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Einheit und Vielheit neutestamentlicher Theologie
I. Form und Freiheit
Was im Grunde für jeden Menschen gilt, wird an großen Persönlichkeiten noch deutlicher ablesbar: Der Versuch, sie zu verstehen, ihre Person und ihr Werk zu deuten, kommt über Annäherungen nicht hinaus. Würde man bloß die Werke Shakespeares oder Raffaels oder Mozarts zum Gegenstand einer Analyse nehmen, so hätte man schon eine unabschließbare Aufgabe vor sich; man könnte diese Werke allseitig umschreiten wie eine Statue, die sich trotz ihrer Einheit in immer neuen Aspekten darbietet. Aber wenn man in den geformten Werken auch noch ihren Schöpfer gespiegelt sieht, den Bezug seiner souveränen Freiheit zu dem von ihr Verwirklichten beachtet, dann erhält das Werk nochmals eine neue, vollends unergründliche Tiefe. Nimmt man Mozarts letzte Werke, die alle in so unbegreiflicher Distanz voneinander stehen: Così fan tutte, Die Zauberflöte, Titus, das Requiem, dann öffnet sich der Blickwinkel so weit, daß niemand erahnen kann, was diese Freiheit noch hätte ausformen können. Und doch zeigt jedes dieser Werke, deren Stil und Gestimmtheit so gegensätzlich sind, die Kralle des Löwen, doch entströmen sie alle der einen, unverwechselbaren Mitte. Wer hier deuten will, wird sicher das einzelne Werk in seiner besonderen Gesetzlichkeit zum Gegenstand nehmen, aber sich nicht darin verkapseln, sondern die Fenster offenlassen zum Nachbarwerk, ja zum Gesamtwerk hin, und außerdem das Ganze als den Ausdruck einer ungeheuren persönlichen Freiheit sehen, die sich gerade in dieser Form äußert, so, daß die Form sie aufs evidenteste ausdrückt.
Mußt ins Breite dich entfalten,
Soll sich dir die Welt gestalten.
In die Tiefe mußt du steigen,
Soll sich dir das Wesen zeigen…
Nur die Fülle führt zur Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.
(Schiller, Spruch des Konfuzius)
Die Werke fordern vom Hörer, Leser, Beschauer, sich nicht in ihre Endlichkeit zu vergaffen, sondern ihre Form als objektive Freiheit zu erleben, die des Genießenden subjektive Freiheit entbindet und beflügelt. Die Werke haben eine Zeugenfunktion: Sie bezeugen sich selbst in ihrer inneren Richtigkeit, aber darin die tiefere Richtigkeit der sich in ihnen offenbarenden Freiheit, und in dieser nochmals etwas Abgründigeres: Freiheit schlechthin, den wolkenlosen Horizont, in den hinein jede persönliche Freiheit sich öffnet.
Es gibt im Wirken des menschlichen Geistes einen Grenzfall, den wir im Alltäglichen kennen: daß ein schaffender Geist sich nicht in Büchern, Tönen, Gemälden ausdrückt, sondern im Geist der Mitmenschen. Jeder Erzieher und Lehrer tut das. Der Geist des Kindes, des Schülers ist der Ton, dem jener sich einformt. Dann prägt sich die sprechende Subjektivität des Prägenden in der antwortenden Subjektivität des Geprägten ein und aus. Je stärker die letztere ist, desto tiefer nimmt sie die Prägung des Sprechenden auf, desto persönlicher reagiert sie aber auch darauf. Sokrates, der kein Wort geschrieben hat, prägt sich tiefer in Platon ein und aus als in Xenophon, auch wenn der erste persönlicher auf diese Prägung reagiert als der zweite. Es könnte sogar sein, daß in Platon sich etwas mehr von der in Sokrates waltenden «Socrateitas» äußert als in diesem selbst. Vielleicht ist es so, daß der Höhepunkt des sokratischen Daseins: Anklage, Selbstverteidigung, Tod, erst durch den Schüler ins Wort gehoben wurde – und zwar adäquat.
II. Jesus: Gestalt und Freigabe
Nach den neutestamentlichen Zeugen ist Jesus das abschließende, nicht überbietbare Wort, das Gott der Welt zu ihrem Heil zugesprochen hat. Ein Wort aber, das wesentlich bloßes Sprechen übersteigt, da es Wort als «Fleisch», als konkretes menschliches Dasein ist. Jesu ganzes Dasein ist Aussage Gottes, ein Dasein, das sich nach den Zeugen als ein dreisilbiges Wort artikuliert: Leben – Sterben – Auferstehen. Haben die Zeugen damit recht, dann stimmt auch ihre Aussage, daß sie während der Dauer des sterblichen Lebens Jesu den Sinn des Wortes, das er ist – von dem aber nur die erste Silbe gesprochen war – nicht verstehen konnten: «Sie verstanden nichts davon, und dieses Wort war vor ihnen verborgen und sie begriffen das Gesagte nicht» (Lk 18,34). Als sie die zweite und dritte Silbe vernommen hatten, ging ihnen das Verständnis auf, und sie begriffen gleichzeitig, daß Jesus sich schon damals grundsätzlich als Ganzer verstanden haben mußte, wobei wir es hier offenlassen können, ob er die Leidens- oder Auferstehungsweissagungen so formell geäußert hat, wie sie sie ihm auf die Zunge legen, oder nur andeutend, wie in anderen seiner Worte.
Wir stoßen hier wieder auf das anläßlich Sokrates beschriebene Phänomen, das aber bei Jesus eine ganz einmalige Form annimmt. Auch er schreibt nicht, sondern prägt seine Lehre (die er selbst ist: sein Dasein, sein Wirken und Unterweisen) seinen verschiedenen Jüngern ein. Dieses sein Wort ist aber weit entfernt, nur sokratische Überführung von einem Nichtwissen zu sein, es ist Wort aus der Höhe und Tiefe Gottes, das zunächst im Geist der Jünger nur offene Bereitschaft, Glaube verlangt und erwirkt. Glaube als apriorisches Fürwahrhalten dessen, was der Meister sagt. Doch wird dieser die ganze Subjektivität des Hörers erweckende Glaube das Wort in jedem persönlich widerhallen lassen, eine persönliche Antwort aufrufen, vielleicht wieder eine um so persönlichere, je zentraler das Wort die Seele eines Jüngers trifft. Der Liebesjünger wird mit einem tieferen Glockenklang geantwortet haben als die meisten anderen. Er wird nicht bloß den äußeren Ton von Worten gehört haben wie jene, die mechanisch «Aussprüche» (Logia) Jesu gesammelt haben, sondern von Anfang an in den Worten das Wort, das sich durch das ganze Sein des Meisters aussprach, mitgehört haben: in den Wegweisungen den Weg, in wahren Aussagen die Wahrheit, in lebendigen Anregungen das Leben. Andere werden nachträglich, als sie nach Ostern zum vollen Glauben kamen, gehörte Worte, erlebte Taten in neuer Beleuchtung und Tiefe aufleuchten sehen, und es ist nicht mehr auszumachen, wieviel von ihrem nachösterlichen Verständnis sie mit vollem Recht in die vorösterlichen Taten und Aussagen des Meisters projizierten, weil in ihnen die einst ausgestreute Saat aufgegangen war.
Im unauflöslichen Ineinander von Wort und Glaube, das alle neutestamentlichen Schriften kennzeichnet, drückt sich – bei aller Verschiedenheit der zeugnisgebenden Subjekte – zweierlei unverbrüchlich aus: einmal die unvergleichliche Prägekraft der Person und des Gehabens des Meisters; unerfindbare Einmaligkeit leuchtet auf selbst durch zeitgebundene Worte und Bilder hindurch, selbst dort, wo er alttestamentliche Vorbilder erfüllt, selbst und gerade dort, wo er schlichteste Alltäglichkeit für seine Gleichnisse verwendet. Sodann der Wille der Zeugen, mit ihrer ganzen Subjektivität nichts als Zeugen zu sein, auch das Unfaßlichste (wie die abschließende Gottverlassenheit), auch das Schmählichste (wie Verrat, Flucht und Verleugnung), auch das eigene Unverständnis, auch die scheinbar unnötigen Härten des Meisters seinen Feinden gegenüber nicht zu verschweigen.
Aus dieser Beschaffenheit der Zeugnisse ergibt sich bereits, daß es für uns keinen anderen Zugang zum Bezeugten gibt als den Versuch, sich auf das Zeugnis selbst einzulassen, um in der mit leidenschaftlicher Selbstentsagung sich zum bloßen Hinweis machenden Subjektivität der verschiedenen Zeugnisse das eine sich vielfach ausprägende Bezeugte wahrzunehmen.
Dies wird bestärkt durch eine zweite Feststellung. Wir verglichen Jesu ganzes Dasein mit einem dreisilbigen Wort. Nun ist es für ihn kennzeichnend, daß er, jedes Stadium ganz durchlebend, nichts vorwegnimmt, nichts übereilt. Im aktiven Leben ist er für sein Kreuz bereit, aber er antizipiert es nicht, noch weniger seine Auferstehung. Einzig am Vorabend vor seinem Leiden verfügt er bei der eucharistischen Verteilung seines Leibes über seine freiwillig übernommene Passion, nicht um sie vorweg zu beherrschen, sondern im Gegenteil, um ihre Hingabe zum endgültigen Akt seines Lebens in alle Zukunft hinein zu machen. Er weiß wohl – zutiefst daraus, daß seine irdische Sendung so unvollendet abbricht –, daß die zweite und dritte Silbe des Wortes, das er ist, erst das consummatum seines Auftrags bringen wird. Aber er legt diese alles entscheidenden Silben nicht selber aus, er überläßt mit einer fast unbegreiflichen Sorglosigkeit die Deutung des Wichtigsten an ihm der Zukunft: dem inspirierenden Geist und der von ihm inspirierten Kirche. Manducate, bibite ex eo omnes: in dieser Hingegebenheit gibt er sich frei in eine von ihm selbst nicht vollzogene Auslegung seiner selbst durch die Zeugen. Hauptzeuge ist der Geist, aber in ihm werden auch die Jünger bezeugen. «Er wird von dem Meinigen nehmen und es euch verkünden» (Joh 16,14), «er wird über mich Zeugnis ablegen, und auch ihr sollt Zeugnis ablegen, weil ihr von Anfang an bei mir seid» (Joh 15,26f.).
III. Das Wurzelgeflecht der Zeugen
Überblickt man das Konvolut der neutestamentlichen Schriften, so fällt als erstes ihre unsystematische Vielfalt auf. Geschichtlich stehen die Gelegenheitsbriefe Pauli am Anfang, die die eigentliche Belehrung (Katechese) der Gemeinden als geschehen voraussetzen und nur praktische Nachträge und gelegentliche Durchblicke in das Gesamtmysterium enthalten. Später folgen die synoptischen Evangelien, jedes mit seiner verschiedenen Optik an Jesus heran – an den Herrn, den Lehrer der neuen Tora, den Erbarmer verstreute kleine, zum Teil späte Briefe steuern Fragmente von Theologie bei, größere wie der Hebräerbrief rücken sie unter einen eigenen Gesichtspunkt, Johannes schließt die Reihe mit tiefsinniger Reflexion über Jesus als das ewige Sinn-Wort (Logos) ab, und die Apokalypse zeigt dessen Gegenwart und Auswirkung in der Gesamtgeschichte. Von nirgendwoher ist die Sammlung zu einer systematischen Einheit gebracht; das einzig Einigende ist der Instinkt der Kirche, die bei der Kanonbildung diese aus vielen anderen vorhandenen Dokumenten als die echten Zeugen auswählte.
Wiederum Approximationen verschiedenster Art, mit verschiedensten Denk- und Sprachbildern arbeitend, an ein zentrales Phänomen. Viele stehen völlig vereinzelt da – Hebräer zum Beispiel –, zuweilen lassen sich Abhängigkeiten feststellen – Mattäus und Lukas von Markus –, oder ein Dokument wird auf ältere, nicht mehr vorhandene Quellen durchsichtig. Anderseits gibt die vielfach zerklüftetete jüdische Theologie der Zeit Anlaß, für zentrale Aspekte (Christologie) an verschiedene vorliegende Schemata anzuknüpfen, die zunächst unverbunden nebeneinander stehenzubleiben scheinen.
Aber liest man die ganze Sammlung kursiv, so wird hinter aller Fragmentarität plötzlich eines evident: Alle diese Zeugen haben den gleichen Glauben, sie wollen ihn haben und sind sich bewußt, ihn zu haben. Sie bilden zusammen eine einzige Gemeinschaft, die sich gerade in zahlreichen Spannungen als eine solche bewährt, eine deutliche Grenze zwischen Innen und Außerhalb kennt und im Innern vielfache Beziehungen unterhält. Diese Beziehungen scheinen in keiner Weise durch die Verschiedenheit theologischer Ansatzpunkte gestört zu werden.
Es gibt zwischen den Verfassern von Schriften oder den Personen, die solche beeinflußt haben können, ein Geflecht wie von sich durchkreuzenden Baumwurzeln im Wald. Man nehme eine Gestalt wie Barnabas von Zypern, der mit den Uraposteln zusammen ist (Apg 4,36f.), dann Paulus diesen zuführt (9,27), von ihnen nach Antiochien gesandt wird, wohin er Paulus aus Tarsus zurückholt und mit ihm ein volles Jahr unterrichtet (11,25f.), beide als «Propheten und Lehrer» sich auszeichnend (13,1). Er begleitet Paulus auf der ersten Missionsreise und zum «Apostelkonzil» (15,2ff.), schlägt sich aber, nach Antiochien zurückgekehrt, anläßlich der Frage der Tischgemeinschaft, auf die Seite des Petrus (Gal 2,13), weshalb sich Paulus von ihm trennt, während Barnabas mit Markus in seine Heimat Zypern fährt (15,39), aber doch nochmals als Mitarbeiter Pauli in Korinth erwähnt wird (1 Kor 9,6). Zweifellos war das gemeinsame Jahr in Antiochien so etwas wie die Wiege und Ausformung der paulinischen Theologie. Und wie stark betont Paulus, daß er sich in Jerusalem mit den «Maßgebenden», den «Säulen», Jakobus, Kephas und Johannes abgesprochen hat (Gal 2,6-9), wie intensiv wird beim Apostelkonzil nach einem Ausgleich in der schwierigsten Frage der Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen gesucht – ein Ausgleich, der mitten durch Pauli Herz geht (1 Kor 9,19ff.) und ihm zuletzt (Apg 21,17ff.) Freiheit und Leben kostet. Die Einheit des Glaubens (auch in einem Jakobus) hat für ihn den Primat über «mein Evangelium» (2 Tim 2,8).
Der eine Glaube, der alle Lehransätze der Kirche durchwaltet, hat gewiß von der Damaskusvision, drei Jahre nach Christi Tod, in der Paulus Jesus als glorreiches Haupt der Kirche und des Alls, aber zugleich als fürleidendes für seine bedrängten Glieder erblickt, das «große Mysterium», eine große Bereicherung erfahren, die sich durch alle Schichten des Neuen Testaments hinein ausbreitet und von der zweiten und dritten Silbe des Gotteswortes her neues Licht auf die erste wirft: die vorösterliche Verkündigung Jesu. Wir sprachen von seiner Diskretion, da er nicht vorweg die Theologie des Sühnetodes und seiner eucharistischen Auferstehung geben wollte. In Damaskus war der volle Sinn, nach dem sogleich nach der Auferstehung gesucht wurde, vollends offenbar. Johannes wird ganz daraus denken und leben. Aber war er nicht schon in den Einsetzungsworten gegenwärtig? Falls diese nicht authentisch wären, wer hätte gewagt, sie zu erfinden? Warum hätte man die Passionsgeschichte so früh, noch vor den Logia, verfaßt, wenn man nicht in diesem äußersten Ärgernis das entscheidende Heilsereignis erkannt hätte? Mattäus, der Jesus als den neuen Gesetzgeber schildert, verfehlt nicht, seinen Text mit Reflexionszitaten zu durchsetzen, die auch den Liedern vom stellvertretenden sühnenden Gottesknecht entnommen sind. Und worauf sollte sich das lukanische, auf die Propheten verweisende «mußte nicht Christus leiden» beziehen, wenn nicht auf dieselbe Notwendigkeit der Sühne?
Die Kirche, die aus den verstreuten neutestamentlichen Schriften den Kanon bildete, erkannte in ihnen allen den gleichen bezeugenden Glauben, der nur von einem gemeinsamen Heiligen Geist eingegeben und beisammengehalten sein konnte. Alle zwischen den Schriften feststellbaren Gegensätze konnten deshalb niemals Widersprüche sein, sondern nur von verschiedenen Seiten auf die Einheit des Geglaubten hinweisen. «Diese Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Voraussetzung, die mit der Inspiration und Kanonizität des NT … zusammenhängt. Aber diese Einheit ist deshalb doch eine reale und nicht so verborgen, daß sie nicht bis zu einem gewissen Grade ins Bewußtsein gehoben werden könnte.»1 Heinrich Schlier, der dies sagt, fügt zweierlei bei. Erstens wird man dieser sich entbergenden Einheit nur begegnen, wenn «man sich, mit und unter der Anwendung der historisch-philologischen Methode, zugleich auf die Wirklichkeit einläßt, die aus den Texten des NT begegnet. Dieses Sicheinlassen geschieht aber im Glauben. Die philologisch-historische Methode genügt im übrigen nie, um einen geschichtlichen Text zu erschließen. Wer Plato allein philologisch-historisch interpretierte, sich dabei aber nicht auf sein Denken einließe und, da sein Denken kein isolierter Vorgang ist, nicht seine Erfahrung zu teilen versuchte, bekäme nie die Wirklichkeit zu Gesicht, die Plato selbst entdeckt hat und aus der er lebte und dachte.»2 Sich auf die Aussage des Textes einlassen, heißt: ihn nicht von vornherein mit der eigenen Wahrheit überspielen. Zweitens verweist Schlier auf die alle Schriften des Neuen Bundes durchziehenden Formeln der Homologie, der bekennenden und Glaubensformeln der Gemeinde als «erster Schicht urchristlicher Theologie» noch vor aller Differenzierung deutender Approximationen des Mysteriums. Der gemeinsame Glaube hat sich somit von vornherein auch einen gemeinsamen Ausdruck verschafft. Es gibt auf das «Urwort» «die Urantwort der sich ihm öffnenden Gemeinde».3
IV. Polyphonie
Das Neue Testament bietet keine systematische Theologie, sondern nur Ansätze zu einer solchen. Aber sie bietet nicht beliebige Ansätze, sondern durchaus maßgebliche für jeden Versuch, durch meditative Vertiefung in die einzelnen Zeugnisse und durch deren Zusammenschau das hinter allen Texten liegende Mysterium besser zu umfassen. Will man den Weg von den maßgeblichen Hinweisen der Schrift zu einer kirchlichen Theologie verfolgen, so muß man sich zuallererst bewußt bleiben, wie sehr das Zentrum auch des offenbarten Mysteriums eben Mysterium bleibt. Je näher das Licht des «unzugänglichen» Gottes uns rückt, um so begreiflicher wird uns seine Unbegreiflichkeit. Wir sind es, die von ihr ergriffen und begriffen werden (1 Kor 13,12; Phil 3,12; 1 Kor 8,3; 2 Kor 5,11).
Die zentralen Geheimnisse unseres Glaubens bleiben für den irdischen Verstand undurchschaubar, so in der Christologie das Wie der Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus, in der Trinität das Wie der Einheit der Gottnatur und der drei Hypostasen, in der Ekklesiologie das Wie der Kirche als Leib Christi aus lauter «denkenden» und freien Gliedern (Pascal). Oft scheinen gegensätzliche Annäherungen dem oberflächlichen Blick unvereinbar, aber sie enthalten keinen Widerspruch, sondern bilden notwendig komplementäre Aspekte des Mysteriums. Eine Christologie, die bei der menschlichen Persönlichkeit Jesu von Nazaret einsetzt, ist ebenso unentbehrlich wie eine solche, die seine menschliche Sendung und sein ganzes Geschick durchsichtig werden läßt auf das göttliche Mysterium, als dessen Darstellung dieser einzigartige Mensch sich weiß. Und tiefer: die im Menschen Jesu sichtbare «Niedrigkeit» (Mt 11,29), seine Verwerfung, seine Passion stehen nur dann in einem unfaßlichen Gegensatz zu seiner Hoheit, wenn man von einem oberflächlich alttestamentlichen Gottesbild ausgeht, in welchem Jahwe als lauter geballte in sich behaltende Kraft über der hinfälligen Menschheit erscheint, während der Vater Jesu Christi in seiner ewigen Gottheit die absolute Hingabe an den Sohn und mit ihm nochmals an den Geist ist; was wir als «Kenose» zu bezeichnen gewohnt sind, ist, vom trinitarischen Gottesbild her betrachtet, ein zur verlorenen Welt hin geöffneter Akt, der die Bedingung seiner Möglichkeit in diesem (gewiß ganz anders gearteten) trinitarischen Urgeschehen hat. Aber dieses ewige Liebesgeschehen steht nicht in Spannung oder Gegensatz zur göttlichen Allmacht; diese gewinnt sich nicht etwa erst dialektisch durch einen hegelschen Prozeß hindurch, vielmehr ist die sich hingebende Liebe immer schon unmittelbar identisch mit der höchsten aller Mächte.4 Hat man dies einmal in den Blick bekommen, dann erteilen erstmals die abschließenden Sichten der Bibel – durchaus schon von den alttestamentlichen eingeleitet – Antwort auf die bedrängenden Menschheitsfragen über den Sinn von Abhängigkeit, von Leid, von Tod; die Anklagen Nietzsches oder Marx’ gegen Gott rennen gegen einen Begriffspopanz an, die protestantische Dialektisierung der Erlösungsgestalt Gottes wird überflüssig. Um wieder zur Christologie zurückzukehren: Die Weise, wie Jesus Christus sich gibt – zugleich in ungeschützt-verwundbarer Zugänglichkeit und in unvergleichbarer Hoheit –, ist unmittelbar die Vergegenwärtigung der Eigenart des in ihm ankommenden Reiches Gottes des Vaters. Sie ist keine Entfremdung Gottes in eine Knechtsgestalt, die (bei der Auferstehung) aufgehoben werden müßte in eine gegenteilige Herrschaftsgestalt hinein; was in Jesus Christus sich bis in das Knechtsein hinab erniedrigt, ist immer schon das Kind, dessen Seligkeit es ist, dem Vater seine Dankbarkeit zu bezeugen (Mt 17,25ff.; Joh 8,35f.). Das griechische pais faßt beide Bedeutungen zusammen, es kann in der Taufepiphanie anstelle von «Sohn» (hyios) gestanden (Lk 3,22) und so auf die Einheit von Gottesknecht (Jes 32-53) und Gottessohn hingewiesen haben. «In Wahrheit frei» (Joh 8,36) ist nicht, wer sich nach Marx niemandem verdanken darf, vielmehr wer sich ewig dem «verdankt» (eucharistein), der ihn freigegeben hat. Wenn also das Kind aus freier Liebe sich zum Knecht gemacht hat, wird es, die Wahrheit dieses «Abstiegs» offenbar machend, sich nicht in einem umkehrenden «Aufstieg» in sich selber zurücknehmen, sondern die eucharistische Hingegebenheit als seine Herrlichkeitsgestalt beibehalten.
Aber nochmals ist diese Herrlichkeitsgestalt, wenn nunmehr das Verhältnis Christus – Kirche bedacht wird, nicht eine Form der sich über alles Menschliche ausbreitenden Domination, als ob der erhöhte Herr nunmehr die Glieder seines mystischen Leibes für sich selber in Beschlag nehmen wollte, vielmehr ist seine Erhöhung zugleich Frei-Gabe und Eröffnung eines der menschlichen Freiheit gewährten Geschichtsraumes. Freilich: das Frei-Sein ist Gabe («ohne mich könnt ihr nichts tun»), aber die Gabe gibt wirklich jedem sein Eigenstes, seine Sendung: «Der hinaufstieg über alle Himmel… bestimmte die einen zu Aposteln… andere zu Hirten und Lehrern… zum Aufbau des Leibes Christi… bis wir zur Vollreife des Mannesalters Christi gelangen» (Eph 4,10ff.). Die in anvertrauter Freiheit zu erfüllende göttliche Sendung gibt jedem Menschenleben eine Sinnerfüllung, die es aus den eigenen geschöpflichen Beständen vergeblich anstreben würde. Damit wird auch die scheinbare Paradoxie der Kirche Christi als unwidersprüchlich sichtbar: Sie ist sein Organismus, aber so, daß jedes Glied zugunsten des Ganzen die ihm persönliche anvertraute Sendung in Freiheit – und insofern in «Autonomie» – ausführen kann. Der unsichtbare und der sichtbare Aspekt dieser Kirche bedingen einander gegenseitig.
Beginnt man diese Zusammenhänge zu sehen, dann erscheint die fragmentarische neutestamentliche Theologie gleichzeitig als ein ungeheurer Impuls, der die Glaubenden in den unschließbaren Raum einer immer größeren Wahrheit hinausstößt. Dann dünken die geschenkten Fragmente wertvoller als ein (nur für einen beschränkten Verstand als wünschbar erscheinendes) «geschlossenes» System. Sy-stēma heißt ein Zusammen-Stehen, so wie leuchtende Punkte, durch dunkle Räume getrennt, ein Sternbild ergeben, wobei doch jeder Punkt auf tausend andere verweisen kann und uns die Freiheit unendlicher Kombinationen beläßt.
Nach dem Gesagten sehen wir keinen Anlaß mehr, den klaren, überlieferten Begriff einer «Pluralität» von neutestamentlichen Zugängen zum Offenbarungsmysterium durch den unscharfen Slogan «Pluralismus» zu ersetzen. Für Leser und auch Forscher, die weder die Vereinbarkeit verschiedener Ansätze noch deren Konvergenz auf das eine Mysterium noch schließlich die substantielle Einheit der neutestamentlichen Zeugen und der Kirche, deren Glauben sie ausdrücken, zu sehen vermögen, wird man den Gebrauch dieses modischen Wortes konzedieren müssen. Es ist dann ein Ausdruck, der das Stehenbleiben auf einer initialen Stufe der Reflexion ausdrückt und das von den neutestamentlichen Schriften gestellte hermeneutische Problem noch gar nicht zu Gesicht bekommt: das nicht nur faktische, sondern vom Gegenstand her geforderte Ineinander von Offenbarung und Glaubenszeugnis. Wie man das Problem sachgemäß angehen und meistern kann, zeigt heute am eindrücklichsten Wilhelm Thüsing in seinem auf drei Bände berechneten Werk «Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus»,5 worin mit größter Umsicht die vor- und nachösterlichen «Strukturkomponenten» unterschieden und aufeinander zu bewegt werden. Aber nochmals sei auf das von den Evangeliumsforschern so oft vernachlässigte Damaskusereignis hingewiesen, durch das die ersten und vielfältigen Denkansätze zur Bewältigung des Gesamtphänomens Jesus von Nazaret kurze Zeit nach der Auferstehung einen gewaltigen Impuls zu ihrer Einigung erhalten haben. Es ist deshalb abwegig, die paulinische Synthese als eine «späte Christologie» zu bezeichnen, sie gehört vielmehr zu den einheitstiftenden Grundlagen des kirchlichen Glaubens, zu dessen Abrundung und Konkretisierung die Evangelien Zusätze liefern werden, deren Kernsubstanz von Anfang an in der apostolischen Predigt enthalten war.
Fügen wir ein Letztes hinzu. Neben denen, die um der Problematisierung der Gestalt Jesu willen an einem christologischen «Pluralismus» interessiert sind, finden sich solche, denen um der Problematisierung der Kirchenstruktur willen an einem «Pluralismus» von Gemeindestrukturen gelegen ist; meinen sie doch, die am Ende des apostolischen Zeitalters klar heraustretende Form auf die noch flüssigen, werdenden Strukturen hin hinterfragen zu können, die (angeblich) in den apostolischen Briefen durchscheinen. Diese übersehen zumeist die beherrschende Gestalt des hl. Paulus, der einstweilen als «Bischof» die von ihm begründeten Gemeinden leitet und zudem seine Mitarbeiter als seine Stellvertreter in sie absendet und wünscht, daß sie mit der gleichen Ehrfurcht und Ergebenheit aufgenommen werden wie er selbst. Außerdem wünscht er, die Gemeinde solle sich denen, die sich um das Wohl der Gemeinde «abmühen», «unterordnen» (hypotassesthai). Der Erste Klemensbrief an die Korinther am Jahrhundertende verlangt ausdrücklich «Gehorsam» (59,1). Eine «demokratische» Gemeinde hat es nie gegeben. Zudem ist der Verkehr zwischen den Gemeinden – auch den judenchristlichen und heidenchristlichen – rege genug, um eine qualitativ verschiedene Gemeindestruktur zu verunmöglichen.
Paulus ist in allen Gemeinden um ihre geistige Einheit besorgt, und dies durchaus nicht nur innerhalb jeder einzelnen Gemeinde, sondern mit dem ausdrücklichen Ziel, den ganzen Leib der Kirche gerade auch durch die Einheit der Glaubenslehre «in jeder Hinsicht» zu seiner Vollreife in Christus heranwachsen zu lassen (Eph 4,12ff.).
- H. Schlier, Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments. In: Besinnung auf das Neue Testament. Freiburg i. Br. 1974, S. 7-24, hier 19.↩
- Ebd., S. 11.↩
- Ebd., S. 15.↩
- Vgl. Robert Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes «Gott». In: Einsprüche. Christliche Reden. Einsiedeln 1977, S. 13-35.↩
- Bd. 1: Kriterien. Düsseldorf 1981.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Einheit und Vielheit neutestamentlicher Theologie
Ottieni
Temi
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo