn dort Gottes Treue sich zweiseitig, als Segen und als verfolgender Fluch, offenbarte, so nimmt Jesus nunmehr die Seite des «Fluches» auf sich (Gal 3,13), er leidet in seiner Gottverlassenheit all die Ängste und Demütigungen durch, die dem untreuen Volk (Lev 26; Dt 28) vorausgesagt worden sind. Weil der stellvertretend leidende Gottesknecht (Jes 53) sich als der «einziggeliebte Sohn des Vaters» offenbart, der Vater also in seiner Bundestreue seinen Sohn «und mit ihm alles» (Röm 8,32) dahingibt, enthüllt sich die seinshafte Treue Gottes, seine «Treue zu sich selbst», erst in ihrer ganzen Tiefe: als Mysterium der trinitarischen Liebe. Die Untreue der Menschen bringt sie ans Licht, indem sie sie (am Kreuz und in der Gottverlassenheit des Sohnes) in die äußerste Zerreißprobe stellt.
Als die Offenbarung der Treue des Menschen zu Gott aber ist derselbe Jesus, der im Tempel Beschnittene und im Jordan Getaufte, der Repräsentant des Bundesvolkes, des «Israel Gottes» (Gal 6,16) vor dem Vater: «Siehe, hier sind wir, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat» (Is 8,18 = Hebr 2,13).
Aber würde es denn genügen, wenn nichts weiter bestünde als diese Identität von Wort und Antwort, von Ruf und Echo? Muß nicht noch «Jemand» das Wort der ewigen Treue hören und im gleichen Geist beantworten, damit Gottes Wort von der Welt überhaupt vernommen und aufgenommen wird? Ja, dies muß sein: es muß vorweg eine Bereitschaft zu ewiger Treue auf Erden geschaffen werden, damit das Wort Gottes wirklich auf die menschliche Seite hinübertreten, Fleisch werden kann. Die Mariologie ist ein integrierender Teil der Christologie wie der Ekklesiologie: die «Magd des Herrn» muß Ur- und Vorbild werden für das neue Gottesvolk, dessen Mitglieder fortan im Vollsinn «fideles», die Treuen, genannt werden können. Das Herz der Kirche ist treue Liebe. Darum beten die Gläubigen vor der Kommunion: «Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf die Treue (fidem) deiner Kirche», der wir zugehören und deren Haltung wir in uns ausprägen möchten.
Das christliche Treuemysterium ist also nicht bloß der Triumph göttlicher Treue über menschliche Untreue, sondern auch das hochzeitliche Mysterium zwischen dem fleischgewordenen Wort und der ihm zugestalteten Kirche (die vom Wort Gottes sich selbst als «immaculata» Eph 5,27 zugestaltet wird). Die Kinder dieses ewigen Treuebundes sind wir: Gott zum Vater, die Kirche zur Mutter (Cyprian). Und wenn nun Paulus das Mysterium der natürlichen Hochzeitlichkeit zwischen Mann und Frau groß nennt aufgrund seines Bezogenseins auf Christus und die Kirche, so tritt das, was wir oben als die Transparenz der Ewigkeit in der zwischenmenschlichen Treue zu deuten suchten, ins volle Licht: eheliche Treue, Treue zwischen Kindern und Eltern, zwischen Freunden und Bekannten wird von Paulus nicht erst von Christus-Kirche her begründet, sondern als eine Tatsache der Schöpfungswelt vorausgesetzt, aber über sich hinaus auf einen letztbegründenden Ursprung bezogen: das Treuegeheimnis zwischen Christus und seiner Kirche, die Vollendung des Bundes zwischen Gott und der Menschheit. Nach demselben Epheserbrief ist Schöpfung als ganze (und somit alle innerweltliche Treue) immer schon auf den ersten und letzten Gedanken Gottes hin entworfen: den vollkommenen Treuebund zwischen «Himmel» und «Erde».
Dies ist – abschließend – wenigstens für den Christen nicht ohne praktische Bedeutung. Unsere alltägliche mitmenschliche Treue gründet nicht nur (wie noch für den alttestamentlichen Menschen) auf der fundamentalen Treue Gottes, die den prekären menschlichen Verhältnissen ein solides Fundament gibt. Sie gründet auf dem immer schon gegebenen Treueverhältnis zwischen Christus und der Kirche, so daß wir unser Treuseinkönnen nicht einzig Gott oder Christus, sondern durch Christus immer auch der Kirche verdanken. Die Kirche ist je das Ganze, das vor dem Teil ist, und wir können und sollen unsere ganze Treue jeweils als ein Teil, ein Glied, ein Charisma in der Kirche darleben, indem wir uns an dem uns von Gott zugewiesenen Platz in den kirchlichen Organismus einfügen, und nur so erhalten wir an der vollkommenen Treue der Ecclesia immaculata Anteil. Und zwar ganzen Anteil, denn wir werden einbezogen in den ursprünglichen hochzeitlichen Akt: als «Kinder» von Christus-Kirche erhalten wir Anteil an der «Geburt aus Gott», also am unvordenklichen ewigen Akt, in welchem der Sohn aus dem Schoß des Vaters hervorgeht.
So kann auch der Christ mit seinem Herrn zusammen ein «treuer Zeuge» sein (Apk 2,13). Er kann aber auch das Beiwort «treu» erhalten in seinem kirchlichen Dienst (Kol 4,7; 4,9; Eph 6,21; 1 Petr 5,12). Beide Formen der Treue sollten für den Christen untrennbar sein, so wie es das hochzeitliche Mysterium ist, dem er seinen Lebensdienst gewidmet hat. Und aus dieser doppelten Treue, die nur dankbare Antwort ist auf die ihm von Gott erwiesene, kann er in seinem Alltag allen Mißtrauischen um sich her den Beweis liefern, daß Treue auf Erden möglich ist und daß nur sie das Dasein lebenswert macht.
Hans Urs von Balthasar
Título original
Wo ist die Treue daheim?
Obtener
Temas
Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2024Tipo:
Artículo
Textos relacionados