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Lässt sich Christ-sein definieren?
Wenn Kirche als eine wesentlich missionarische Größe verstanden wird – und so wollte sie sich von Anfang an mehr oder weniger intensiv verstehen –, dann ist in der heutigen Welt allüberall bis in fremde Religionen, ja in atheistische Weltanschauungen hinein viel Christliches atmosphärisch vorhanden, wie Staub in der Luft. Ein Gandhi, sicher kein Christ, wäre ohne seine westlichen Jahre nie geworden, was er war; mancher Sozialist, der sich antichristlich gibt, ein Proudhon zum Beispiel, entfaltet seine Lehre, um endlich zu beweisen, was die Kirche schon längst hätte wissen und ausführen sollen. Man wäre angesichts seiner fast versucht, von einem «ungläubigen Christen» zu reden, aber der Ausdruck existiert nicht, und wir wollen ihn auch nicht einführen. Wir reden hier (die Frage der «anonymen Christen» beiseite lassend) von denen, die sich selber als Christen verstehen und auch bekennen.
Aber vor welchen Berg von Problemen sehen wir uns gestellt, wenn man uns fragt, was ein solches Bekenntnis beinhaltet. Zunächst sind die gesamte ökumenische Problematik und die Grenzen damit aufgerollt, an denen das Selbstverständnis des einzelnen oder einer Gruppe im ungewissen verdämmert, man denke nur an die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten des Ökumenischen Rates, eine Art Minimalprogramm aufzustellen, das für ein noch fassbares Christsein als normativ gelten kann.
Ein erster naiver Versuch könnte sich an das Getauftsein halten wollen, Aber schon erhebt sich ein Haufen von Fragen: Wer ist überhaupt gültig getauft? Welche ethischen Voraussetzungen muss ein Erwachsener mitbringen, um gültig getauft zu werden? Was ist vom Ritus her notwendig? Was ist mit den Unzähligen, die «gültig» getauft sind, sich aber später entweder nicht um den Glauben kümmern oder bewusst ihren Austritt aus der (oder: einer) Kirche erklären? Schon ein Blick auf die Geschichte kann zeigen, vor welche Schwierigkeiten dieser Versuch uns stellt. Gehen wir vom Johanneswort aus: «Wer nicht aus dem Wasser und dem Geist wiedergeboren wird, kann in das Gottesreich nicht eingehen» (Johannes 3,5), und fragen wir den Verfasser des ersten Johannesbriefs, was er von der Taufe derer hält, die er folgendermaßen beschreibt: «Schon jetzt gibt es Antichristen… Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen, aber sie gehörten nicht zu uns; hätten sie zu uns gehört, so wären sie bei uns geblieben. Aber es musste offenbar werden, dass nicht alle zu uns gehören» (1 Johannes 2,18 f.), so erhalten wir auf unsere Frage keine Antwort. Große Geister haben in der Kirchengeschichte sehr verschiedene Antworten erteilt. Ein Origenes scheint an manchen Stellen die in der Kirche befindlichen Christen in solche einzuteilen, die zwar eine gültige (Wasser-) Taufe erhalten, aber noch keinen wesentlichen Anteil am Heiligen Geist gewonnen haben, und solche, die vor und nach der Taufe sich durch ein christliches Leben um Empfang und Entfaltung des Heiligen Geistes bemühen. Nach Augustin sind die von ihm bekämpften Donatisten zwar gültig getauft, (sie brauchen bei der Rückkehr in die katholische Kirche nicht wieder getauft zu werden), aber den Heiligen Geist, der von der kirchlichen Gemeinschaft untrennbar ist, haben sie nicht erhalten.
Wir werden heute, wenn wir von gültiger Taufe außerhalb der Kirche sprechen, diese Unterscheidung nicht mehr machen, werden aber die Problematik Augustins nicht gänzlich überspielen können. Das stellt uns erneut vor das ökumenische Problem, diesmal ausdrücklicher vor die Frage: Ist der schon ein Christ, der sich als solcher fühlt und bekennt, oder muss er von irgendeiner Instanz, die das Christsein normiert, als ein solcher erklärt werden? Wie viele Katholiken, die etwa der Kirchensteuer wegen offiziell aus der Kirche austreten, gehen trotzdem zu den Sakramenten und wären beleidigt, wenn man ihnen ihr Christsein absprechen würde.
Um irgendwie weiterzukommen, wird man die verschiedenen großen christlichen Denominationen nach ihrer Meinung befragen. Wir können die Orthodoxen hier aus dem Spiel lassen, auch die Anglikaner; aber merken wir am Rand an, dass «Orthodoxie» (also Rechtgläubigkeit) innerhalb des Protestantismus nur eine Richtung unter anderen anzeigt: ein vielsagendes Symptom. Behandeln wir also im folgenden nur den protestantischen und den katholischen Bereich.
Im protestantischen Bereich mit seinem «sola scriptura» (im Gegensatz zu der vom Zweiten Vatikanischen Konzil eingeschärften Untrennbarkeit von Schrift, Tradition und von Christus eingesetztem Lehramt: «Dei Verbum») bleibt das Verstehen und Auslegen der Schrift trotz der vorbildlichen Weise, wie die ersten Reformatoren es taten, dem einzelnen überlassen. Das wird endgültig dort akut, wo mit der Aufklärung und ihren (exegetischen) Folgen bis heute der Zusammenstoß zwischen überlieferter «gläubiger» Auslegung und der rationalen, schließlich «historisch-kritischen» Methode unvermeidlich wurde. Es entstanden die ungezählten Spielformen der «liberalen» und der «Vermittlungs»-Theologie. Hier eine Grenze ziehen zu wollen zwischen Christ und Nichtchrist erweist sich angesichts größter und einflussreichster Gestalten als unmöglich; als einziges Kriterium dürfte gelten, ob einer sich selbst als Christ verstand und verstanden wissen wollte oder sich persönlich klar vom Christsein distanzierte.
Lessing hätte diesen Titel für sich abgelehnt, Schleiermacher gewiss nicht; über Hegel wogt der Kampf nicht nur zwischen der damaligen «Rechten» und «Linken» hin und her, sondern auch heute noch zwischen katholischen Hegel-Auslegern. Ob der späte Schelling sich als Christ empfand oder als einer, der das ganze christliche Gut in eine abschließende «Philosophie der Offenbarung» einbergen wollte: wer entscheidet das? Die klare Distanzierung lässt sich bei einer Gestalt wie D.F. Strauß nicht bestreiten: von frühauf von der Tradition der schwäbischen Mystik (Böhme, Oetinger) geprägt, wollte er schon als Tübinger Student die «Unmittelbarkeit des Gefühls der Wahrheit» besitzen, drängte über allen «Dualismus» hinaus, den er auch noch bei Hegel in seiner Einigung zwischen christlichem Glauben und absolutem Wissen entdeckte, und wollte schon 1840 «vorwärts zum reinen, glaubensfreien Wissen» und damit zu einem Monismus, einer Annahme «letzter Einheit zwischen Gott und Welt». «Antichristlich war seine ursprüngliche Tendenz nicht», urteilt W. Lütgert, aber seine Absicht war, als Theologe den im Buchstaben der Bibel dauernd vorhandenen Dualismus zu überwinden.
Nehmen wir einen ganz anderen, eigentlich tragischen Fall: mit der radikal übernommenen historischkritischen Methode das Christsein unversehrt zu bewahren: Rudolf Bultmann; wer seine Predigten kennt, wird ihm den ernstesten Willen, Christ zu sein, niemals absprechen. Freilich in einem herzzerreißenden Widerspruch, den seine Schüler nicht gewillt waren zu ertragen. Wenn sie nicht, wie H. Schlier, katholisch wurden, suchten sie doch die für den Glauben und für die Mission unentbehrliche Brücke zwischen dem historischen Jesus und dem kirchlichen Glauben. Ein anderer, vor das gleiche Dilemma gestellt, zog es vor, vom Christsein Abschied zu nehmen und sich einer religiösen Lebensphilosophie zu widmen: Albert Schweitzer. Karl Barth, der mit liebevollem Scharfsinn der Geschichte eines überwiegend liberalen Protestantismus nachgegangen war, konnte mir als Katholiken gegenüber den Stoßseufzer äußern: «Ihr habt es leicht mit eurem Lehramt; wir müssen diesen ganzen Ballast mitschleppen.»
Nun, so leicht haben es die Katholiken, zumindest seit dem Zweiten Vatikanum, auch nicht mehr, denn es mehren sich auch bei uns die Konflikte zwischen der oben erwähnten objektiven Norm (Einheit von Schrift, Tradition und Amt, mit klarer Überlegenheit der Schrift über deren Auslegung in lebendiger Tradition und im Amt: «Dei Verbum» 10) und dem subjektiven Christsein- und -bleibenwollen. Verschiedenste Strömungen, teils extremer, teils vermittelnder Art, koexistieren. So zugunsten einer ökumenischen Einheit der Kirche die Tendenz, das den Konfessionen Gemeinsame ins Zentrum zu rücken und das Trennende (vor allem das katholische Verständnis vom Amt in all seinen Formen und mit all seinen Konsequenzen) als «Sonderlehre» an den Rand zu rücken. Diese Tendenz ist heute durch viele Länder hindurch von einem zuweilen sehr heftigen antirömischen (oft auch antibischöflichen) Affekt begleitet, wodurch meiner Meinung nach die katholische Seite im ökumenischen Gespräch sich selber den Ast absägt, auf dem sie sitzt: besteht für den Katholiken kein sichtbarer kirchlicher Bezugspunkt mehr, wonach entscheidbar ist, was (noch) katholisch ist und was nicht (mehr), so zersplittert die Gesprächssituation: man kann jeweils nur mit einer Gruppe, einem Grüppchen, einer Person reden, während daneben in derselben Konfession immer eine andere Gruppe gegen das Erreichte Einspruch erheben wird. Diese grundsätzliche Feststellung sträubt sich keineswegs gegen jedes innerkatholische Bestreben, die gesamte Amtsstruktur immer wieder, was ihre konkrete Gestalt angeht, einer Kritik zu unterziehen: ecclesia, episcopalitas, curia Romana semper reformanda. Das ist nicht nur das Anliegen der weltweiten Kritiker, sondern (wie die jüngsten römischen Bestrebungen zeigen) des Papstes selbst.
Andererseits sehen wir heute gerade die Ernstesten unter den katholischen Exegeten um einen kompromisslosen Austrag der zwischen kirchlichem Glauben und historisch-kritischer Exegese bestehenden Spannung bemüht, und ihre sehr bedeutenden und oft sehr fruchtbaren Leistungen zeigen, dass ein solcher Ausgleich keineswegs aussichtslos ist. Dies hier im einzelnen oder auch nur an bestimmten Beispielen aufzuzeigen, würde den Rahmen dieses Artikels weit überschreiten; wer aber sorgsam zwischen sicherem Ergebnis und bleibender Hypothese, aber auch zwischen wissenschaftlicher Bearbeitung eines Textes und spiritueller Betrachtung des Wortes Gottes zu unterscheiden versteht, wird dem Gesagten beistimmen können.
Wir haben oben einige protestantische Namen genannt, wir wollen mit dem Hinweis auf zwei sich katholisch nennende Autoren schließen. Die Situation ist auf beiden Seiten nicht die gleiche, da im katholischen Bereich auf eine bestimmte Normfunktion des Amtes nicht verzichtet werden kann.
