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Die Kunst der Fuge
Paralipomena zu einer Aufführung
Das härtste meist geglaubter dauer wankt.
Doch was auch weicht: DER stamm spricht noch sein wort.
Nachdem der Traum der Stimmung zertrümmert und der Rausch der Farbe verflattert sind; die Untern sich Fetzen und Reste des Festes errafft und in das Chaos des Exotischen getaucht haben, in dem es keine Stufung mehr gibt und keine Qualität, stehen die Ernsteren hilflos im allgemeinen Verfall. Viele aber tasten sich zurück zu dem tückischen Dreiweg, an dem sie der Schutzgeist der guten Wege im Stiche ließ, und erinnern sich an die Zeit, als das Erdachte aus dem Wissen aller erdacht, die Gestalt aus den Zügen aller gestaltet war. Da wurde der Meister kaum genannt, das Bild aber im Triumph durch die Straßen getragen. Mit dem Beginn jener Zeit, seit der die Kunst gemeinhin die romantische genannt wird, fing man an, dieses Verhältnis, das von altersher als ein dem Wesen der Kunst gemäßes betrachtet wurde, pathetisch zu fälschen: das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft. Er wollte nicht mehr den Ruhm seines Werkes, sondern den Preis seiner selbst. Einsam steigt er zum Himmel, das göttliche Feuer zu rauben, nicht als Gesandter, sondern als verwegener Beschenker, und weil er im Trotz, nicht als Gebet aller, sich über die Gemeinschaft erhob, wurde er gefesselt von seiner Vereinzelung und vom Ehrgeiz um seine besten Rechte betrogen, und der Rauch seines Feuers war größer als seine Klarheit. Denn während er abseits suchte und sich zu den übrigen nur noch als Geste verhielt, ging ein Größerer durch die Gemeinschaft, nicht von außen die Millionen umarmend, sondern er band sie im Innern zu dem, für das er uns zugleich auch den Namen hinterließ: Corpus mysticum. Wozu noch das sinnlos abwegige Streben, wenn der Gott in liebendem Schreiten sich unserer Form vereint, und was wir kaum wünschen durften, aus sich erfüllt?
Im gregorianischen Choral drückte sich das Gemeinschaftsbewußtsein der mittelalterlichen Menschen in vollendeter Form und Gemäßheit aus. Er ist jene reine Monodie, welche von den Gesangsschulen der Blütezeit zu der schweren, unnahbaren Schönheit ihrer königlichen Linie von der gleichen ästhetischen Leidenschaft ausgebildet wurde, der wir auch die monumentalen Konturen der großen Fresken verdanken; in den prunkvollen Codices ihrer Zeit überliefert, von unsrer antiquierenden Vergangenheit in Bau und Vortrag verkannt, von der Gegenwart in ihrem Leben kaum geahnt. Dann enthoben sich dem Einklang seine Teile. Die Obertöne: die Oktave, Quinte und Quarte, wurden zwar neben dem Grundton in der Spätzeit selbständig gesungen, doch nur um dem einen Ton eine neue Farbe und Fülle zu verleihen und ohne das Wesen der Einstimmigkeit preiszugeben.
Die niederländischen Schulen erst begannen konsequent, diesen neuen Sachverhalt als Akkord zu deuten, und verflochten seine Töne zu jenen wunderbaren Geweben, in denen die Stimmen sich selbständig harmonisch bewegen, aber nur in ihrem Zusammenhang sinnvoll sind. Wer wollte die Statue aus dem gotischen Portal reißen, sie des Zusammenhanges mit Sockel und Säule berauben? Die dienende Einfalt aller Teile nur vermochte das Werk zu solcher Höhe zu heben.
Doch als die Sehnsucht nach der schönen Form der griechischen Figur erwachte, wurde der Ordo der klingenden Einheit Kerker und Fessel. Die Stimme wollte souverän werden, – in sich selbst schwebend, beziehungslos vollkommen. Deutsche Meister brachten den neuen Stil aus dem Süden, und ein Streit zwischen der Tradition und den welschen Neuerern entbrannte. Denn in der entfalteten Einheit, sagten die Philosophen, liege die ganze Welt, und ihr Spiegel genüge zur Erkenntnis des Alls. Die freigewordene Stimme schritt stolz durch die Zeit der Musik, gefolgt, begleitet von der Bewunderung der übrigen. Die Begleitung jedoch wurde sinnlos, toter Stoff ohne sie.
Aber der Kampf schloß mit dem Siege beider. Die Zeit, die in der Monadologie eine Brücke zu bauen wußte zwischen dem großen und dem kleinen Kosmos, so, daß nicht nur die seltene begnadete Person zum Sinnbild des Ganzen erhoben wurde, sondern jede ihre Stelle in der allgemeinen Harmonie finden konnte – diese Zeit gebar die Kunst der Fuge. Denn wie die Monade Person ist, jeden Punkt des Raumes und der Zeit in sich birgt, und wenn auch fensterlos, doch nach innen gegen jede andere geöffnet und unentrinnbar eingespannt in die lückenlose Reihe der Wesen, so ist in der Fuge die Stimme nicht mehr versenkt in die einzig dienende Stellung der Harmonie: vielmehr unschätzbar bedeutend als Teil und Spiegel des Ganzen zugleich, eingespannt in den Ordo der Entwicklung und doch die Entwicklung selber bewirkend, befehlend. Und wie es die Freiheit der Monade ist, mitzuwirken in der vorbestimmten Ordnung der besten aller Welten, so ist es die Freiheit der Stimme, mitzuwirken in der Gesetzmäßigkeit der musikalischen Form.
Diese innere Spannung ist das Wesen der Fuge, die in der «Kunst der Fuge», dem letzten großen Werk Johann Sebastian Bachs, ihrer ganz entfalteten Schönheit entgegenreifte. Die Kunst Bachs war die Vollendung und darum das Ende. Der große Meister wußte nicht nur die seelische Dramatik des religiösen Menschen in seinen Passionen und Kirchenkantaten zu gestalten – diese sind Mitleiden und Mitfreude an göttlichem Leiden und göttlicher Freude – er vermochte auch die christliche Vorstellung vom Ordo, von der Gemeinschaft und das Bewußtsein des im Ordo richtig gerichteten Menschen zur klarsten intelligiblen Schau zu erheben: das ist die Kunst der Fuge, in der er deshalb das steigernde Pathos des Gefühls, anders als in den vokalen Werken, die das Mitschwingen des ganzen sinnlichen Menschen fordern, vermissen konnte. Denn so wenig die begleitenden Vorstellungen Bedingung des Denkens sind, sondern höchstens Stütze und Antrieb, so wenig ist diese Schau: innere Mathematik und Harmonie der Gemeinschaft durch unlautern Enthusiasmus zu erschleichen. Allein der Ruhe des gereinigten Geistes wird sie ihre Gesetze erschließen. Der Drang, dieses Werk mit romantischer Sentimentalität aufzuführen, hieße sein Wesen verkennen. Denn die Romantik mit ihrem Kult der Persönlichkeit steht hilflos vor einem Werk, in dem die Person des Künstlers aufgehoben ist. Interessant im romantischen Sinne ist das Thema nicht; ohne Licht und Farbe, ernst, aber nicht traurig, schreitet es durch die neunzehn Fugen; immer schwingend in der Verklärung der religiösen Demut, die dem Meister selbst das Interesse an der Verbreitung seiner Werke gänzlich auslöschte. Wie oft erhielt sie blinder Zufall, wie viele sind verloren gegangen. Mit Bachs Tod erschlaffte die überstarke Hand. Die Stimmen zerbrachen den Zwinger der Fugenform und folgten dem Lockruf zur Freiheit vom Ordo. Bei Mozart fand die Einzelstimme in der Form der Kantilene und der Koloratur ihre genialste Ausprägung. Beethoven gestand bereits, es falle ihm schwer, eine Fuge mit Gehalt zu füllen. Die Stimme war der Zwiesprache entwöhnt. Der Atem wird kürzer. Die Romantik findet im durchkomponierten Lied ihre gemäßeste Kunstform, bis auch dieses zum bloßen Motiv verkümmert; die Begleitung aber, zu unnatürlichem Schwulste aufgebläht, überfällt proletarisch diese letzten Dominanten: Götterdämmerung. Was Ziel und Lohn schien – Empfindung und Gefühl – wurde zur Strafe. Denn von der Höhe des religiösen Ordo wird uns erst der lautere Genuß dieser Frucht gewährt, die zu Gift wird für alle, die sie von unten erlangen wollen. Dem Rechtgerichteten aber ist alles erlaubt. Es war nicht Vermessenheit, als Bach in der Tripelfuge in Es das Entrückteste in Spiegel und Gleichnis darzustellen wagte: das Geheimnis der drei ineinander fließenden Ringe des Paradiso, die Gemeinschaft der Trinität. Die Freiheit der gebundenen Ordnung ist größer als die Freiheit der einsamen Stimme.
Sind die entworfenen Sterne vor dem Schrein
Des Herrn: das Loblied laß mich, nicht den Schrei sein,
O Herz der Ordnungen! laß mich nicht frei sein,
Frei sein ist nichts: ich wollt, ich wäre dein!
Hans Urs von Balthasar
Título original
Die Kunst der Fuge
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Temas
Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2022Tipo:
Artículo