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Exegese und Dogmatik
1. Scheinbare Aushöhlung der Dogmatik
Viele christliche Laien sind durch die unaufhaltsamen Vorstöße der modernen Exegese und durch die anscheinend dadurch bedingten Rückzüge, ja Lähmungen der Dogmatik tief beunruhigt. Auf welchem Text der Evangelien (um diese geht es vor allem) man auch stehen und ruhen möchte: irgendein Kritiker zieht ihn uns unter den Füßen weg. An gesicherten Worten und Wundern Jesu scheint beinah nichts zu bleiben. Der allgemeine biographische und geographische Rahmen seines Lebens ist schon bei Markus redaktionell (Johannes gliedert vollkommen anders). Es fallen ungefähr alle Selbstaussagen: Jesus predigt nicht sich selbst, sondern das sich verwirklichende Reich Gottes. Es fallen die Hoheitstitel (Messias = Christos, Sohn Gottes, Kyrios); nur «Menschensohn» ist noch heftig umstritten, gilt für viele aber längst als sekundär eingezeichnet. Es fallen eine Großzahl der Wunder, zumal die Naturwunder, auch wenn manche Heilungen unbestreitbar sind. Es fallen die Einkleidungen einzelner überlieferter Aussprüche in (pseudo-)geschichtliche Szenen, und von den Sprüchen (Logia) gilt fast durchwegs, daß sie nachträglich in andere Sinnzusammenhänge transponiert wurden, wie es sich an der verschiedenen Behandlung der aus der «Redequelle» (Q) stammenden Worte bei Lukas und Mattäus mit Händen greifen läßt. Will man Jesus nicht unerträgliche Widersprüche zumuten, so muß man manche seiner Worte (zum Beispiel die abschließende Aussendung der Jünger in alle Welt, oder die Voraussetzung, vor dem Weltende müsse das Evangelium allen Völkern gepredigt werden) als Einzeichnungen der Gemeinde ausklammern. Wieviel von der Passionsgeschichte schon früh (vormarkinisch) nach alttestamentlichen Motiven ausgestaltet wurde, um dann später von Mattäus mit einem «gemäß den Schriften» glossiert zu werden, ist schwer zu sagen. Das klassische Motiv des leidenden und von Gott geretteten Gerechten war im späten Judentum zu dem eines mit Sühnewirkung für das Volk ungerecht verurteilten Martyrers oder Wehrlosen («Armen») intensiviert worden: wie weit hat dieses Motiv auf die Deutung des Kreuzes in der Urgemeinde, bei Paulus, schließlich in den Evangelien («Lösegeld für die Vielen») eingewirkt?
Wer mit form- und redaktionsgeschichtlich geschulten Augen den Evangelientext liest, stößt bei jeder Perikope, oft bei jedem Vers auf Risse, Nähte, Flickwerk, künstliche Verklammerungen und «Verwerfungen» geologischer Schichten; hinter fast jedem Wort liegt eine dramatische Geschichte, die sich meist in den vordersten Schichten aufklären läßt, sich aber dann, je näher man der Urform, dem Reden, Tun und Sein des historischen Jesus kommt, ins Unsichere, zuweilen in ein völliges Dunkel entzieht. Der einfache Glaubende kann, als Leser und Beter, über diese Schwierigkeiten hinweg auf den Heiligen Geist vertrauen, der das Ganze der Schrift inspiriert hat: somit wird sie einen hinreichend sicheren Boden für den christlichen Glauben abgeben, wie sie sich ja von vornherein als ein Dokument des Glaubens und Bekennens der Urkirche vorstellt. Aber gerät man damit nicht in einen bösen Zirkel: Glaube damals und Glaube heute kreisen umeinander, während die exegetische Forschung aufzudecken versucht, worauf dieser Glaube ursprünglich aufruht: vielleicht doch auf tönernen Füßen? Hat er nicht doch das Offenbarungswort so geformt, um sich selbst zu rechtfertigen? Dogmatik wird jedenfalls auf diesen Verdacht sehr ausdrücklich zu reflektieren haben, wenn sie ihr Haus nicht auf Sand bauen will.
2. Der harte Kern
Dennoch, hinter allen nachösterlichen Übermalungen hebt sich ein harter Kern historischer Wahrheit ab: Daß Jesus sub Pontio Pilato gekreuzigt wurde, verdankte er ohne jeden Zweifel seinem für jüdische Ohren unerträglichen Anspruch, der – sogar der Tora überlegene – Ausleger des Willens und der Weisung Gottes zu sein, Gott so personal zu vertreten, daß er Sünden zu vergeben sich anmaßte, überhaupt im Namen Gottes die Partei der Sünder ergriff gegenüber denen, die durch ihren Gesetzeseifer sich selbst vor Gott zu rechtfertigen suchten. In diesem Anspruch war die Härte des Nein gegenüber aller Selbstrechtfertigung nur die Kehrseite der Milde des Ja für jeden, der sich demütig-vertrauend der Barmherzigkeit Gottes überantwortet. Jesu «Verhalten» war Abbildung Gottes, was in Echtheit nur möglich war aufgrund eines absolut einmaligen Auftrags von Gott her; sonst hätte er (wie eines seiner zweifellos echten Worte sagt) «mit Beelzebub die Dämonen ausgetrieben». Mit seinem Dasein war – nach seiner zentralen und sicher authentischen Verkündigung – Gottes Herrschaft in der Welt «am Kommen». Weder einfach schon da, noch künftig ausstehend, sondern «im Anbruch», «auf der Türschwelle»; zwischen ihm und dem kommenden Reich war für keinen weiteren Propheten mehr Platz.
Der Anspruch war unerträglich, viel unerträglicher als der eines der früheren Propheten, deren Schicksal Jesus das seinige anreiht. Wieweit er gehofft haben mag, mit seiner Sendung in Israel durchzudringen, darf dahingestellt bleiben; es gibt, schon rein menschlich gesehen, die Möglichkeit, etwas zu erhoffen, von dem man tiefer weiß, daß es nicht verwirklichbar ist. Es gibt im Leben Jesu einerseits eine begrenzte Aufgabe für die Zeit seines aktiven Wirkens: «die verlorenen Schafe Israels», und anderseits eine unbegrenzte Aufgabe für die Gesamtzeit seines Menschseins: mit johanneischen Worten: alle an sich zu ziehen, «nicht nur das Volk, sondern die zerstreuten Kinder Gottes zu sammeln und zu einen». Die kaum wegdeutbaren Eucharistieworte: «vergossen für euch und die Vielen» zeigen diese Stufung. Sowenig seine öffentliche Sendung ein Privatunternehmen war, sondern Darstellung Gottes im Auftrag, sowenig ist sein Sterben ein privates, vielmehr Vollendung dieser Gottesdarstellung: das Geschehen «am dritten Tag» zeigt dem Glauben, daß Gott zu seinem «Ausleger» stand, daß also seine Darstellung nicht nur richtig, sondern für die Welt im ganzen wirksam und endgültig war.
Man spricht hier von «impliziter Christologie» und meint mit Recht, sie sei inhaltsträchtiger als jede Umsetzung in explizites Wort. Wenn das stimmt – und es stimmt! –‚ so ist damit sowohl der Exegese wie der Dogmatik wie ihrem gegenseitigen Verhältnis Form und Gesetz zugewiesen. Dabei ist als oberster Grundsatz festzuhalten: das Wort, das Gott in Jesus der Welt zuspricht («das Wort ist Fleisch geworden»), ist erst mit Kreuzigung und Auferweckung zu Ende gesprochen. Die Worte und Taten des sterblichen Menschen Jesus sind nur ein Bruchteil dieses Wortes. Wem die Aufgabe zufiel, diesen Bruchteil in das Gesamt-Wort zu integrieren – dem Auferstandenen selbst oder dem Heiligen Geist oder dem Glauben der Urkirche oder den Formulierern jenes Wortes, das zuletzt zum ausgeformten Evangelium werden sollte – der mußte auf jeden Fall eine Transposition vornehmen. Von hier verstehen wir auch – und werden es noch näher ausführen –‚ inwiefern für Jesus selbst das Reich Gottes in seinem irdischen Dasein «erst» am Kommen, «erst» angebrochen war: Nur sein eigenes Schicksal, das er nicht mehr aktiv gestalten, dem er sich nur noch überantworten konnte, würde das Reich in ein «gekommenes», ihn aber in das «Reich selbst» (die «autobasileia») und damit aus dem Verkünder in den gleichzeitig Verkündeten verwandeln.
3. Folgerungen für die Exegese
«Individuum ineffabile»: Einmaliges läßt sich sprachlich nur durch approximierendes Einkreisen mit Hilfe allgemeiner Begriffe und Vorstellungen ausdrücken. Das wird doppelt wahr, wo durch einen einmaligen Menschen hindurch der unaussprechliche Gott spricht; nicht als fehlte ihm, wenn er sein Wort in die Welt schickt, die Möglichkeit, sich verständlich zu machen, aber die Menschen werden dieses eine, die Fülle Gottes «leibhaftig» in sich bergende Wort nur durch prinzipiell unabschließbare Annäherungen hindurch verstehen. Gibt es also keine adäquate Aufnahme des göttlichen Wortes, bleibt es beim Vagen, Ungefähren? Nein, adäquat ist das Ja des Glaubens und der Selbstüberantwortung dort, wo es im Heiligen Geist vorbehaltlos gesprochen wird. Dieses Ja gilt dem Wort als Person: Was Du sagst und bist, ist die Wahrheit. Was dagegen vom ausgesprochenen Wort verstanden wird, ist immer nur ein Bruchteil dessen, was (mit)gemeint ist und (mit)bejaht wird.
Wenn Jesus zu den Juden redete, mußte er sich der mannigfachen Vorverständnisse ihrer Zeit bedienen: des Gesetzhaften, des Prophetischen, des Weisheitlichen, des Apokalyptischen; selbst Hellenistisches darf in seinem und ihrem Horizont vorausgesetzt werden. Diese Formen des Vorverständnisses liegen nicht leblos nebeneinander: sie sind ineinander verschmolzen; alle Seiten können, um die einmalige Aktualität der Botschaft auszudrücken, bis zum äußersten beansprucht werden. Trotzdem bleiben alle Vorverständnisse im Vorraum, von jedem her gibt es einen Zugang, aber keines faßt die Sache selbst und im ganzen. Man muß sich klar sein, daß das nicht nur für die unmittelbaren Zuhörer und Zuschauer Jesu gilt, sondern auch für jene, die nach Ostern mit neuen Augen des Herzens auf sein irdisches Leben und Wirken zurückblicken. Schwerlich wurden ihnen neue Worte Jesu vom Heiligen Geist eingegeben: sie mußten mit dem haushalten, was ihnen von damals, da sie eingestandenermaßen noch kaum etwas verstanden, haften geblieben war: einzelne Aussprüche (die sie jetzt stichwortartig wie Rosenkranzperlen aufreihen oder wie Edelsteine in eine [«formgeschichtlich» definierbare] Fassung setzen), einzelne Taten, die sie vielleicht auf den kontrastierenden Hintergrund des Alten Bundes (Elija- und Elischawunder zum Beispiel) zur Geltung bringen, Fragmente, die sie in den jetzigen Zusammenhang ihres Gemeindelebens einfügen, um ihnen eine mehr als nur situationsbedingte Lebendigkeit zu sichern, die sie, wie sie wissen, in sich haben. Dabei müssen sie eben transportieren, um der Aktualität des göttlichen Wortes treu zu sein. Ein paar fast oder ganz unverständliche Worte übernehmen sie mit; wer weiß, ob sie vielleicht doch irgendwann irgendwer verstehen wird.
Sie haben zwar jeweils ihren Plan, sie spannen einen Rahmen, um darin die Mosaiksteine zu ordnen, aber der Rahmen ist weit genug, auch einigermaßen Disparates einzubergen. Sie schleifen die rohen Diamanten, jeder auf seine Art, und indem sie es auf verschiedene Weise tun, geschieht beides: die Steine leuchten innerhalb ihrer Fassung, aber sie haben durch das Abschleifen auch etwas von ihrer Substanz verloren. Sie werden durch ihre Form, in die sie gebracht, oder durch die Umgebung, in die sie eingesetzt werden, festgelegt. Solche Transposition ist notwendig ambivalent; damit wir das (als unvermeidlich) einsehen, gibt es nicht ein, sondern vier Evangelien, die sich auf keine höhere Synthese zurückführen lassen. Die einzige Synthese und damit das Maß, woran gemessen werden kann und muß, ist einerseits das personale Wort Gottes als sprechendes und gesprochenes, anderseits der kirchliche Glaube, als Akt (fides qua) und als elementarer Inhalt (fides quae), der da sagt: «Jesus (ist der) Christus», oder «Das Wort (Gott) ist Fleisch (Mensch) geworden», oder: «Gott ist die Liebe (was er in der Hingabe seines Sohnes bewiesen hat)», oder: «Wer den Herrn nicht liebt, sei im Banne» usf. Es sind elementare Bekenntnisse zum Inhalt der von Gott gewirkten Synthese zwischen Leben, Tod und Auferweckung Jesu, und der ebenso von Gott gewirkten Synthese zwischen diesem totalen Wort und dem Glauben der Kirche.
Hier hat alle Exegese ihr Maß. Sowohl dann, wenn sie damalige Horizonte (Vorverständnisse) und deren Auswirkungen im Text aufdeckt, ihre Verträglichkeit oder Spannung untereinander zeigt, wie dann, wenn sie damalige Horizonte in heutige zu transponieren sucht, wobei ihr vor Augen zu stehen hat, daß der maß-gebende Glaube keinen Gewichtsverlust erleiden darf. Daß dies möglich sein muß, dafür bürgt der Heilige Geist, der jederzeit neu in die Ganzheit der ursprünglichen Wahrheit einführt. Es gibt Exegeten genug, die ihr Geschäft vollkommen sachlich und kompromißlos betreiben, sofern sie das ihnen von der Selbstaussage ihrer Texte objektiv gesteckte Maß als das innerlich an-gemessene empfinden und ihre Arbeit im Heiligen Geist verrichten. Sie haben dann eine ihrer Methode selbst sachlich implizite Theologie, keine von außen herangetragene, sondern eine aus dem Gegenstand selbst eruierte, von ihm angeforderte. Ihre Philologie ist gerade darin sachlich, daß sie sich methodisch durch den Sinn des Textes leiten läßt. Man könnte hier den Namen Erasmus nennen.
4. Folgerungen für die Dogmatik
Jedes Buch der Schrift enthält schon seine Theologie, und sofern es eine bestimmte Perspektive an die Wahrheit heran enthält, seine bestimmte Theologie. Oft genug ist diese selbst schon der Ausgleich und die Synthese verschiedener Traditionen. Indem alle Bücher die Wahrheit Christi umkreisen, konvergieren sie auf ihn, ihre einzig mögliche Synthese. Deshalb werden Handbücher «neutestamentlicher Theologie» nie anders können, als nacheinander zuerst die (erschlossene) urkirchliche, dann die paulinische, markinische, lukanische etc. Theologie behandeln und ihre Kon- und Divergenzen aufzeigen. Die Synthese ist übergeschichtlich, weil Christus auferstanden und zum Vater «zurückgekehrt» ist, aber sie ist durch die Geschichte hindurchgegangen und enthält sie in sich, bleibt im Heiligen Geist auch als ganze in jeder geschichtlichen Situation neu aktuell.
Darüber kann Dogmatik (Theologie überhaupt) immerfort reflektieren, ohne sich deshalb anmaßen zu dürfen, sich selbst als die maßgebende Synthese hinzustellen. Sie wird sich von der Schrift her als der für die Kirche maßgebenden und darin nicht überholbaren Gestalt des Wortes Gottes zeigen lassen, daß in dieser sowohl der irdische Jesus wie der erhöhte Kyrios spricht, bei den Synoptikern so, daß Worte und Taten des irdischen Jesus vom Verständnisglanz des Osterlichtes übergossen werden, bei Johannes so, daß beide, der irdische Jesus und der erhöhte Kyrios als ein und dasselbe Subjekt restlos «ineinanderprojiziert» sind. Sie wird sich angesichts dieser Wortgestalt hüten, die Texte wie innerweltliche, gleichsam nur zweidimensionale zu lesen und zu deuten, sondern ihnen ihre unvergleichliche Perspektivität lassen.
Anderseits wird Dogmatik aus der Geschichte des kirchlichen Glaubens lernen, in welcher Richtung sie auf ihre zwar nie vollendbare, aber für den kirchlichen Glauben wenigstens inchoativ aufzuzeigende Synthese hin zu schreiten hat. Der Kirche ist ein Gespür für die Integrität des Glaubens eingestiftet, das seine Basis im gesamten Volk, seine Spitze im «weidenden» und «die Brüder stärkenden» Amt hat. Die autoritativ in bestimmten Situationen ergehenden Abgrenzungen (De-finitionen) sind zum Schutz des auf die totale Wahrheit offenbleibenden Glaubens da, damit er sich nicht auf eine innerweltlich verkürzte Einzelperspektive einenge und auch die zahlreichen Aspekte nicht vergesse, die die kirchliche Tradition teils unverkürzt weitergibt, teils durch Reflexion aus der Fülle der in der Schrift eröffneten Offenbarung gewonnen hat. Theologie, insbesondere Dogmatik hat als Anstrengung des Verstehens immer die gefährliche Tendenz, die entscheidende Synthese und Integration selber zu vollbringen und darzustellen, deshalb Schrifttexte als «geschlossene» zu lesen und Definitionen mit erschöpfenden Sätzen zu verwechseln. So betriebene Dogmatik erzeugt praktische Integralisten, die, wenn sie ihre Position extrem verstehen, ihr integrales, das heißt lückenloses System an die Stelle des unendlich offenen Systems Gottes setzen müssen.
5. Exegese und Dogmatik zusammenwirkend – beispielhaft dargestellt
Wie sehr die moderne Exegese der heutigen und künftigen Dogmatik als Mahnmal gegenüber einer gradlinig und apriorisch vorandrängenden Spekulation vonnöten ist, wie wenig sie aber in ihrem eigenen Geschäft die Dogmatik entbehren kann, mag abschließend an einem besonders schwierigen Beispiel erläutert werden, dem des Bewußtseinshorizontes Jesu. Der Horizont eines echten Menschen – und Jesus war einer – ist notwendig endlich. Nun aber zeigt eine größere Anzahl von Texten unwiderleglich, daß Jesus die Ankunft des Reiches Gottes und damit das Weltende für die nächste Zukunft erwartet hat; «einige der hier Stehenden» werden dieses Ereignis vor ihrem Tod erleben. Die Ausflucht, diese «apokalyptische Naherwartung» von Jesus abzuwälzen und sie erst der Urkirche zuzusprechen, ist wohl ungangbar. Man hat mit allen Mitteln versucht, aus einigen Texten bei Jesus selbst die Annahme einer «Zwischenzeit» zwischen seinem Tod und seiner Wiederkunft herauszulesen, u. E. ohne durchschlagenden Erfolg, da es sich fast sicher um späte Traditionsstufen oder Interpretamente oder kirchliche Arrangements (zur Erklärung der Parusieverzögerung) handelt. Hat also Jesus sich getäuscht und – was beinah schlimmer ist – die Urkirche zu ihrer eindeutigen Naherwartung verführt? Viele, und nicht nur liberale Exegeten, geben dies angesichts der Textlage unumwunden zu. Kann der Dogmatiker sich mit einer solchen Auskunft zufriedengeben, oder muß er nicht von seinem Verständnis Jesu als der authentischen Auslegung Gottes her eine Deutehilfe liefern? Und kann er es, ohne den Texten einen Maulkorb anzuhängen?
Wie, wenn Jesus für sich selbst vollkommen recht gehabt hätte? Der letzte Horizont (sagt der Dogmatiker), aus dem er spricht, ist nicht die allgemeine zeitgenössische Apokalyptik, sondern der ungeheuerliche Auftrag seines Vaters, die Versöhnung der Welt im ganzen mit Gott zu erwirken, mit der Welt «fertig zu werden», ans Ende der Welt zu gelangen. Johanneisch: die Sünde der Welt hinwegzutragen. Wie dies möglich sein wird, braucht er nicht vorweg zu wissen, genug, daß «die Stunde» des Vaters kommen wird, die niemand («auch der Sohn nicht») kennt; genug, daß sie die «Stunde der Finsternis» sein wird, die aber das Ende herbeiführt, die Lösung bringt: «Gott hat ihn zur Sünde gemacht», «um sich aller zu erbarmen», sagt Paulus. Es ist Gericht und Heil zugleich, und dies durch Jesu Geschick («ich muß mit einer Taufe getauft werden…»). Nochmals: er braucht vom Kreuz nichts zu wissen, ja er soll, um den vollen Gehorsam zu leisten, nicht einmal etwas Genaues darüber wissen; die exakt sprechenden Leidensweissagungen können vaticinia ex eventu sein. Aber daß das Fürchterliche für ihn kommt, durch das er ans Ende der Welt gelangen wird, das weiß er. Und nun ist es seltsam, daß dieses Ungeheure, das ihm bevorsteht, ihn zu keinerlei apokalyptischer Hast zwingt; er kann eine Ethik für gläubiges Dasein entwerfen, die keine «Interimsethik» für eine kurze verbleibende Zeit ist, sondern so klingt, als wäre jede Zeit zur Verfügung, sie zu leben. Auch das ist eine Äußerung seines vollkommenen Gehorsams, daß er je im gegenwärtig geschenkten Tag lebt, die Sorge für das Morgen dem Vater überläßt. Wichtig ist nur, daß jeder Tag bis zum Rand mit dem Tun des Willens des Vaters ausgefüllt wird. Daraufhin drängt er, und nicht («apokalyptisch») auf die heranrollende «Stunde» des Vaters – und der Finsternis. Für sein aktives Wirken hat er sein Programm: Israel, aber vielfach ragen schon Heiden in seinen Wirkungskreis herein. Israel war von jeher schon irgendwie offen zu den Völkern. Innerhalb dieses irdischen Auftrags erfolgt die Bestellung der Zwölf: Helfer in der Mission, Vertreter und Richter der Stämme Israels. Er tut das innerhalb seines aktiven Auftrags Mögliche, dessen Horizont durch den absoluten Gehorsam an den Vater eingeschränkt bleibt. Jesus darf und will nicht antizipieren; in Joh 17 vertraut er die Seinen für die Leidenszeit der Obhut des Vaters an. Kreuz ist Weltende (Mattäus schildert es ganz ausdrücklich so), Ostern ist eine neue Welt jenseits des zeitlosen Abgrunds.
Und die Kirche gehört zur «neuen Schöpfung». Hat Jesus sie «gegründet»? Es kommt darauf an, was man unter Gründen versteht, oder wie man sich den Akt vorstellt. Er hat die Vertreter des endzeitlichen Israel mit ins Ende und in den Neuanfang genommen (auch indem er vorweg seine Eucharistie an sie verteilte), und er hat den am Kreuz ausgehauchten Geist ihnen an Ostern eingehaucht. Es lag nicht in seiner Sendung, sich um ein chronologisches Nachher zu kümmern: diese Aufgabe überläßt er dem göttlichen Geist, der «von dem Meinigen nimmt», um «euch in alle Wahrheit einzuführen». Nachdem er eschatologisch die Sünden aller getragen hat, ist er an alle verteilbar, in allen auffindbar («was ihr dem Geringsten…»), die Einheit aller. Die Weiterlebenden werden kurze Zeit seine für ihn geltende Lebensform als ihre eigene chronologische Naherwartung mißverstehen, ohne Schaden, wie das großartige Beispiel Pauli zeigt, der den Herrn erwartet und dabei Zeit hat, seine Missionspläne bis an die Grenzen der Erde zu fassen und durchzuführen, und der es uns damit erspart, auf die intrikaten Probleme einzelner Evangeliumsverse hier einzugehen.
Man beachte: was der Dogmatiker hiermit sagt, ist absolut anti-monophysitisch. Jesus war kein Supermensch, der alle Zeiten überblickt. Sein Horizont war «ökonomisch» eingeengt auf seine im Gehorsam zu vollbringende Sendung. Aber diese Einengung ist anderseits auch wieder nicht das Allgemein-Anthropologische (für die damalige Zeit: das Apokalyptische), sie ist vollkommen einmalig (durch die hypostatische Einheit von Gott und Mensch bedingt), weil nur er in einer menschlichen Sendung bis ans Ende der (alten, sündigen) Welt gelangen konnte. Daher sein unerhörtes Drängen («wirken, solang es Tag ist», «heute, morgen und am nächsten Tag muß ich wandern…»), das doch ohne jede Übereilung ist, vielmehr kindlich aus des Vaters Hand alles, Tod und Leben, entgegennimmt.
Wenn das stimmt, dann wird an diesem Beispiel klar, daß Exegese und Dogmatik einander brauchen. Und wenn heute vor allem der Anschein entstanden ist, Dogmatik sei durch Exegese entthront und in manchem tief verwirrt worden, so könnte tiefer wahr sein, daß sie durch echte Exegese aus vielen Scheinproblemen erlöst und vor ihren wahren Gegenstand zurückgeführt worden ist.
Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Exegese und Dogmatik
Ottieni
Temi
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo
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