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Die «Seligkeiten» und die Menschenrechte
I
Die «Seligkeiten» bilden den gewaltigen Auftakt zur gesamten Verkündigung Jesu bei Mattäus, als erste Worte der Bergpredigt. Bei Lukas stehen sie am Anfang der Feldrede, in einer kürzeren Form, die wahrscheinlich der gemeinsamen Quelle beider entnommen ist. Aber auch bei Lukas beginnt die Predigt des Herrn mit einer analogen, aus Jesaja stammenden Ankündigung, Jesus sei gekommen, «den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkünden, die Unterdrückten zu befreien».
Die vier Seligpreisungen bei Lukas sind lapidar, ohne jedes kommentierende Wort: «Selig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausschließen und schmähen und eure Namen als schlecht wegwerfen um des Menschensohnes willen, denn seht, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn geradeso haben eure Väter an den Propheten getan.»
Mattäus fügt diesen vier Preisungen der Mangelleidenden weitere vier hinzu, die bestimmte Haltungen seligpreisen, welche Zugang zu Gott, seinem Reich und dessen Gütern gewähren: die Sanftmütigen, Barmherzigen, die reinen oder geraden, offenen Herzens sind und die Friedensstifter, solche also, die von sich her an der Ankunft des von Jesus verkündeten, nahe herangekommenen Reiches Gottes mitwirken. Außerdem bringt Mattäus ein paar Präzisionen an, die für ihn offenbar vor einer möglichen Verkennung des wahren Sinnes der Seligkeiten warnen: Bei den Armen geht es nicht um die materiell Mittellosen, sondern um die Armen im Geiste, das heißt der Gesinnung Gott gegenüber nach, gemeint sind die «Armen Jahwes», die anawīm, die keinen andern Reichtum haben als ihre Hoffnung auf Gott. Und zweimal fügt Mattäus die Wendung «nach der Gerechtigkeit», «um der Gerechtigkeit willen» bei: «Selig, die hungern und dürsten», ja wonach? «Nach der Gerechtigkeit.» «Selig, die verfolgt werden», ja weshalb? «Um der Gerechtigkeit willen.»
Überblicken wir zunächst einmal diese gewaltigen Einsätze der Verkündigung Jesu aus einer gewissen Distanz, so erhellt für einen mit der Bibel Vertrauten zweierlei: Fast jedes dieser Worte stammt wörtlich aus dem Alten Testament, vornehmlich aus den Psalmen, den Sprüchen und der sonstigen Weisheitsliteratur und entspricht jener Strömung alttestamentlicher Frömmigkeit, die im Gegensatz zur Leistungsreligion der Gesetzestreuen, der Pharisäer und Schriftgelehrten, all ihre Hoffnung auf Gott allein setzt. Daraus ergibt sich schon das zweite: Diese innere Haltung zu Gott hin, sei sie passiv oder aktiv geschildert, wird von Jesus zur eigentlichen Norm erhoben, die – in der Fortsetzung der Bergpredigt – alles Gesetzeshafte bestimmen wird. «Man hat euch gesagt – ich aber sage euch.» Dann wird es darum gehen, so gesinnt zu sein wie Gott: «Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.» Stellt Frieden untereinander her, wie der Vater Frieden zwischen Himmel und Erde stiftet. Und die Gerechtigkeit, nach welcher ihr hungert und dürstet, ist – biblisch gesehen – selbstverständlich primär die von Gott selber herstammende, ihm als Eigenschaft eignende, aber in seinem Bund auch den Menschen geschenkte Gerechtigkeit; eine solche, die der Mensch weder religiös noch sozial selber herstellen kann, wie die Legisten in Israel meinten: «Denn ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.»
Von diesem ersten Eindruck her wären wir zunächst geneigt festzustellen: Das in den Seligkeiten sich darstellende Programm Jesu Christi steht in radikalem Gegensatz zu jeder menschlichen Theorie und Praxis, die eine vollkommene irdische Ordnung durch einen (wenn auch noch so heroischen) Einsatz menschlicher Anstrengung herbeizuführen trachtet, also nicht nur im Gegensatz zu allem, was im Zeichen des Marxismus, sondern auch was in dem der christlichen Befreiungstheologien steht, die zumeist nicht die Sanftmütigen, Friedfertigen, Verfolgten, Unterdrückten und die andere Wange Hinhaltenden als die Seligen betrachten, sondern jene, die alle diese Negativitäten aufzuheben bestrebt sind durch einen unbedingten Einsatz für die primitivste irdische Gerechtigkeit, die nicht so sehr als eine Eigenschaft Gottes und des von ihm gestifteten Bundes denn als eine elementare Forderung der sozialen Ordnungen unter Menschen angesehen wird.
Werfen wir von der Bergpredigt her noch einen Blick auf das übrige Neue Testament, so bestätigt vor allem das letzte Buch, die Apokalypse, diesen radikalen Gegensatz. In ihr kehren weit häufiger als anderswo die Seligpreisungen wieder, und sie beziehen sich dort fast durchgehend auf die Martyrer, auf jene, die in der irdisch aussichtslosen Schlacht zwischen den Übermächten des Bösen und den getreuen Zeugen des Lammes bis zum Ende ausgeharrt haben, ihre Kleider, wie gesagt wird, im Blute des Lammes gewaschen, das heißt mit ihm zusammen ihr Leben hingegeben haben und so an der ersten Auferstehung teilnehmen, um schließlich zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen zu werden.
Aber gegen diese einfache Antinomie erheben sich nun doch vom Text und Kontext her verschiedene Bedenken. Ich nenne ihrer vier. Zunächst ist in Jesus, nach seinem Selbstverständnis, das Reich Gottes nahe herangekommen, es steht auf der Türschwelle, ja in seiner Person ist es, wie er zu verstehen gibt, inchoativ schon da. Wenn sein Schicksal vollendet sein wird in Kreuz, Auferstehung, Himmelfahrt, wird das Reich grundsätzlich für die Welt gekommen sein. Jesus ist der auf die Erde gekommene Himmel. Sein Weltbild ist keineswegs das der jüdischen Apokalyptiker, die nach dem gegenwärtigen bösen Äon zeitlich einen ganz andern, neuen Äon erwarteten. Für ihn, wie später deutlich für Paulus, ist das Neue, Endgültige, die Gottesgerechtigkeit mit ihm zusammen gekommen. Es ist also nicht so, daß die jetzt auf Erden Trauernden in einer fernen Zukunft nach ihrem Tod lachen werden, die jetzt Hungernden erst im neuen Äon zur Sättigung gelangen usf. Schon jetzt ist Anteil am Reichtum der göttlichen Güter in Aussicht gestellt, wenn auch, wie Markus sagt, mitten unter Verfolgungen.
Ein Zweites ist ebenso wichtig und entspricht einem Moment, das von der Befreiungstheologie stark unterstrichen wird. Die Gerechtigkeit im Alten Bund wurzelt selbstverständlich in der einzig von Gott gestifteten, aus ihm selbst stammenden Gottesgerechtigkeit, die aber im Bund mit Israel – sonst konnte ja von keinerlei Bund die Rede sein – eine zweiseitige, den Partner in Beschlag nehmende Angelegenheit wird. Das ist ja der Sinn der zehn Weisungen Jahwes: wie nämlich der Mensch im Bund mit Gott sich benehmen muß, falls er darin leben will. «Ich bin heilig, also sollt auch ihr heilig sein.» Und man weiß, wie von der ersten Tafel, auf der das Verhältnis des Menschen zum Bundesgott geregelt wird, fraglos zur zweiten Tafel übergegangen wird, die das Verhältnis der Menschen untereinander regelt. Die Propheten, vor allem Amos, Jesaja, Jeremia, aber auch andere, haben von der groben Verletzung der zweiten Tafel auf die unbemerkte, aber ebenso grobe Verletzung der ersten hingewiesen: Wo der Arme unterdrückt wird, kann kein wahres Gottesverhältnis bestehen. Und wenn das schon im Alten Bund so klar gesehen wurde, wie aktuell wird es erst im Neuen, wo Gottes Wort Mensch wird, wo man also im Mitmenschen dem leibhaftigen Gotteswort begegnen kann und, wie sich gleich zeigen wird, wirklich begegnet. Wo also, wie es erst durch Jesus, den menschgewordenen Gott geschieht, Gottesliebe und Nächstenliebe in ein einziges Gebot zusammengerückt werden.
Aber nun erst das Wichtigste, Dritte. Jesus könnte die Armen, Trauernden, Hungrigen und Verfolgten gar nicht seligpreisen, wenn er das nur gleichsam von außen, in einer Art theoretischem Lehrgang täte. Er kann es nur tun in einer innersten Solidarisierung, ja mehr: Identifizierung mit den Armen, Hungernden, Weinenden und Verfolgten. Von seinem ersten Programmwort an ist sein ganzes Schicksal in Sicht, und zwar zweifellos ihm selber bewußt. Man kann solche Worte nicht äußern ohne Bereitschaft, dafür den vollen Preis zu zahlen. Er wird das alles, was die Armen, Hungernden, Weinenden und Verfolgten erfahren, mehr als sie alle zu fühlen bekommen, aber weil er es nach dem Willen des Vaters tut, liegt hier schon die Seligkeit einbeschlossen. Und er wird das alles nicht nur passiv über sich ergehen lassen, sondern in der Haltung derer, die dadurch das Reich Gottes herbeiführen helfen: aus Barmherzigkeit und durchaus in der Sanftmut dessen, der nicht zurückschlägt, um selber Gerechtigkeit zu schaffen, in der Geradheit des Herzens, die das Recht-Schaffen Gott überläßt und gerade so als Friedensstifter zwischen Himmel und Erde und damit auch zwischen den Menschen, die sich seiner Weisung und seinem Vorbild fügen. Nur indem er selber zum Armen schlechthin, zum Verfolgten schlechthin, zum Hungernden und Weinenden schlechthin, und das heißt, zum Gottverlassenen, wird, kann er diesen Habenichtsen die erfüllendsten Güter versprechen. Und damit erhält auch das Gewicht der zweiten mosaischen Tafel eine ganz neue Schwere: Weil im Nächsten Jesus Christus begegnet und in Jesus Christus Gott, erhält das Verhalten zum Nächsten eine nie erreichte Valenz: «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan», weil ich gerade und ausdrücklich hinter dem Geringsten stehe, dessen Last an Armut, Hunger, Tränen und Unterdrückung ich überschwenglich auf mich genommen habe. Diese besondere Nähe der Armen und deshalb Seliggepriesenen ist eigens zu bedenken. Man könnte ja meinen, wir alle seien gleicherweise Sünder, etwa die Unterdrücker mindestens ebensosehr wie die Unterdrückten, und Jesus sei gleicherweise für alle gestorben, ja man könnte betonen, die Unterdrücker und Verfolger seien christlich gesehen noch ärmere Teufel als die Unterdrückten und Verfolgten, deshalb stünden sie Christus mindestens gleich nah. Aber es geht hier nicht darum, daß Jesus die Sünden aller trägt, was wahr ist, sondern darum, daß die einen, die Armen im Geist, die nach Gerechtigkeit Hungernden, Weinenden und Verfolgten eine Leere in sich haben, die von Gott, vom gekreuzigten Gott, bewohnt werden kann, während diejenigen, über die bei Lukas die vier Weh-Rufe ausgestoßen werden: die Reichen, die Satten, die Lachenden, die von den Menschen Gelobten diesen Platz nicht freigeben, sondern ihn durch ihr fettes Ich besetzt halten.
Aus alldem ergibt sich als Folgerung das Vierte: Dadurch daß Gott in seinem menschgewordenen Wort den Platz des Geringsten der Menschen einnimmt, wird über alle reinmenschliche Einschätzung des Menschen hinaus die Würde des Menschen, und zwar jedes einzelnen, und damit die letzte Begründung der Menschenrechte sichtbar, und dies nicht abnehmend von den sogenannt bedeutenden zu den sogenannt unbedeutenden Menschen, sondern im Gegenteil zunehmend: Je entblößter an eigener Mächtigkeit einer ist, desto mehr wird in ihm die Gegenwart des Sohnes Gottes sichtbar: «Was ihr (gerade) dem Geringsten getan, habt ihr mir getan.» «Wer einem dieser Geringsten auch nur einen Becher kalten Wassers reicht …» «Wer ein solches Kind um meines Namens willen aufnimmt, der nimmt mich auf.» Hinter der geschöpflichen, abbildlichen Würde des Geringen steht die ganze Würde des Urbilds, Gottes, der jenem einwohnt. Deshalb steht in den Seligpreisungen dort, wo von der Verfolgung die Rede ist bei Lukas, die Wendung «um des Menschensohnes willen». Und wenn außerdem auf das Prophetenschicksal verwiesen wird, dem sich ja Jesus an anderer Stelle ausdrücklich einreiht, werden beide, Jesus und der Jünger, nochmals enger zusammengeschlossen.
Aber, so könnte man nochmals nachfragen: Weshalb soll in den Geringen, Armen und Machtlosen der erhabene, allmächtige, allreiche Gott in besonderer Weise erscheinen? Und ist das Kind nicht doch noch der potentielle, unreife Mensch, während Gott keine Potentialität kennt, da alles in ihm ewig ausgereifte Wirklichkeit ist? Die letzte Antwort darauf kann nur aus der Tiefe des christlichen Mysteriums ergehen. Jesus spricht von der Demut und Sanftmut seines Herzens, Paulus sagt, der Sohn Gottes sei für uns arm geworden, ja er habe sich ausgeleert in seinem Abstieg in die Sklavengestalt, bis zum Kreuz. Demut, Armut, Abstieg ins Allergeringste sind dann Möglichkeiten Gottes, und offenbar nicht nur äußerliche, sondern solche, die seinem eigenen Wesen entsprechen. Gott der Vater ist nicht anders reich, als indem er sich all des Seinen enteignet, um es dem Sohn zu schenken, der Sohn will nicht anders Gott sein als sich restlos vom Vater empfangend, sich ihm verdankend, der Geist will nichts sein als die von beiden einander gegebene Gabe. Das in der Kreatur, was Gott am unähnlichsten zu sein scheint, hat sein Urbild im innersten Geheimnis Gottes selbst, weshalb es auch seinem Herzen am nächsten liegt.
Außerhalb des biblischen Raumes bleibt der einzelne Mensch ein Individuum der Gattung Mensch, die als solche ihre Würde besitzen mag, so daß das Individuum an dieser Gattungswürde teilnimmt, die erhalten bleibt, auch wenn das Individuum zugrunde geht. Im biblischen Raum, mit einer gewaltigen Steigerung vom Alten zum Neuen Testament, ist der einzelne nicht nur Individuum, sondern Person, für die Gott und sein Sohn persönlich einstehen, so daß wenn eine Person zugrunde geht, etwas Einmaliges und Unwiederbringliches sich verliert.
II
Aber damit haben wir erst ein abstraktes Resultat gewonnen und noch nichts von der konkreten Begegnung zu sehen bekommen, die zwischen der von oben, durch Gott in Christus dem Menschen verliehenen Würde und der von unten, durch die menschliche Bemühung um die Durchsetzung der Menschenwürde sich ergebenden Bewegung sich ereignen muß.
Daß es hier erst eigentlich dramatisch werden muß, sieht jeder voraus, der sich das Zentrum der christlichen Religion vor Augen hält: das Kreuz und die in ihm schon verborgen enthaltene Auferstehung, worin die bisher geschilderte vollkommene Übernahme der Situation des Armen, Weinenden, Hungernden und Verfolgten geschieht. Wer die hier verborgene, nunmehr zu entfaltende Dramatik nicht sehen will oder sie in eine harmlose innerweltliche Harmonie verflacht, der geht an der lebendigen Tiefe des menschlichen Daseins vorbei, er preßt gleichsam die lebendige dreidimensionale Pflanze in ein Herbarium, wo sie eine Dimension und damit auch ihre Lebendigkeit, ihr Blühen und Fruchten verliert.
Wir wollen dieses dramatische Leben in drei Gedankengängen ausfalten.
Zunächst führt Jesus die Betonung der zweiten mosaischen Tafel durch die Propheten, aber auch durch das Gesetz, unbeirrt fort und vertieft, wie wir schon sahen, die Motivierung. Nicht nur, weil ich selbst ein aus dem Sklavenhaus Ägyptens Herausgeführter bin, muß ich mich meines Sklaven – auch wenn er ein Fremdarbeiter aus Moab wäre – mit voller Nächstenliebe annehmen, sondern weil sich Gott in seinem Sohn in unerhörter Weise diesem Fremden genähert hat. Diesem Fremden, der unter die Räuber gefallen und nackt und hilflos am Wegrand liegt. Daß Jesus in seiner Parabel gerade den Samariter die Tat der Nächstenliebe ausführen läßt, ist bittere Kost für den Juden, der nachfragt, wer denn nun sein Nächster sei. Er denkt an eine bestimmte Kategorie von Menschen, der er zu besonderen Dienstleistungen verpflichtet ist. Jesus dreht den Spieß um; er denkt nicht von der Pflicht, sondern von der Not aus: «Welcher von diesen dreien, dünkt dich, ist der Nächste dessen gewesen, der unter die Räuber gefallen ist?» Der natürlich, der sich ihm genähert, sich mit seinem Elend identifiziert, bewußt oder unbewußt Gottes Näherung nachgeahmt hat. Er selber, Jesus, hat sein ganzes öffentliches Leben in der Haltung und Gebärde dieser Annäherung verbracht: zu den Sündern und Kranken, den Zöllnern und Dirnen, den Besessenen, sogar den als unrein geltenden Toten, die ein Pharisäer nie berührt hätte. «Wohltaten spendend ging er umher.» So sehr ist er ein Apostel der Nächstenliebe, daß man ihn als einen Humanisten mißverstehen konnte, ebenso wie man den stigmatisierten Franziskus als einen Naturschwärmer betrachtet hat. In seinen Gleichnissen wird die Dringlichkeit des humanen Verhaltens am Mitmenschen unmißdeutbar unterstrichen. Wer von Gott human behandelt worden ist und daraufhin seinen Mitmenschen inhuman behandelt, hat das Recht auf Humanität eingebüßt und wird, wie es heißt, «den Folterknechten übergeben», bis er den letzten Heller bezahlt hat. Für den Inhumanen kein Pardon. Mit dem Wort des Jakobusbriefes: «Das Gericht wird erbarmungslos sein gegen den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.» Dieselbe Dringlichkeit in der Anweisung, sich, ehe man vor Gott tritt, mit dem Bruder zu versöhnen, dem Gegner schnell zu willfahren, ehe dieser vor Gericht geht und man riskiert, in den Kerker geworfen zu werden. Ist dies menschlich oder göttlich, natürlich oder übernatürlich? Schon von der zweiten mosaischen Tafel muß man sagen, daß durch sie das Humanum über seine sündige Verfallenheit hinaus zu seinem wahren Sinn und Glanz gebracht wird, aber unter der Garantie des einmaligen Bundes mit Jahwe. Wie sollte es anders sein, wenn der erlösende Gott des Bundes derselbe ist wie der Schöpfer des Menschen, wie sollte der Bund mit dem in die Welt hineinwirkenden Göttlichen und Urbildlichen nicht auch das Menschliche, Abbildliche mit zur Vollendung bringen? Und dies kann sich in der Menschwerdung jenes Wortes Gottes nur vollenden, in dem als dem Urbild alle Dinge vornehmlich auch der Mensch geschaffen worden sind.
Aber das ist nur der erste Akt und Aspekt des Dramas. Denn das Wort «kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf». Die Welt ist voll Sünde und deshalb voll Gewalttat, und Jesus kennt die Welt, in die er gekommen ist, genau. Deshalb weiß er, daß es kein billiges ethisches und politisches Mittel gibt, diese Abwendung und Gewalttätigkeit der Welt zu ändern, sondern daß nur der teuerste Preis, das Kreuz, etwas ausrichten kann – und auch das nicht unbedingt auf der irdischen Bühne. Zunächst rechnet er (genau wie Jeremia, als er die Unterwerfung unter Babylon verlangte) mit dem Faktum der Gewaltherrschaft des römischen Kaisers. Nicht: Erhebt euch gegen die Unterdrücker, sondern: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.» Sodann: in seinen Parabeln redet er von Kriegsführung und Strategie, als gehörte solches zur normalen Ausstattung der menschlichen Bühne: Wenn ein König die Übermacht eines andern auf sich zukommen sieht, wird er sich überlegen, ob er nicht, statt zu kämpfen, um einen Vergleich bitten soll. Im Bild des Starken, dessen Hof von einem Stärkeren überfallen und ausgeraubt wird, kann er seine eigene, so ganz andersgeartete Sendung symbolisiert sehen. Desgleichen braucht er, ganz unbefangen, das Bild vom Dieb, gegen den man sich beizeiten vorsehen muß, und in den Apostelbriefen wird er selbst ebenso unbefangen mit einem solchen verglichen. Schließlich ist da das Gleichnis von dem Gauner, der die Schuldscheine seines Meisters fälscht und dafür belobigt wird: das ist der Realismus der Welt, an dem Jesus seine eigene Wahrheit exemplifiziert, ja, wenn er von den Menschen dieser Welt verstanden werden soll, schließlich exemplifizieren muß.
Aber damit ist die Pointe noch nicht erfaßt. Es bleibt das dritte, das eigentlich dramatische Moment. Er, der als der Barmherzige, der Sanfte und Friedensstifter zwischen Gott und Welt gekommen ist, treibt mit seiner Tätigkeit notwendig den Krieg, die Zwietracht, den Widerspruch hervor. Er kann nicht anders sammeln, als indem er scheidet: zwei gegen drei im gleichen Haus, Sohn gegen Vater, Tochter gegen Mutter. «Nicht den Frieden (wie die Welt ihn versteht) bin ich zu bringen gekommen, sondern das Schwert.» Und das gleiche gilt von jedem, der sich in seine Nachfolge begibt: «Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut», das heißt, wer nicht scheidend und unterscheidend sammelt, der bringt nur Dinge zusammen, die nicht wirklich miteinander befriedet sind, sondern von innen her wieder auseinanderstreben werden. Und hier waltet ein Gesetz der Steigerung, des Je-mehr. Je mehr Jesus sich als der Sohn Gottes offenbart und durch Worte und Wunder kundtut, desto energischer wird er abgelehnt, desto unerträglicher wirkt er innerhalb der humanen Gesellschaft. Erst hier sind wir im Herzen der christlichen Geschichtstheologie: Je echter die christliche Botschaft hervorleuchtet, desto wilder wird sie als das verworfen, was auf keinen Fall in Frage kommt. Atheismus ist ein Phänomen, das es ernstlich erst nach Christus, das heißt gegen Christus gibt. (Vorchristlicher Atheismus war immer eine Art von Weltfrömmigkeit, sei es im Atomismus oder im mystischen Nirwanaglauben. Marx, Nietzsche, Sartre sind Antitheisten.)
Wie schon das Judentum durch seine religiöse Intoleranz der Verfolgung ausgesetzt war (Buch Daniel, Buch Ester), so noch vielmehr das Christentum. Und damit sind wir wieder bei den Seligpreisungen, die ja in allen Evangelien so viele Parallelen und nähere Ausführungen haben: «Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen, verfolgen und alles Arge wider euch reden um meinetwillen und damit lügen, freut euch und frohlockt.» Genau dort, wo der wahre Humanismus verkündet, für die Menschenrechte im Ernst eingetreten wird, genau dort setzt die Verfolgung derer ein, die sich Humanisten nennen, aber die Rechte nach ihrem eigenen Verständnis und mit ihren eigenen Mitteln – die auch Atomwaffen sein können – durchsetzen wollen. Dieser Kampf kann sich bis in die Kirche hinein verlegen: bis dorthin, wo die einen meinen, die christlichen Menschenrechte mit den weltlichen Mitteln als den einzig zureichenden verteidigen zu müssen, während die andern dabei verharren, daß die christlich verstandenen Menschenrechte auch nur mit den Mitteln des Evangeliums durchsetzbar sind.
III
Dies besagt also, daß zwischen der Schöpfungsordnung, nach welcher der Mensch selbst für eine menschenwürdige Weltordnung zu sorgen, also sich um Abschaffung von Armut, Hunger, Unterdrückung und Verfolgung zu kümmern hat und der Erlösungsordnung, in der Gott seine Vorliebe für die Armen, Hungernden, Verfolgten zeigt, aber auch für jene, die wie er barmherzig, sanft und friedenstiftend sind, daß zwischen diesen beiden Ordnungen eine Kluft gähnt, die zunächst ausgefüllt wird von der Sünde und Ungerechtigkeit der Menschen. Diese Kluft ist so tief, in der konkreten Weltverfassung so wesentlich begründet, daß jeder Harmonisierungsversuch, der sie mißachtet oder selber überbrücken zu können vermeint, naiv und unrealistisch ist. Ein solcher Versuch kann auch nur unter der ausdrücklichen Voraussetzung unternommen werden, daß die Verkündigung und das Kreuz Christi in Widerspruch stehen zu der Aufgabe der Menschheit, die sie selber aus eigener Kraft muß bewältigen können. Für einen solchen Versuch bleiben die Seligpreisungen ein Ärgernis und genau das, was auf keinen Fall gelten darf: Die Armut sowohl im Leib wie im Geist ist das um jeden Preis Aufzuhebende, und wäre es auch um den Preis von allerhand Tränen und Verfolgungen derer, die an diesen unerträglichen Maximen Jesu festhalten. Sein Wort: «Arme werdet ihr jederzeit unter euch haben», muß unbedingt Lügen gestraft werden. Wie all das Weltleid, inklusive der Tod, praktisch behoben werden kann, ist vielleicht einstweilen noch nicht klar und zeitlich noch in weiter Ferne, aber die materialistische Dialektik weiß den Weg, das einstweilen Ortlose, Utopische, in den Ort und Topos der Menschen herunterzuholen.
Der Hiatus bleibt für den Christen klaffend, der Auferstandene behält seine Wundmale – das Lamm steht auf dem Gottesthron wie geschlachtet –, während die Todeswunde des apokalyptischen Tiers zum großen Staunen seiner Anbeter narbenlos verheilt. Zwischen dem Gottmenschen, dessen Nägelmale offen bleiben, und dem Menschgott, der jede Wunde heilen zu können vorgibt, wogt die dramatische Endschlacht der Weltgeschichte. Das Zeichen des Tieres, das seine Anhänger an Stirn und Hand tragen und mit dem sie alles, was ihnen beliebt, kaufen und verkaufen können, ist entgegengesetzt dem Zeichen auf der Stirn der Auserwählten, jenem Tau, an dessen Balken der Ärmste, Weinendste, Verfolgteste und Verlassendste hängt.
Aber nun ist das Befremdliche dies, daß die Seligkeiten auch für den Nichtchristen, den Humanisten, eine seltsame, für sich selber sprechende Evidenz ausstrahlen. Wo ist je etwas menschlich Großes entstanden ohne harte Entbehrung, ohne Tränen, ohne Verfolgung? Wo hat auch ein durchschnittliches Leben Tiefgang gewonnen, ohne etwas von alldem kennenzulernen? Die Biographien aller, die etwas für die Menschheit Bedeutendes hinterlassen haben, sprechen eine vollkommen eindeutige Sprache. Man hat eine «Tragische Literaturgeschichte» geschrieben, könnte ebenso gut eine tragische Kunst- oder Musikgeschichte, ja eine tragische politische Geschichte schreiben. Gerade die schönsten, die verklärtesten Werke der Kunst verdanken sich dem stärksten Läuterungsfeuer des Leids, man braucht nur Namen wie Mozart und Schubert, wie Hölderlin oder Kleist oder Blake oder Keats zu erwähnen. Von den Gestalten der Heiligen wollen wir gar nicht erst reden.
Wie oft ist anderseits gegen den antichristlichen Sozialismus eingewendet worden, daß er die Werte der Entsagung, des Verfolgtwerdens, des Ringens mit Übermächten nur als Weg schätzt zu einem Ziel, wo mit der Erreichung der Wohlfahrt und des Glücks der Masse alle diese den Menschen ausprägenden Werte dahinfallen. Soll man nochmals die allbekannten Worte Nietzsches im Eingangskapitel seines «Zarathustra» zitieren:
«Seht, ich zeige euch den letzten Menschen… Die Erde ist dann klein geworden, auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‹Wir haben das Glück erfunden›, sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Mißtrauenhaben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, wer noch über Steine und Menschen stolpert!… Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.»
Einstweilen sieht es nicht so aus, als ob der Weltsozialismus den Christen das Menschenmaterial entzöge oder auch nur rar machte, an dem sie ihre Barmherzigkeit, Sanftmut und Friedfertigkeit und ihre Solidarität in Armut und Verfolgung erproben könnten, ganz im Gegenteil. Mehr als je erprobt und übt sich das wahre Christentum an den immer höher sich türmenden menschlichen Abfallhaufen einer Wohlstandsgesellschaft oder einer sozialistischen Durchprogrammierung. Was einst Petrus Claver vierzig Jahre lang in Cartagena tat: die Hunderttausende von Negersklaven, die von Afrika hinübergeschifft wurden, betreuen, die Toten, die Sterbenden, die Aussätzigen von den Gesunden aussortieren, überall Mittel für ihr Überleben zusammenbetteln, das tut heute Teresa von Kalkutta aufs neue, sie lebt inmitten der Seligpreisungen, lebt sie vielen vor und macht damit selbst Ungläubigen die Lehre Christi glaubwürdig.
Nochmals erkennen wir an diesem Beispiel, wie sehr die passiven und die aktiven Seligpreisungen bei Mattäus zusammengehören. Wenn das Christentum eine Religion des Kreuzes und der Kreuzesnachfolge ist, wenn dem Jünger das Los des Meisters versprochen wird: Armut, Tränen, Hunger nach Gerechtigkeit, Verfolgung, so um der Zusammenarbeit mit ihm am Aufbau einer humanen Welt willen, nicht durch Gewalttätigkeit, sondern durch Sanftmut, nicht durch Vernichtung aller Andersdenkenden, sondern durch Friedenstiften, nicht durch eine eherne, erbarmungslose Dialektik, sondern durch Barmherzigkeit, «so wie euer Vater im Himmel barmherzig ist». Beide Seiten sind untrennbar. Wie soll einer barmherzig sein, wenn er nicht in seinem Herzen das Leid dessen fühlt, dem er sich wie der Samariter zuneigt? «Barmherzig» heißt althochdeutsch «arm-herzig»: ein Herz haben für die Armen, für die Armut, die als erste seliggepriesen wird; nicht anders das lateinische «miseri-cors».
Wir sagten, daß die Tätigkeit einer Mutter Teresa auch Ungläubigen einleuchtet; verschiedene Preisverleihungen bezeugen es. Heißt das nicht, daß die scheinbar so antisozialen «Seligkeiten», und zwar im aufgezeigten Hiatus zwischen dem Menschenreich und dem Gottesreich, schließlich doch der überzeugendste und wirksamste Weg sind, auch eine irdisch menschenwürdige Gesellschaft aufzubauen? Gewiß nicht als exklusives Rezept, denn die harten irdischen und erbsündigen Ordnungen der Politik und der Wirtschaft bleiben bestehen, die unweigerlich Kampf um Macht und Erfolg und Vorherrschaft sind, sich deshalb nicht einfach in die Wertskala der Kreuzesreligion einschmelzen lassen. Wer das versucht, ist entweder ein Utopist, der an der Realität scheitert, oder er gleicht – als Befreiungstheologe – die Werte der Seligkeiten den Werten der Politik und Wirtschaft an und unter, oder er versäumt – Dienstverweigerer – um der christlichen Konsequenz willen Pflichten der Verteidigung nicht nur des Vaterlands, sondern mehr noch einer christlichen Kultur und Freiheit gegen Barbarei und Sklaverei, Pflichten, die bei aller Problematik im einzelnen, doch zu allen Zeiten der Menschheit als solche anerkannt wurden (wobei freilich die besondere Inhumanität des heutigen Krieges zusätzlich bedacht werden muß). Die Welt bleibt ein Schlachtfeld zwischen dem, der das Schwert führen muß, um halbwegs Ordnung auf Erden zu schaffen, und dem, der den Auftrag erhält, sein Schwert in die Scheide zu stecken, weil doch «alle, die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden». Reinhold Schneider hat sich bewußt an dieser Antinomie zu Tode geblutet.
Es kann hier nicht mehr unsere Aufgabe sein, die Quadratur des Kreises aufzulösen, wie etwa im christlichen Politiker der unvermeidliche Wille zur Macht mit dem von Christus gebotenen Willen zur Demut vereinbar sind; es gibt in der Geschichte einige Beispiele – ich denke etwa an Maria Theresia –, die eine solche Personaleinheit beider Wertsphären als möglich erscheinen lassen. Ich meine, daß in solchen Fällen der Leitstern der Menschenrechte als ein christlicher Stern der Punkt ist, an dem die Synthese gelingt: Die Sorge des Fürsten oder des sonstigen Regierenden für die ihm anvertrauten Menschen, für ihren Freiheitsbereich, die unter ihnen herrschende Ordnung kann dann ebensowohl irdisch-humanen wie christlichen Motiven entspringen.
Nochmals stoßen wir von diesem Beispiel her auf die schon erwähnte Kontinuität zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung wie auf die durch die sündige Gottentfremdung der Welt zwischen beiden aufgerissene Kluft. Das Christentum hat durch seine wundersam vertiefte Gottesidee eine Sensibilisierung dessen gebracht, was von der geschaffenen Natur des Menschen her ein Sensorium für das Humanum ist oder sein sollte, durch die in die Welt gekommene Caritas Gottes den Menschen vor Augen gestellt, was elementare Pflicht nicht erst christlicher «Caritas», sondern mitmenschlicher Justitia ist: etwa untermenschliches «Elend» zu beheben und ihm zumindest auf die Ebene einer menschenwürdigen «Armut» emporzuhelfen. Wo das von christlich-caritativem Tun übersehen wird, hat ein Proudhon hundertmal recht, dagegen «justice» und nichts anderes auf sein Banner zu schreiben. Es ist aber doch kennzeichnend, daß ein Charles Péguy aus Enttäuschung an der die Menschenrechte mißachtenden Kirche extremer Sozialist wurde und dann aus Enttäuschung an der Inkonsequenz des Sozialismus zur Kirche zurückgekehrt ist, weil vollkommenes Recht sich doch nur im christlichen Denken und in der Stellvertretungsidee durchführen läßt. Das Christliche bringt das Humane in Sicht, wie die Gnade die Natur in Sicht bringt, sie nicht zerstört, sondern vollendet. Es besteht ein unauflöslicher Kreislauf zwischen dem («allgemeinen») Logos, in dem alles geschaffen ist und der Licht und Leben der Menschen bleibt, und dem gekreuzigten Logos, der das Ärgernis der «Seligkeiten» ausspricht und vorlebt, der aber identisch ist mit dem ersten, ja noch mehr: Die Welt hätte im «allgemeinen» Logos gar nicht geschaffen werden können, wenn die letzte Verbürgung für ihr Gelingen nicht vorgängig im Selbstangebot des Sohnes zur Passion gelegen hätte. Aber weil die Synthese von Schöpfungs- und Kreuzesordnung nur in der Auferstehung durch Gottes Gnade und Kraft erreicht wird, bleibt uns einstweilen nur ein unabschließbares dramatisches Ringen um sie möglich.
Approximationen an diese Synthese fordern jeweils den freien Blick auf die «Seligkeiten», mögen sie nun unmittelbar als Wort Christi verstanden oder indirekt in ihren human wohltätigen Auswirkungen gesehen werden. Sie der Welt im Bewußtsein zu wahren ist Aufgabe der Kirche Christi, die als die immer neue Vergegenwärtigung des armen, gedemütigten und verfolgten Christus auch hier eine unentbehrliche Funktion ausübt. Darum ist die von Joachim von Floris in die mittelalterliche Theologie eingeschleuste Idee einer Überholung der Kirche Christi durch ein drittes Reich des Heiligen Geistes – eine Idee, die wie keine andere sich in der Geschichte durchgesetzt hat, von den Spiritualen über die Renaissance, die barocken Geheimgesellschaften, die Aufklärung, Lessing, die Idealisten bis hin zum Marxismus und zu Hitlers drittem, tausendjährigem Reich –, darum ist diese Idee die Zerstörung der geschichtstheologischen Dramatik, in der wir notgedrungen mitspielen müssen und die uns immer neu vor die Entscheidung stellt, des Menschen Würde und seine Rechte an seiner Einschätzung durch Gott im armen und zerschlagenen Christus abzulesen oder sie sonst um einer innerweltlichen Utopie willen aus den Augen zu verlieren.

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Die “Seligkeiten” und die Menschenrechte
Ottieni
Temi
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo