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Integralismus heute
Hans Urs von Balthasar
Original title
Integralismus heute
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Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2022Type:
Article
Die kirchliche Landschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten so stark verändert, daß man sich angesichts von alten Schlagworten – wie zum Beispiel dem Begriffspaar Integralismus-Modernismus – erst einmal gründlich besinnen muß. Was heißt nach Papst Johannes XXIII. Aufruf zum aggiornamento (zur Wahrnehmung der realen Welt von heute, der die christliche Lehre sinngemäß verkündet werden soll) heute Modernismus? Und was ist bei den sogenannten Integralisten überhaupt integral, das heißt doch «lückenlos vollständig»?
Erheben wir uns einen Augenblick über das Kampfgewühl zwischen den Schlagworten, so sollten wir einsehen können, daß nichts «moderner», nichts bessere Medizin für die Krankheiten unserer Zeit ist als das unverkürzte Evangelium, das nur als «integrales», nicht zurechtfrisiertes seine heilende und aufbauende Wirkung ausüben kann. Ein Blick auf die Ostländer dürfte diese Behauptung bestätigen. Auf dieser höheren Warte fallen die verfeindeten Parolen angesichts der nüchternen Erkenntnis zusammen, daß wirklich integral überhaupt nur das sein kann, was Gott ist und von ihm als das stets Aktuellste ausgeht, im Gegensatz zum fragmentarischen Charakter alles Weltlichen, das – heute schneller als je – von einem Modernen (oder Post-Modernen) zu einem Vergangenen (oder Vor-Vergangenen) wird.
Am Göttlich-Vollständigen des unkastrierten Evangeliums des Sohnes Gottes werden wir deshalb am besten das Maß für das nehmen, was sich im irdischen Bereich eine pseudo-göttliche Integralität anmaßt und gerade damit seine Abweichung anzeigt.
I. Modernismus-Integralismus um die Jahrhundertwende
Werfen wir zu Beginn einen Blick auf die Kampfzeit des ausgehenden letzten Jahrhunderts, wo die Opposition zweier Fronten in der Kirche sich wohl zum ersten Mal in ihrer Geschichte so deutlich abzeichnete. Auf die bedeutsame Vorgeschichte – reine Restauration eines vorrevolutionären Zustands oder Fruchtbarmachung berechtigter sozialer Forderungen – ist hier nicht einzugehen; virulent wurde die Lage erst mit den extremen religiösen Thesen des sogenannten Modernismus, der das kirchliche Dogma an der Religiosität des Subjekts zu messen unternahm.
Maurice Blondel, selbst zu Unrecht des Modernismus verdächtigt, war der erste, der das drohende Zerwürfnis diagnostizierte und 1910 in seiner 250-seitigen Studie über den «Monophorismus» seiner Besorgnis Ausdruck gab.
Bereits 1904 schrieb er seinem Freund, dem Philosophen Auguste Valensin SJ: «Man kann sich der Tatsache nicht verschließen, daß täglich die Spannung schärfer wird zwischen zwei Richtungen, die in allen Belangen, sozialen, politischen und philosophischen, die Katholiken gegeneinanderstellen. Man könnte heute geradezu von zwei gänzlich unvereinbaren katholischen Denkweisen sprechen; und das ist ein offenkundig abnormaler Zustand, denn es kann nicht zweierlei Katholizismus geben. Ich will nicht ablassen, diese beiden Haltungen zu kennzeichnen und zu zeigen, wie die diversen Tendenzen in jedem dieser gegensätzlichen Systeme innerlich zusammenhängen.»
An der Basis der Differenz sieht er zwei verschiedene Erkenntnistheorien: bei den zeitaufgeschlossenen Christen das Bewußtsein der Verflochtenheit alles geschichtlich Wirklichen, die Forderung, durch wagendes solidarisches Handeln darin einzusteigen, um es in seiner inneren Bewegtheit zu erfahren. Bei den Integralisten dagegen die Ansicht, die Wirklichkeit könne in abstrakten, fixen und unabänderlichen Begriffen ausgeschöpft werden, so daß es genüge, im Blick auf die rechten Begriffe zu handeln, um die Welt auch recht zu bewegen. Bei den ersten folgt aus ihrem Ansatz, daß auch im Verhältnis von Natur und Offenbarung dieselbe Verflochtenheit herrscht; es gibt Wege der Gottesgnade auch von unten nach oben, Wege, die den Menschen guten Willens auch außerhalb der Kirche durch rechte Entscheidungen in den Bereich der Gottesliebe einführen. Bei den zweiten ist die Offenbarung primär ein System von Lehrbegriffen, die sich definitionsgemäß in der Menschenwelt nirgends vorfinden können, daher nur von einer rein absteigenden kirchlichen Autorität dem Laienvolk zur passiven Annahme vorgestellt werden kann. Aus diesem rationalistisch-extrinsezistischen Ansatz folgt für Blondel die Rückbildung der christlichen Botschaft zu einem «Gesetz der Furcht und des Zwanges», statt seelenbefreiendes Gesetz der Liebe zu sein.1 Man übt im Namen des Herrn eine Härte aus, die er selber nie geübt hätte, ja, «unter dem Vorwand, ihm das Wort zu lassen und seine Feinde zu treffen, verletzt man ihn vielleicht selber».2 Der von den Untertanen geforderte blinde Konformismus ist «die denkbar radikalste Perversion des Evangeliums»,3 die sich gegen den Modernismus als nicht minder «mörderischer Veterismus» stellt.4 «Die Logik des Integralismus ist unerbittlich»: Die klar begriffliche Trennung eines geschlossenen Reiches der Natur und einer ebenso geschlossenen Übernatur, die von oben herab herrscht, fordert von den Vertretern der letzteren, «sich selbst mit der Offenbarungswahrheit zu identifizieren, oder vielmehr die Offenbarungswahrheit mit sich, um schließlich zu einer rein menschgestaltigen Theokratie zu gelangen, die man zwar dauernd ableugnet, aber doch immerfort praktiziert».5 Da der weltliche Arm für diese Herrschaft nicht mehr verfügbar ist, muß man ihn notgedrungen durch eine innerkirchliche Machtanwendung ersetzen; die Kirche im ganzen liegt im «Belagerungszustand»6, und da der ideale Untertan der blind gehorchende ist, wird die Tendenz dahin gehen, alle nicht restlos Gefügigen aus der Kirche herauszutreiben: «in Ermangelung des compelle intrare wird man das compelle exire praktizieren; … der Herr ließ damals die 99 getreuen Schafe auf ihrer Weide, um dem einen verlorenen nachzueilen, manche möchten heute bei dem einzigen getreuen verharren, um es noch besser anzubinden.»7 Das Leitbild ist jetzt der «Kreuzzug» für die von der weltlichen Gewalt verkannten Rechte der kirchlichen Macht, ist «die kleine, vollkommen durchgeschulte Sturmschar der Fachleute für die konfessionellen Fragen, die gefügige Elite der Sakristan-Soldaten»,8 während «die Menschheit zur Sedia gestatoria der geistlichen Vollmacht wird, die alles zu geben und nichts zu erhalten hat und deshalb ihr Geschenk als ihr geltend zu machendes Recht auferlegt: zwangsweise».9 Blondels grimmige Analysen setzen die scharfen antimodernistischen Maßnahmen voraus, deren extremste Ausläufer ihm selbst wohl nicht einmal bekannt waren.
Pius X. hatte den Modernismus 1907 verurteilt (Pascendi), von 1908-1913 folgen zahlreiche Indizierungen; Zeitschriften der modernen Katholiken streichen die Segel, eine davon erklärt, sie habe keine Daseinsberechtigung mehr «unter dem in der Kirche wiederhergestellten Inquisitionssystem». Während dieser Jahre gelangt das, was Valensin geradezu als «die entgegengesetzte Häresie» bezeichnet hat, zum Zuge, im Kern steht eine Geheimgesellschaft oder vielmehr eine Verbindung verschiedener Geheimgesellschaften mit Zentrum in Rom bei Msgr. Umberto Benigni, der seit 1906 beim Staatssekretariat arbeitete (wo ihn später Pacelli ablöste), unter der Protektion des Kardinals Merry del Val, und der monatlich 1000 Franken vom Papst bezog; er hatte eine allgemeine Informationsagentur und eine über viele Länder sich erstreckende Organisation «zur Verteidigung der päpstlichen Lehrstücke» gegründet, die von überall Erkundigungen über die Orthodoxie von Personen und Gruppen einzog und entsprechende Direktiven aussandte. Die Mitglieder zerfielen in drei Gruppen: die ganz Geheimen, die einfach Geheimen und die Öffentlichen, hinter denen die ersteren sich verbargen. Pius X. hat die Einrichtung gutgeheißen, aber ihr inneres Funktionieren keineswegs gekannt. Das Archiv des («Sapinière» genannten) Hauptquartiers der Integralisten fiel während des Ersten Weltkrieges in die Hände der deutschen Armee.
II. Verschiebung der Fronten und Ähnlichkeiten
So war es damals, aber die Fronten haben sich, wie anfangs gesagt, bedeutsam verschoben. Auf der einen Seite wäre es töricht, die notwendig in der Kirche – kraft ihrer institutionellen Verfaßtheit – bestehenden Spannungen (das Wort in seinem positiven, lebensnotwendigen Sinn genommen) mit den alten Etiketten der Jahrhundertwende zu bekleben. Jeder Einsichtige muß eingestehen, daß die Anliegen des Modernismus von den heute tonangebenden Theologen so gründlich wie möglich aufgearbeitet worden sind; jeder halbwegs Unvoreingenommene wird zugeben müssen, daß, wenn extreme, mit dem Evangelium nicht mehr zu vereinbarende Positionen vom Lehr- und Hirtenamt als solche zu kennzeichnen sind, dieses selbe Amt sich heute aufs höchste bemüht, Zweideutiges (wie eine gewisse extreme Befreiungstheologie) so zu klären, daß die positiven Anliegen darin als solche von der Gesamtkirche anerkannt und aufgenommen werden («Option für die Armen»), während voreilige Angleichungen an fremde Ideologien oder Anleihen bei nichtkatholischen Theologien als solche aufzudecken sind. Wer wollte leugnen, daß Grenzziehungen (etwa in Fragen der Moral) oft diffizil sind und das Angemessene nicht auf Anhieb zu umschreiben ist, daß aber rechte christliche Ethik sich nicht auf die Laxheiten einer nach-christlich-permissiven Gesellschaft einlassen kann? Geduld mit der sich ernsthaft mühenden Kirche ist hier und in ähnlichen Fällen angebrachter als grobe Polemik.
Mit diesen Bemerkungen soll aber nicht vertuscht werden, daß es heute in der Kirche noch eindeutige Formen dessen gibt, was man mit dem alten Schlagwort Integralismus kennzeichnen darf. Legen wir das oben aufgestellte Maß an, daß integral (in seiner absoluten Fülle «vollständig») nur Gott und sein Wort in der Welt ist, während alles Innerweltliche, Fragmentarische sich zu diesem empor zu beziehen hat, so können wir drei Aspekte angemaßter «Integrität» auch in der heutigen Kirche unterscheiden: einen der Macht, einen der Tradition und einen der richtenden Vernunft.
1. Die Macht
Gemeint ist weltliche Macht, die wohl zu unterscheiden ist von den zum Dienst an den Gläubigen von Christus gegebenen «Vollmachten». Beides gleichzusetzen ist ein billiger Trick antikirchlicher Propaganda. Der Priester, der durch das Weihesakrament die Vollmacht hat, im Namen Christi und für und mit seiner Gemeinde die Eucharistie zu zelebrieren – manche tun es in priesterlosen Gegenden sonntags bis zur Erschöpfung, wie sie (früher) stundenlang bis zur Erschöpfung Beichten abnahmen – übt nicht weltliche Macht aus, sondern ist der «Diener aller». Er ist es auch, wenn er im Auftrag Christi trotz und dank vieler Mitarbeiter das sichtbare Einheitsprinzip seiner Gemeinde zu bilden hat.
Macht im gemeinten Sinn beginnt erst dort, wo eine Gruppe (mag sie frei oder kirchlich organisiert sein) sich zum Programm setzt, auf dem Umweg über weltliche Machtpositionen angeblich christliche Wirkungen hervorzubringen. Weltlich ein normales Kalkül (beherrscht es nicht alle Politik und Wirtschaft?), christlich aber ein Schlag ins Gesicht der Seligpreisungen der Bergpredigt. Macht als Weg, das Kreuz aufzurichten, war weithin der Weg der Kolonisatoren (oder muß man zu Karl dem Großen und zu seinen alttestamentlichen Vorbildern zurückgehen?), deren verheerende Politik bis heute ihre Früchte trägt, so vieles die nachträglichen Missionierungen an Gutem gestiftet haben mögen. Es ist gut, daß der Vatikan arm ist. Denn auch Geld kann ein Machtmittel sein, mit dem man sich zu einer Zeit, da das Wort Simonie obsolet geworden ist, manches erkaufen kann, vielleicht sogar Heiligsprechungen. Wir leben in einer Zeit, da Propaganda, Reklame, Werbetechnik eine Großmacht geworden sind. Es bereitet tiefe Sorge zu sehen, wie christliche Gemeinschaften heute für sich werben, oft schon bei Minderjährigen, die sich durch geschickte Lockmittel einfangen lassen. Ich besitze eine ganze (internationale) Sammlung von Klagebriefen übertölpelter Eltern, denen eine kirchliche Institution oder Bewegung die Kinder weggestohlen hat. Mehr oder weniger unbewußt steht hinter solcher Werbung das Bewußtsein einer Gruppe, die katholische Kirche in ihrer Integralität am besten und wirksamsten zu repräsentieren. Heilige Ordensgründer wie Franziskus oder Ignatius haben nie für sich geworben, sondern für das Gottesreich, zu dem man durch Nachfolge Christi Zutritt gewinnt.
Merkwürdigerweise vermählt sich heute (wie im Mittelalter und Barock) persönliches Armutsideal mit Reichtum der Gemeinschaft. Aber das Volk ist dieser Vermählung gegenüber mißtrauisch. Eine Statistik hat nachgewiesen, daß in Frankreich die um reiche Abteien liegenden Ländereien die am meisten entchristlichten sind. «Ihr könnt nicht zwei Herren dienen: Gott und dem Mammon» – selbst wenn ihr nicht Mönche, sondern eine Laienbewegung seid. Gewiß verlangt das Evangelium «Schlangenklugheit» neben «Taubeneinfalt», aber nicht ohne sie; und gewiß wird der kluge und getreue Knecht gelobt, mit dem Vermögen seines Herrn gearbeitet zu haben, aber eben nicht mit dem eigenen und nicht für sich, während das Bedenkliche an manchen heutigen florierenden kirchlichen Bewegungen darin besteht, daß sie für sich arbeiten, weil sie sich «integral» mit der Kirche identifizieren. Das erweckt, weil wir alle im Sog der Propaganda sind, bei vielen nur ein leichtes Malaise; es sollte aber, wo echte Unterscheidung der Geister geübt würde, mehr wecken: dezidierte Abkehr.
«Ich bin das Licht der Welt», sagt der Herr: er wirkt durch Ausstrahlung. Er sagt nicht: «Ich bin ein Magnet der Welt», der durch Anziehung wirkt. Alle Integristen pachten die Orthodoxie für sich. Das ist kein hinreichendes Kriterium mehr. Die Praxis entscheidet, nicht einfach die soziologische, sondern diejenige Christi.
2. Die Tradition
Bezüglich der Tradition ist jedermann schnell im Bild. Man kennt die mächtigen traditionalistischen Bewegungen, seien sie, wie sie meinen, im Herzen der Kirche oder an deren Rand in Verhandlungen mit Rom, ob ihr Begriff von Tradition noch kirchlich zulässig sei oder nicht. Kennzeichen beider Gruppen – der zentralkirchlichen wie der randkirchlichen – ist ihre Starre und Selbstgerechtigkeit. Das Bewußtsein ihrer integralen Katholizität gibt ihnen das Recht, alles von ihrem Standpunkt Abweichende souverän zu verurteilen. Sie haben recht, und nur sie. Weshalb? Weil die «Tradition» für sie ist. Und was ist für sie Tradition? Das, was war. Was bisher immer gegolten hat. Zur Gegenwart hin wird ein abschließender Strich gezogen. Ist man sich klar, daß alle Schismen der Kirchengeschichte – bei aller vorsichtigen Beurteilung, die auch die positiven Anliegen der «Unterlegenen» anerkennt – traditionalistischen Ursprungs sind? Was (irgendwie) bei den Vornizänern galt, hat weiter zu gelten, deshalb verlassen die Arianer die Kirche. Was auf dem Konzil von Nizäa galt, hat in Ephesus zu gelten: die Nestorianer verlassen die Kirche. Was in Ephesus galt, muß in Chalzedon gelten: die Monophysiten aller Färbung isolieren sich. Das Ost-West-Schisma: bis zum zweiten Nizänum, aber keinen Schritt weiter. Die Reformation: was (buchstäblich) in der Schrift steht, aber sine glossa. Die Altkatholiken: was bisher nicht als Dogma definiert wurde, soll es auch heute nicht werden. Jedes große Konzil produziert ein Residuum. Das heißt jedesmal: die Tradition liegt im Buchstaben. Und man sieht nicht, daß der geistlose Buchstabe tötet. Daß Tradition zuerst etwas Lebendiges, Weiterdrängendes ist, ein suchendes Sich-hinein-Beten und -Betrachten in das lebendige Wort. Der Trennungsstrich wird dort gezogen, wo ich als Junge etwas gelernt habe, was eben deshalb als Dogma zu gelten hat. Es ist so bequem, sich darauf auszuruhen und keine weiteren Anstrengungen machen zu müssen! Altkonservative Geschlechter finanzieren mit Vorliebe solche traditionssichere (feuersichere) Blätter. Diese Gruppen wissen schon Bescheid, sind daher für jeden wohlgemeinten Dialog verloren. Wenn Rom sich um einen solchen bemüht, heißt es: Wartet nur, ihr werdet schon sehen, daß wir schließlich doch anerkannt werden. Und wenn eine solche Anerkennung nicht erfolgt, dann hat Rom, wie so oft, selbstverständlich unrecht. Was für ein Skandal, daß der Papst mit Andersgläubigen («Häretikern») zusammen betet! Was für ein Ärgernis, daß er mit den Feinden Christi, den Juden, fraternisiert. Seit wann reisen Päpste dauernd in der Welt herum? Haben sie zu Hause nicht Arbeit genug?
Niemand wird leugnen, daß viele «progressistische» Mißstände besonders im Klerus die traditionalistische Tendenz verstärkt und ihr anscheinend recht gegeben haben. Das Volk mußte an vielem, was ihm nachkonziliar vorgesetzt wurde, berechtigten Anstoß nehmen – bis heute. Und so ist es nicht verwunderlich, daß eine Menge braver Gläubiger dem Traditionalismus ins Netz geht, meist ahnungslos, wo die entscheidenden Punkte eigentlich liegen. Die Extreme treiben sich gegenseitig hervor, aber die «Progressisten» sind sich dabei ihrer Verantwortung selten bewußt. Mit einem verächtlichen Blick nach «rechts» ist es nicht getan. Mit einer Kritik an der Rückständigkeit Roms ebensowenig, aber es ist bedeutsam, daß der antirömische Affekt auf beiden Seiten unvermindert heftig spielt: Rom ist zu progressiv – Rom ist zu konservativ. Vielleicht ist Rom doch, aufs Ganze gesehen, in einer Mitte, die es den Extremen objektiv möglich machen könnte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden.
Was von den Traditionalisten jeglicher Färbung nicht gesehen wird, ist die Tatsache, daß die Kirche mit dem Zweiten Vatikanum über eine lange Strecke eines pyramidalen Verständnisses (der Papst als oberste Spitze, dann durch den Klerus der Abstieg zu den Laien) zur altkirchlichen Ekklesiologie der Communio zurückgefunden hat, ohne deshalb mit der historischen Tradition zu brechen. Das Kennwort «communio hierarchica» spricht etwas von der gewonnenen Synthese aus. Eine «Bewegung für Papst und Kirche» macht sich durch die Reihenfolge der Hauptworte heute selber lächerlich – am meisten beim gegenwärtigen Heiligen Vater. Diese Tradition mag allenfalls bis auf Gregor VII. zurückreichen, nicht weiter. Und der Kampf um die kirchliche Selbständigkeit, die dieser Papst gegen ein sakrales Kaisertum durchzufechten hatte, ist längst bedeutungslos geworden. Und will vielleicht, wer gegen die Religionsfreiheit optiert, die Scheiterhaufen der Inquisition wieder einführen?
Man muß sich den Ewig-Gestrigen gegenüber auf den echten Sinn katholischer Traditio besinnen. Nicht ein Weiterreichen des Immergleichen, so wie eine Kette von Arbeitern sich Ziegelsteine zuwirft; sondern etwas unerhört Lebendiges, das seinen letzten Ursprung in der Übergabe des Sohnes durch den Vater an die Menschen, in der Selbstübergabe Christi an die Kirche hat, in der Weitergabe der Apostel an ihre Nachfolger: Immer mit dem Herzblut des Tradierenden zusammen, immer mit der Mahnung, keine Sache, keine fertige Formel, sondern Göttlich-Lebendiges anvertraut zu erhalten: «Ich weiß, bei meinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch eindringen… die mit ihren falschen Reden die Jünger auf ihre Seite ziehen. Seid also wachsam, … ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen» (Apg 20,29-31). «Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit» (2 Tim 1,7). Integral ist Tradition nur, wenn die Kirche im Geist des sich selbst in seinem Sohn der Welt überliefernden Vaters tradiert.
3. Die richtende Vernunft
Es wäre einseitig, hiemit abzubrechen und einer dritten Form des Integralismus nicht zu gedenken, in der nicht die Position, nicht die Tradition, sondern die menschliche Vernunft das letzte Wort hat. In dieser Hinsicht ist wohl Hegel der ausgepichteste Integrist, der das Bewußtsein hatte, keinen möglichen Aspekt der Wahrheit nicht in seine Synthese einbezogen zu haben. Man weiß, daß ihm das Christentum viel galt, aber sein Begriff des Mysteriums nichts, denn jedes Geheimnis ist eine Nuß, die von der Vernunft geknackt werden muß. Es geht mir hier nicht um Hegel (obschon, nach den deutschen Hegelkongressen zu urteilen, vor und nach ihm keine Philosophie mehr in Betracht kommt), sondern um die Anmaßung der Vernunft, alles entweder auszuschalten oder als durchschaubar hinzustellen, was das Christentum als göttliches (und damit geheimnisvolles) Geschenk an die Menschheit «zu glauben vorstellt». Man braucht das Theologische nur zu psychologisieren oder zu soziologisieren, um ihm eine menschlich annehmbare Seite abzugewinnen, man braucht an die Stelle des Glaubens bloß die religiöse «Erfahrung» zu setzen, um die verekelte Jugend wieder anzulocken. Man müßte bloß die paar längst fälligen Konzessionen in Sachen Sexualität machen, um Scharen von Abseitsstehenden zurückzugewinnen, man brauchte – da unsere Kirchen sich ob der Unverständlichkeit der Eucharistiefeier zusehends leeren – nur eine zeitgemäße Form religiöser Aktivität zu erfinden (Angebote östlicher Meditation oder Überlassung des Gottesdienstes der Phantasie der Gemeinde u.ä.), um wieder Klienten in den Kirchen zu haben. Und entspräche es nicht der simplen Vernunft, die vertrackten konfessionellen Differenzen ad acta zu legen, da wir doch «in wesentlichen Punkten einig sind»? Wieviel Ballast wäre damit über Bord geworfen, wieviel flotter ginge die Fahrt vonstatten. Und wenn wir schon beim Abbruch lästiger Barrieren sind, warum nicht Ökumene auf einer höheren Ebene treiben: gegen den Weltatheismus eine Weltreligion? Ist nicht auch Mohammed, ist nicht Buddha auf seine Weise ein Sachwalter Gottes? Eint nicht die gemeinsame Welt von Bildern, Mythen, Archetypen alle Religionen der Menschheit? Das Christentum wird in dieser integralen Weltreligion seinen Ehrenplatz behalten, aber wie kann ein Mensch daherkommen und behaupten «Ich bin die Wahrheit»? Haben wir nicht alle nur einen Gott, zu dem wir aufblicken, auch wenn Allah tausend Namen hat? Irgendwann wird der One World auch die One Religion entsprechen müssen.
Liebe Leser, sind wir mit diesen hochmodernen integralen Entwürfen nicht doch unversehens um hundert Jahre zurückversetzt in die Hochblüte des Modernismus? Oder meinetwegen um noch weitere hundert Jahre zu Lessings «Erziehung des Menschengeschlechts» oder den reizenden Naivitäten der Zauberflöte? Und ist dann vielleicht die Catholica doch so etwas wie die «Königin der Nacht», die der armen Pamina den Dolch in die Hand drückt zur Erledigung des strahlenden Lichtreichs der Vernunft? Hier abzubrechen ist hohe Zeit. Und sich zu erinnern, daß einer gesagt hat: «Ich bin das Licht der Welt», das in die höhere Einheit keines anderen Lichtes eingeht, und verheißen hat, daß, wer ihm nachfolgt, nicht in der Finsternis wandelt. Diese Einzigartigkeit Christi zu erweisen, gehört [hier] nicht mehr zu unserem Thema.
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