Menu
Das unterscheidend christliche Gebet
Es gibt Bücher genug über das Gebet aller Völker, von den frühesten bis zu den hochentwickelten, und viele der darin gesammelten Gebete sind so schön, daß sie uns Christen, wenigstens wenn wir unser persönliches Beten betrachten, beschämen können. Wenn wir dennoch die Frage nach dem unterscheidend Christlichen in unserem Gebet stellen, so denken wir nicht so sehr an den oft tiefen Mangel unserer persönlichen Gebete als an die unser Versagen übergreifende Form, wie ein Christ innerhalb seiner Kirche und ihrer Liturgie zu beten angewiesen wird. Drei Aspekte dürften sich hier nahelegen, die christliches Beten von dem anderer (auch biblischen) Religionen abhebt.
I
Der erste Aspekt ist der am deutlichsten in die Augen fallende: der trinitarische. Er wird alsogleich im eucharistischen Gebet der Kirche offenbar: Die Kirche fügt sich in das Danksagungsgebet (eucharistia) Jesu Christi ein und betet «durch ihn und mit ihm und in ihm» zum Vater und dies wesentlich dadurch, daß sie durch den Heiligen Geist dazu befähigt wird: «Niemand kann sagen: Jesus ist der Herr, außer im Heiligen Geist» (1 Kor 12,4) und «der Geist kommt unserer Schwachheit zu Hilfe, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, aber der Geist tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern» (Röm 8,26). Dieser Geist ist uns vom Vater und vom Sohn verliehen, er kennt als Geist Gottes die innern Tiefen Gottes und kann sie uns, wenn wir in ihm und in Christus beten, erschließen (1 Kor 2,10-16). Wir könnten uns fragen, weshalb, da uns dieses Innere Gottes durch den Geist und durch den Sohn schon erschlossen ist, wir überhaupt noch um Einlaß beten sollen. Stehen wir damit nicht schon jenseits des bei allen übrigen Völkern immer vorausgesetzten Abstands zwischen dem allmächtigen Gott und der bedürftigen Kreatur? Aber hier ist es Jesus Christus selbst, der uns die rechte Antwort erteilt. Denn er, der Gottes Sohn ist, betet zum Vater, und wenn er uns beten lehrt und das «Vaterunser» beibringt, dann sicherlich den wesentlichen Gehalt seines eigenen Betens. Er betet als Ganzer, als Gott und als Mensch, zum Vater. Er betet nicht als bloßer Mensch, daß sein eigener göttlicher Wille, der eins ist mit dem des Vaters, auf Erden wie im Himmel geschehe, sondern er betet als der, der er ist, als der Gottmensch, daß der Wille des Vaters geschehe, sein Reich komme, sein Name auf Erden bekannt und verherrlicht werde. Auf einmal werden wir inne, daß Gebet nicht nur eine Angelegenheit zwischen Mensch und Gott ist, sondern daß Gott selber zu Gott beten kann, daß jede göttliche Person die andern um die Verwirklichung ihres einzigen und gemeinsamen Willens bitten und sie für dessen Erfüllung loben und ihnen dafür danken kann. Wenn wir also durch Jesus Christus und die Verleihung des göttlichen Geistes (schon in Taufe und Firmung) in das innere Leben Gottes einbezogen wurden, sind wir deswegen keineswegs aus der Pflicht – nein: der Gnade und Freude – des Betens entlassen, sondern erst recht darin eingelassen. Nicht als hätten wir als die armen Geschöpfe, die wir sind, nicht über den Abstand unserer Nichtgöttlichkeit hinweg mehr zum allmächtigen und allerbarmenden Gott zu beten (auch Jesus Christus betet durchaus als ein Mensch), aber wir haben durch unser «Versetztsein» aus der «Macht der Finsternis» in das «Reich des Sohnes seiner Liebe» (Kol 1,13) zugleich jene «Zuversicht» oder «kindliche Unbefangenheit», fast möchte man sagen Ungeniertheit (parrhēsía), die uns Paulus so oft zuschreibt und zu betätigen anempfiehlt, wie sie Kindern des Hauses erlaubt ist, da sie nicht vor den Zimmern ihrer Eltern zu antichambrieren brauchen wie fremde Besucher oder Diener, sondern jederzeit Zutritt haben. Daß sie Kinder sind und deshalb zu gehorchen haben, vergessen sie darob nicht, aber zwischen Geliebtsein und Gehorchenmüssen besteht für sie keine Problematik, es gehört zu ihrem unreflektierten Status, daß beides ineinsgeht und beisammen ist.
In seinem uns geschenkten «Vaterunser» betet der Sohn ja durchaus auf unserer Seite, sofern wir als Geschöpfe Gott gegenüberstehen, und ohne dies aufzuheben, versetzt er uns über die Grenze der Geschöpflichkeit hinweg auf seine göttliche Seite, indem er uns Anteil schenkt an seinem einmaligen Verhältnis zu seinem Vater, den er Abba, liebes Väterchen zu nennen gewohnt ist. Und der Heilige Geist legt dieses Zärtlichkeitswort auch in unsere Herzen und auf unsere Lippen (Gal 4,6; Röm 8,15).
Dieses Beten innerhalb des dreieinigen Lebens Gottes setzt nun voraus, daß Gott immer den Willen Gottes erfüllt und daß, wenn wir wirklich innerhalb dieses Lebens beten – oder, wie Jesus sagt: wenn wir den Vater in seinem Namen um etwas bitten (Joh 14,13) –, wir es unfehlbar erhalten. Ja nicht nur das, sondern es immer schon erhalten haben. Das ist genaue Lehre des Neuen Testamentes: «Ich sage euch: alles, worum ihr betet und bittet: glaubt, daß ihr es erhalten habt, und es wird euch zuteil sein» (Mk 11,24). «Das ist unsere Zuversicht, die wir bei ihm haben: Wenn wir etwas gemäß seinem Willen erbitten, so hört er uns, und wenn wir wissen, daß er uns in all unsern Bitten hört, so wissen wir auch, daß wir alles schon haben, worum wir ihn gebeten haben» (1 Joh 5,14f.). Gottes Hören besagt hier schon sein Erhören (vgl. Joh 9,31), wie auch der Sohn selber weiß, daß er immer vom Vater erhört wird (Joh 11,41f.). Nur wird immer die Bedingung unterstrichen, daß wir um Dinge bitten, die «im Namen Jesu» oder «im Willen des Vaters» liegen, nicht um Dinge, die wir aus eigenem Willen «durchstieren» möchten. Das wahrhaft Gute gibt uns Gott unfehlbar (Mt 7,11) zu der Zeit, da er es für gut hält.
Das Gebet innerhalb des dreieinigen Gottes hat die ganze Breite und Fülle der Beziehungen der Personen zueinander: Es ist nicht nur Bitte, sondern zugleich Anbetung, Lob, Dank in einer unfaßlichen und überschwenglichen Weise. An alldem hat die Kirche in ihrer Liturgie und haben alle einzelnen Gläubigen Anteil.
II
Aber wir können in Gottes Selbstoffenbarung an uns nie unterscheiden zwischen dem, was sein Wort, und dem, was seine Tat ist. Sein Wort ist offenkundig bereits eine Tat, und so ist auch seine Tat ein Wort. Jesus ist nicht nur das Wort des Vaters, wenn er predigt oder seine Jünger unterweist, sondern ebenso sehr wenn er schweigt (welche Ausdruckskraft hat sein Schweigen anläßlich der Anklage der Ehebrecherin oder vor Pilatus und Herodes!), ebenso sehr, wenn er am Kreuz leidet, und gerade auch, wenn er tot ist und im Grab liegt: Vielleicht ist Gott nie beredter gewesen als in der Passion und im Sterben Jesu – und natürlich in seiner Auferstehung. Es ist durchaus möglich, daß vieles, was Jesus nur getan, nur «gewesen» ist, vom Heiligen Geist in der von ihm inspirierten Schrift in für uns faßbarere Worte umgesetzt hat. Sicher ist kein Gebetswort Jesu an seinen Vater ein bloßes Wort geblieben, das nicht seinem Tun, seinem ganzen Verhalten entsprochen hätte.