Hans Küng, der durchaus in der Kirche bleiben will («Warum soll ich austreten? Der Papst soll austreten», wird als Ausspruch von ihm in einem Buch von Greeley zitiert), hat einen sogar noch Luther überwachsenden antirömischen Affekt. Angesichts der bevorstehenden Synode hat er in einem ausführlichen Schreiben die Bischöfe der Welt aufgefordert, sich von der römischen Tyrannei zu befreien. Luther ist hier in der Tat nicht fern; einem deutschen Bischof gegenüber hat Küng sich dahin geäußert, dass, wenn dieser sein Buch über die Kirche nicht so ernstnähme wie Luthers Thesen, er es nicht verstanden hätte. Entsprechend schiebt er die Schuld, dass das ökumenische Gespräch nur noch schleppend weitergeht, darauf, dass er daran nicht mehr wie früher beteiligt sei (vergleiche Professor Schüttes offenen Brief in «Die Zeit»). «Damit ist Küng zum Führer dessen geworden, was die liberale protestantische Partei in der katholischen Kirche genannt werden kann», hat schon 1977 Richard N. Ostling («Time», 3. Januar) festgestellt, was ich ihm jüngst bei einem Interview für eine italienische Zeitung nachgesprochen habe. (Mein Interviewer, Herr Messori, wird mir diese exakten Worte bestätigen, die dann ohne mein Wissen dahin vereinfacht wurden, ich betrachtete Küng nicht mehr als Christen.) Man kann es freilich verstehen, dass er, den innerchristlichen Dialog nicht mehr so beherrschend wie früher, aufgrund seiner Christologie (Christus als «Sachwalter Gottes») den Dialog jetzt auf höherer Ebene zwischen den Weltreligionen, in denen Propheten oder ein Prophet führend sind, weiter zu fördern sucht.
Durchaus in der Kirche möchte auch Leonardo Boff bleiben, wie könnte er sonst seinen Einfluss auf einen katholischen Kontinent wahren? So hat er sich, ganz im Gegensatz zu Küng, in Rom verbindlich und konziliant gegeben. (Hier darf in Klammern angemerkt werden, dass das sogenannte «Strafschweigen», das ihm auferlegt wurde, nicht vom Präfekten der Glaubenskongregation ausging, obschon dieser nicht umhin konnte, diese Verfügung zu unterschreiben. Man sollte auch nicht übersehen, dass im neuen kirchlichen Rechtsbuch nicht weniger als 441 Canones sich mit kirchlichen Strafen und Prozessen befassen, gewiss nicht «gegen die Menschenrechte».) Bedenken ergeben sich vor allem gegen Boffs Christologie (zumal in «Leiden Christi – Leiden der Welt», Vozes, Petropolis 2. Aufl. 1978), worin er, was den «historischen Jesus» angeht, sich kaum von den Ergebnissen Bultmanns unterscheidet, ja sich darüber hinaus der Stellung Albert Schweitzers nähert: Jesus habe, von seinem apokalyptischen Milieu beeinflusst, den plötzlichen Einbruch eines jenseitigen Gottesreiches erwartet, ihn noch am Kreuz erhofft und, da er ausblieb, den Verlassenheitsschrei ausgestoßen, das (vielleicht einzige) sicher authentische Jesuswort. Seine stufenweise Vergöttlichung sei eine Sache der Urgemeinde. Von einem Heils- oder Sühneverständnis seines Todes kann bei Jesus nach Boff (der sich hier dem alten Buch von Kessler anschließt) keine Rede sein.
Diese Beispiele wollten nur zeigen, wie sehr die Frage, wie ein Christ zu definieren sei, auch auf die katholische Kirche übergegriffen hat. Nur ist in ihr die Problematik sehr viel akuter als in den protestantischen Kirchen, weil es hier kein rein persönliches Sich-als-Christ-Fühlen oder -Erklären außerhalb der «communio hierarchica» (wie das II. Vatikanum sagt) geben kann.
Hans Urs von Balthasar
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Läßt sich Christ-Sein definieren?
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Idioma:
Alemán
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Saint John PublicationsAño:
2022Tipo:
Artículo
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