Damit ist etwas Entscheidendes für die von Gott erwartete Antwort – die der Kirche und die unsere – vorweg gegeben: Wir müssen unseren Bitten tätig entsprechen. Wenn wir bitten: «Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel», so ist es an uns, diesen Willen, gewiß mit der Hilfe und Gnade Gottes, auf Erden zu tun. Das wird aufs ausdrücklichste in der späteren Bitte hervorgehoben: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben.» Täten wir es nicht, so wären wir geistig gar nicht in der Lage, den Geist der Vergebung in unseren Geist aufzunehmen, wie das Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,21-25) offenkundig zeigt.
Gebet kann deshalb von der christlichen Existenz als seiner Beglaubigung niemals abgelöst werden. Diese Existenz kann noch so hinfällig und unvollkommen sein, sie muß als ein Versuch gelten können, die Wahrheit des christlichen Gebets zu erweisen. So etwas wie Gebetsmühlen, wie ein Gebetsautomatismus ist christlich ein Widerspruch in sich, weil eben Gottes Wort, auf das wir glaubend zu antworten haben, immer zugleich Wort und Tat ist.
Die Kirche weiß dies genau, nicht nur indem sie neben die Liturgie immer die praktischen Einsätze der Nächstenliebe im Blick auf das Reich Gottes gekannt hat, sondern indem sie außerdem – was das erste keineswegs ausschließt oder ersetzt – die praktische Wirksamkeit des Gebetes als solchen betont hat. Auch die Orden wissen es. So hat eine Teresa von Avila ihren Karmel mit seinen geschlossenen Klöstern in der Absicht reformiert, der Kirche in ihrem Abwehrkampf gegen die Reformationen im Norden zu Hilfe zu kommen, wohl wissend, daß das Gebet ihrer Töchter, im Zusammenhang mit ihren Bußübungen und der ganzen unerbittlichen Strenge ihres Lebens, mehr erwirken kann als viel äußerliches Tun. Ihre Einsicht wurde von ihrer Tochter Therese von Lisieux geradezu in die Mitte ihres christlichen Denkens gestellt, wenn sie – die später zur Patronin der Missionen erklärt wurde – von ihrem Gebetsleben behauptet, es sei das Schwungrad, das das ganze Triebwerk der äußeren kirchlichen und missionarischen Werke in Bewegung setzt. Ein Gleiches dachte der Eremit Charles de Foucauld, denken die aus seiner Spiritualität hervorgegangenen Familien. Dies mag für Bewegungen ermahnend und vorbildlich bleiben, die die Orthopraxis einseitig in den tätigen Einsatz für die Armen und die Befreiung der «Unterdrückten» verlegen zu müssen meinen, vielleicht unter Vernachlässigung des kirchlichen und persönlichen Gebetes. Man kann nicht sagen, daß die Tat allein als solche schon Gebet sei, wenn sie nicht begleitet wird vom Gebet, das als solches schon Tat ist.
III
Ein Drittes ist kennzeichnend für das christliche – und hier sagen wir genauer: für das katholische – Gebet: Es erfolgt innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen. Ein Christ ist außerhalb dieser Gemeinschaft gar nicht denkbar, wird er doch im Ritus der Taufe dem mystischen Leib Christi eingestaltet, dessen Haupt der Herr ist, dessen Gliedervielfalt aber für das christliche Leben unentbehrlich bleibt. Nur «mit allen Heiligen zusammen» vermag der einzelne Christ in die «Breite und Länge, Höhe und Tiefe» der «Liebe Christi» einzudringen, weil die lebendige Einsicht der übrigen «Heiligen» seine einseitige ergänzt und diese sich bewußt durch die anderen ergänzen lassen muß, um allererst katholisch, das heißt (durch Raumlassen und Umfaßtsein) umfassend zu werden. Das paulinische Gleichnis von der notwendigen Verschiedenheit der Glieder, um zusammen einen organisch-einheitlichen Leib zu bilden, sagt bereits, daß die «Communio Sanctorum» (zunächst die aller Christen, die in der Gnade beten) jedem einzelnen Beter nötig ist, damit sein Gebet kirchlich und katholisch sei. Es ist kein Widerspruch zu sagen, daß sein Beten zugleich unmittelbar durch Christus im Geist zum Vater geht und durch die kirchliche Gemeinschaft vermittelt wird. Alles in der Kirche kann persönlich sein, aber nichts privat.
Nimmt man dies ernst, so ist der Übergang von hier zur Anrufung der Heiligen ein fließender. Denn jeder Christ kann für einen andern ein Vermittler zu Gott sein. Paulus bittet immer seine Gemeinden, für ihn, seine Schwierigkeiten und Nöte zu beten und setzt offensichtlich große Hoffnung auf solches Vermitteln. Und sicher werden bereits hier die besseren Christen, die auch die besseren Beter sind, mehr von Gott erreichen als die lauen, die vermutlich nur oberflächlich beten. Das Füreinander-Beten, das Sich-ins-Gebet-anderer-Empfehlen ist eine alltägliche, völlig einsichtige und durchsichtige Form, die Gemeinschaft der Heiligen zu leben.
Hat man diese in den neutestamentlichen Schriften so wohlbezeugte Gewohnheit einmal ernstlich bedacht, so ist nicht einzusehen, weshalb die katholische Anrufung der im Himmel weilenden und jetzt im Vollsinn Heiligen einen Übergang zu etwas ganz anderem bedeuten sollte. Je reiner einer als heilig durch Gottes Gnade bezeichnet werden kann, um so bereiter wird er sein, Fürbitte für seine noch ungereinigten Brüder und Schwestern zu leisten. Die Reinste, die Mutter Jesu, die durch ihr volles Jawort die Menschwerdung des Wortes magdlich mit ermöglicht hat (in einem unreinen Menschen hätte Gottes Wort nicht Mensch werden können), wird deshalb auch die mächtigste Fürbitterin sein. Sie gehört, wie die übrigen Heiligen im Himmel, genauso zum mystischen Leib Christi wie die noch auf Erden lebenden Glieder. Von uns zu ihnen besteht der Abstand des Glaubens von der Schau, von ihnen zu uns besteht kein Abstand. Wenn wir im römischen Kanon («Communicantes») die himmlische Kirche anrufen, an der irdischen Feier teilzunehmen, so kommt sie nicht von ferne herbei, sie ist immer schon da. In der Apokalypse vermischen sich die «Gebete aller Heiligen» (sowohl der himmlischen wie der irdischen) mit dem Duftwerk, das ein Engel erhält, um es zusammen mit diesen Gebeten zu Gott aufsteigen zu lassen (Apk 8,2-4).
Gewiß ist der Gedanke eines sozialen Moments neben dem personalen auch nichtkatholischen und nichtchristlichen Religionen vertraut. Das Katholische daran wird aber erkennbar, wenn man es auf das erste Moment zurückbezieht: daß alles geschöpfliche Gebet immer schon in einer unbeschreibbaren innergöttlichen «Gemeinschaft» eingeborgen ist, durch die Vermittlung des menschgewordenen Sohnes und diejenige des von Vater und Sohn der Menschheit geschenkten Geistes. In der innergöttlichen «Gemeinschaft» ist ja das «Personale» nicht nur mit dem Gemeinsamen verbunden, sondern damit geradezu identisch, da die göttlichen Hypostasen nur dadurch unterschieden sind, daß sie durcheinander und aufeinander hin existieren und ihre Einheit nichts ist, was – gleichsam als ein Viertes – von ihnen unterscheidbar wäre, sondern ganz in diesem Durch- und Füreinandersein besteht. Nur von diesem göttlichen Mysterium her erhält christliches Gebet seine letzte Begründbarkeit und Ermächtigung.

Hans Urs von Balthasar
Original title
Das unterscheidend christliche Gebet
Get
Specifications
Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
Article