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Die Heiligen in der Kirchengeschichte
I
Das Thema ist aus zwei Gründen schwierig; wegen der Unschärfe dessen, was unter einem Heiligen zu verstehen ist, sowie wegen der Vieldeutigkeit dessen, was Kirchengeschichte besagt. Und beide Schwierigkeiten hängen zusammen.
Beginnen wir mit dem zweiten Problem: Wenn man Kirche als das versteht, worin der auferstandene Christus durch seinen Geist in der Menschheit fortlebt – und dazu gehören nicht nur die Menschen, die im Geist Christi zu leben sich bestreben, sondern auch jene objektiven «Institutionen», die auf ihn zurückgehen und die Wege und Mittel sind, mit denen Christus sich der Menschheit mitteilt –, so wird Kirchengeschichte an einem Ideal von Kirche gemessen: Kirche wäre dort, wo der Herr durch den Geist sich das Gefäß schafft und erhält, in das er seine Fülle ergießt (Eph 1,23). Andererseits ist eine solche Kirche nie rein herauslösbar aus den Verdunkelungen und Verzerrungen der Sünde; auch in den geheiligten Menschen wogt der Kampf zwischen Licht und Finsternis, und alles, was kirchliche Institution heißt, ist nicht nur für die Hinüberführung der Sünder in die Sphäre der Heiligkeit da, sondern wird auch von Sündern verwaltet und entsprechend, oft bis zur Unkenntlichkeit, mißbraucht. Kirchengeschichte kann nur von beidem gleichzeitig berichten: von den immer neuen Verdunkelungen jener Gegenwart Christi in seinen «Heiligen» und seinen sichtbaren Heilswegen, aber nicht minder vom immer neuen Durchbruch des Eigentlichen, des Lichtes, das nicht nur aus den Evangelien, dem ganzen Neuen Testament, sondern auch aus der bleibenden Präsenz dieses Ursprungs im jeweiligen Jetzt hervorbricht.
Diese nicht zu entflechtende Dualität zeigt hinüber in die erste Schwierigkeit, zu bestimmen, was ein Heiliger ist. Es wäre viel zu billig, sich an das Schema der (ja relativ spät in Funktion getretenen) Institution kanonischer Heiligsprechung zu halten. Denn einmal gibt es sicherlich wahre, sogar große Heilige, die nie kanonisiert worden sind (Origenes wäre ein Beispiel), während viele andere, die als solche verehrt und auch kirchlich anerkannt wurden, es wohl nur partiell und bedingt sind (man denke, an Stelle vieler anderer, an Hieronymus). Nicht alle Heiligen sind gleich heilig – weit entfernt davon! – und mancher brave und gewiß «heiligmäßige» Christ ist aus vorwiegend kirchenpolitischen Erwägungen zur «Ehre der Altäre» erhoben worden, während eine Fülle anderer, deren genuine Heiligkeit viel echter war und ist, im Schatten, vielleicht in vollkommener Unbekanntheit geblieben sind. Wer weiß, ob nicht die größte Heilige im Evangelium jene Witwe war, die von Jesus am Opferkasten beobachtet wurde, wie sie nicht «von ihrem Überfluß», sondern «von ihrer Armut alles, was sie zu ihrem Lebensunterhalt besaß, hineinwarf» (Lk 21,1-4).
Man könnte am Schluß dieser Einleitung noch die Frage aufwerfen, ob die Reflexion der katholischen Kirche auf die Existenz von «Heiligen» in ihr überhaupt berechtigt, biblisch gedeckt sei. Immer ist aufgefallen, wie schonungslos das Alte Testament die Fehler seiner großen Männer enthüllt: eines Mose, der doch Gottes besonderer «Freund» war, eines David, des «Mannes nach dem Herzen Gottes». Und man neigt dazu, die späte Tendenz, die großen Ahnen zu verherrlichen und gleichsam heiligzusprechen (wie das in Jesus Sirach 44-50 geschieht), als eine Entartung anzusehen. Man kann weitergehen und sagen, daß auch das Neue Testament die Jünger vor und besonders während der Passion, zumal Petrus, keineswegs schont, daß Paulus seine Christen zwar als «Heilige» anspricht, aber sie trotzdem unverblümt tadelt und zurechtweist, daß sogar der Johannesbrief, der die Bereiche von Licht und Finsternis so schroff unterscheidet, dennoch seine Gemeinde nicht in Sicherheit wiegt, sondern dauernd in die Entscheidung zum liebenden Glauben stellt.
Dennoch: Wo das Wort Mensch geworden ist und für uns gelitten hat, wo seine Eucharistie in die Gläubigen einströmt, ist in der Heilsgeschichte eine Schwelle überschritten. Und nun kann es, deutlicher noch als im Alten Bund (Abraham, die großen Propheten), Existenz aus der vollen Öffnung des Herzens für das «Licht Gottes» in Christus geben, zunächst in der Gleichgestaltung mit Christus in seinem Opfertod bei Stephanus, auch bei Paulus: (Phil 2,17f.; 2 Tim 4,6), in seiner Passion (Apg 5,40 usf.), aber dann auch weiterhin in seiner durch sein ganzes Leben zum Kreuz hin durchgetragenen Gesinnung (Phil 2,5). Das «Zeugnis» eines Christen über Christus im Tod, aber auch im ganzen Leben kann von der Kirche Christi erkannt und dankbar als das gewertet werden, was es ist: existentieller Hinweis auf ihren Ursprung, der einmal historisch war, aber nicht aufhört, «alle Tage bis ans Ende der Welt» wirksam gegenwärtig zu sein. Paulus selbst hat sich nicht gescheut, seine ganz auf die Existenz Jesu hinblickende Existenz seinen Gemeinden als das nachzuahmende Vorbild (typos, eigentlich: Abdruck, Form) hinzustellen: «Ahmt mich nach, wie ich selber Christus nachahme» (1 Kor 11,1). Mit Nachahmung Christi meint Paulus nichts anderes als «Nachfolge Christi».
II
Für die Bestimmung, worin Heiligkeit besteht und welche Rolle sie in der Kirchengeschichte spielt, werden zwei Gesichtspunkte ausschlaggebend sein: der erste ist eindeutig, der zweite stellt uns vor große Probleme.
Eindeutig und für die Kirchengeschichte entscheidend wichtig ist, daß Heiligkeit immer ein Durchbruch zum Ursprung, zur unmittelbaren und personalen Christus-Nachfolge ist, der gleichsam durch alle Überkrustungen eines Gewohnheitschristentums hindurch die Quelle wiederfindet, und zwar nicht als Rebellion gegen das Kirchlich-Institutionelle, sondern indem dieses, wie sich’s gebührt, durchsichtig wird zu dem hin, was es im Sinne Christi selbst vermitteln soll. Nicht selten beginnt das Leben exemplarischer Heiligkeit mit einem Rückzug in Wüste und Einsamkeit, um dem unverstellten Ursprung zu begegnen: Antonius, Benedikt, Franz, Ignatius. Von dort mit der Vision des ursprünglichen Lichtes zurückkehrend, wird aber in keiner Weise gegen das Institutionelle polemisiert, vielmehr dessen auf Christus hin wiedergefundene Transparenz und seine für den Christen absolut unverzichtbare Notwendigkeit betont (vgl. die Deferenz des Poverello für den Klerus, auch den verdorbenen, und die Regeln von Ignatius über das «Fühlen mit der Kirche»), und zwar unbeschadet der beinah unvermeidlichen Zusammenstöße mit dem Allzumenschlichen der Hierarchen oder auch einfach der Ordensobern (Teresa von Avila) oder der Mitbrüder (Johannes vom Kreuz). Nicht nur kluges Taktieren, sondern eine oft unbegreifliche Geduld und ein Vertrauen auf die Vorsehung, das in nächtlichen Glauben getaucht sein kann (Ignatius gegenüber Paul IV.), kennzeichnet die Haltung dessen, der den Ursprung wiedergefunden hat und die Gewißheit bewahrt, das Licht werde die Kraft haben, sich durchzusetzen, nicht zuletzt unterstützt vom Opfergehorsam des mit seiner Verbreitung Beauftragten. Solcher Gehorsam kann bis zum vollen Kreuz führen: das Werk, das erreicht werden sollte, vermag sich jetzt nicht durchzusetzen (Maria Ward), oder es entgleitet dem Gründer, um als ein uneinholbares Ideal und als Leitstern über der nachfolgenden Geschichte schweben zu bleiben (Franziskus).
Wichtig ist vorerst nur die Neuentdeckung des evangelischen Urquells. Augustin findet, wie keiner vor ihm, die Liebe Christi als das reine Geschenk der Gnade, Benedikt die Demut Gottes, Franz seine Armut, Ignatius jene Bereitschaft ohne Grenzen, die sowohl christologisch wie marianisch begründet ist. Für alle ist der Ursprung durch keine theologische oder philosophische Tradition verstellt oder kanalisiert, auch wenn die Nachfolgenden die jeweils neue Intuition in solche Kanäle leiten werden (und zum Teil müssen); so Bonaventura nach Franz oder Suarez nach Ignatius. In diesen Durchbrüchen ereignet sich wirklich, was Kierkegaard «Gleichzeitigkeit mit Christus» genannt hat, aber nicht in seinem Sinn als Überspringung der dazwischenliegenden Tradition (wie auch Légaut fälschlich meint und damit das Katholische grundlegend mißversteht), gefunden wird vielmehr der heute in Welt und Kirche lebendige Herr, der sich selber als den Ursprung und das Wesen der Kirche enthüllt (Franz baut buchstäblich an einer zerfallenen Kirche, Ignatius in Manresa beichtet und kommuniziert). Aber es ist der Herr, der durch seinen Geist den Sinn seiner Kenose erklärt; immer wird man zum abstrichlosen Evangelium zurückgeleitet, und immer erhellt sich das Damalige durch die heutige eucharistische Gegenwart des Herrn (so spiegeln sich bei Charles de Foucauld Nazaret und Eucharistie ineinander).
Von den großen Impulsen, die durch den neueröffneten unmittelbaren Zugang in den evangelischen Ursprung ausgelöst werden, leben Jahrhunderte der Kirchengeschichte, und das so Gelebte ist das Lebendigste, Wahrhaftigste an ihr. Natürlich steht der Zugang jedem Christen offen, und wenn er ihn wirklich benützt, gehört er zu den Heiligen im paulinischen Sinn und kann auf seine vielleicht bescheidene Weise – als Mutter, die ihre Kinder in die christliche Wahrheit einführt – an der echten Tradition mitarbeiten. Besondere Verantwortung tragen die Vertreter aller Ränge der Hierarchie dafür, daß sie in Predigt und Katechese nicht Abgestorbenes, dem Ursprung Entfremdetes tradieren, was dann der Fall ist, wenn sie, auf ihr Amtscharisma vertrauend, sich um den personalen Zutritt zu den Quellen nicht mühen, Quellen des Evangeliums unmittelbar, oder auch derer, die, wie gezeigt, in diese Unmittelbarkeit hinein vermitteln können.
Während dies eindeutig ist, stellt uns ein zweiter Gesichtspunkt vor eine harte Frage, die jeder mit dem Evangelium Vertraute kennt. Was heißt für uns Nachfolge Christi? Der erhöhte Herr, also der gestorbene und auferstandene, stellt uns durch seinen Geist auf den Weg, den er als der Irdische, Sterbliche auf sein Kreuz und seinen Tod zu gegangen ist. Und doch gehen wir diesen Weg nicht wie die Jünger damals, sondern aus der Kraft des Auferstandenen und in seinem Pfingstgeist. Steht also das Kreuz vor oder hinter uns? Die Frage stellt sich nicht nur für jeden Gläubigen privat, sie stellt sich angesichts der ganzen Kirchengeschichte, ihres Rhythmus, ihres Sinns.
Das Leben des irdischen Herrn mündet in ein Fiasko; was ihm als dem verheißenen Messias Israels als erste Aufgabe oblag: das erwählte Volk zu «sammeln» und es zu dem für alle Völker vorbildlichen, gefügigen Werkzeug Gottes zu gestalten, es zu seinem Ziel zu führen, indem ihm die letzte göttliche Absicht des Bundes begreiflich gemacht würde: dies ist, aufs Ganze gesehen, mißlungen. Es war schon den Propheten mißlungen, einzelnen großen war dies von vornherein, schon bei der Berufung, angekündigt worden. Jesus reiht sich in die Schar dieser Vorgänger ein, wenn er ihr Schicksal auf sich zukommen sieht: kein Prophet darf außerhalb Jerusalems sterben. Er weint über die Stadt, die ihre letzte und höchste Chance nicht erkannt hat und ihrer letzten und gründlichsten Zerstörung entgegengeht. Über Jeremia hinaus hat er sich um Israel bemüht, und über Jeremia hinaus wird er verhöhnt und gemartert werden: bis zu den Lästerworten unter dem Kreuz.
Wo aber stehen nun die Christen? «Der Jünger steht nicht über dem Meister, der Knecht nicht über seinem Herrn. Der Jünger muß froh sein, wenn es ihm ergeht wie seinem Meister, der Knecht, wenn es ihm ergeht wie seinem Herrn.» Weil der Meister und Herr gekommen ist, nicht den Frieden, sondern das Schwert der Entscheidung zu bringen, weil er die Menschen bis in ihre engsten Familienbande hinein entzweien wird, darum werden die Jünger, falls sie wirklich nachfolgen, ebenfalls Entscheidung zu verkünden haben und als Feinde der Menschheit verfolgt werden (Mt 10,24f., 34ff.). Im Grunde enthält das Evangelium keinerlei andere Voraussagen für das Schicksal der Jünger, der Kirche im ganzen. «Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen … um meines Namens willen», denn «sie hassen mich ohne Grund» (Joh 15,20ff.). Wird das der wesentliche Inhalt der Kirchengeschichte sein? Wird sich vielleicht diese Gesetzlichkeit immer deutlicher durchsetzen, je mehr die evangelische Wahrheit, von allen Übermalungen befreit, vor die menschlichen Gewissen gestellt wird? Es könnte ja sein, daß ein zunächst religiöses Heidentum, dem sich die Apostel nach der Weigerung Israels zuwenden, nach anfänglichem Zögern und Ablehnen im Christentum eine gewisse Erfüllung seiner religiösen Aspirationen fände, die christliche Verkündigung sich entsprechend in diese religiösen Gewänder hüllte, bis sich schließlich herausstellt, daß es nicht «eine» Religion ist, sondern den Anspruch erhebt, die Wahrheit «aller» Religion zu sein, und das Heidentum sich daraufhin vom Christlichen mit einem ebenso entschiedenen Nein abwendete wie vordem Israel. Somit: «Wird der Menschensohn noch Glauben finden auf Erden, wenn er wiederkehrt?» (Lk 18,8). Das alles steht jedenfalls da, es enthüllt der Kirche für ihre Zukunft einen Gang zum Kreuz. Die Apokalypse kommt bestätigend hinzu: die letzte Schlacht, bei der die Feinde «zahllos wie der Sand am Meer» auftreten und «das Lager der heiligen und geliebten Stadt», die Kirche, umzingeln, ehe das Gerichtsfeuer vom Himmel sie vertilgt, eröffnet keine Teilhardsche Endperspektive (Apk 20,7ff.). Ebensowenig die letzte Verheißung Jesu an Petrus, da dessen Nachfolge – aus höchster Gnade – zur leibhaftigen Kreuzigung führt (Joh 21,18f.).
Aber kann das alles sein? Wie stimmt zum Gesagten die königliche Gebärde des erhöhten Herrn, der die Jünger «in alle Welt» aussendet, da ihm vorweg «alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden», der ihnen aufträgt, sie sollen die Völker «alles lehren», was er ihnen beigebracht hat, ohne Furcht, da er bei ihnen sein wird «alle Tage bis ans Ende der Welt»? (Mt 28,20). Und da er ihnen seinen Geist schenken wird, der sie «in alle Wahrheit einführen» (Joh 16,3), ihnen auch eingeben wird, was sie in kritischen Augenblicken vor Gericht zu antworten haben (Lk 12,12), durch den sie schließlich, weil ihr Herr erhöht sein wird, «größere Taten» verrichten werden als er (Joh 14,13)? Sollte die Kirchengeschichte zu einem Siegeszug der Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes sich gestalten?
Die Apostelgeschichte scheint etwas von dieser siegreichen Unwiderstehlichkeit der kirchlichen Expansion schildern zu wollen, und auch das Pathos der Paulusbriefe, ja der ganzen Existenz des Apostels zeugt davon. Aber beide keinesfalls ohne den Zusammenhang mit dem ersten Aspekt. Petrus und Johannes werden vor dem Hohen Rat gegeißelt, Petrus gefangengesetzt, Jakobus enthauptet, und das ganze Ende der Apostelgeschichte führt Paulus – durch Schiffbruch hindurch – seinem Martyrium entgegen. In den Briefen erscheint er als Gefangener, sogar von allen Verlassener, nachdem er für den Herrn schon Unvorstellbares durchgemacht hat. An ihm, dem auserwählten Heiligen, läßt sich vielleicht am deutlichsten und wie an einem Modell das Gesetz der Kirchengeschichte ablesen: «Mit Christus gekreuzigt» (Gal 2,19), – «und siehe, wir leben!» «Wie Bettler – und viele bereichernd. Wie Habenichtse – und im Besitz von allem» (2 Kor 6,9f.).
Wie Paulus, so werden nach ihm alle echten Heiligen mit dieser Paradoxie von Schiffbruch und Sieg, von Versagen und Bewährung, von «letztem Platz» oder «Abschaum» und «Schauspiel für Gott, Engel und Menschen» zu lebendigen Modellen der Kirche. «Gleichzeitig geehrt und geschmäht, gleichzeitig gelästert und gelobt, für Betrüger gehalten und doch wahrhaftig, gleichzeitig als Unbekannte behandelt und doch wohlbekannt…» (2 Kor 6,8f.). Es kann durchaus sein, daß diese Schmähung und Verdächtigung, dieses Zurückverwiesen werden auf den Platz des Vergessenen innerhalb der eigenen Kirche erfolgt, wie ja auch Paulus schließlich von Jakobus in den Tempel geschickt wird, wo die Juden ihn ergreifen und er zuletzt, wie sein Herr, den Heiden ausgeliefert wird. Des Christen «Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein»: auch das ist vorausgesagt (Mt 10,36). Vom verbannten Athanasius und gemarterten Origenes über Maximus Confessor (der von Christen geschändet einsam für den wahren Glauben stirbt) über Thomas von Aquin (dessen Lehren verurteilt werden) über Becket und Morus bis Ignatius (den die Inquisition ins Gefängnis wirft) und Johannes vom Kreuz (den seine Mitbrüder einkerkern und geißeln) bricht die Reihe der Großen, die solches erlitten, nicht ab, hinter denen die zahllosen Unscheinbaren stehen.
Aber es geht hier nicht um die Privatschicksale der Heiligen, sondern um ihre exemplarische Stellung: sie demonstrieren die Situation der Kirche, die ja nur im vollen Sinn Kirche ist, wo sie heilig ist.
III
Nun erst stellt sich die abschließende Frage: Was bedeutet diese an den Heiligen ablesbare Paradoxie kirchlicher Gegenwart und Existenz in der Weltgeschichte? Scharf formuliert: Was soll inmitten dieser Geschichte, der Geschichte einer Menschheit, die jede Anstrengung unternehmen muß, sich aus dem Elend, dem dauernd drohenden Untergang heraus- und emporzuretten, eine Körperschaft, die ex professo immer wieder scheitern muß? Hinter dieser Frage steht der konkrete Name von Marx, der die Christen auffordert, endlich einmal mit ihren evangelischen Programmen, den Armen und Unterdrückten «ein Jahr der Befreiung zu künden» (Jes 61,2; vgl. Lk 4,18f.), ernst zu machen, statt dauernd zu scheitern.
Wohin führt das? Zu einem Versuch, das Kreuz zu vermeiden. Das Kreuz aber ist der endgültige Sieg Christi, somit auch der ihm nachfolgenden Kirche. Und der Versuch, das Kreuz zu vermeiden, führt zu einer Verabsolutierung des Wohlstands, dessen innere Endlichkeit und Dialektik wir heute drastisch erleben – falls dieser Wohlstand überhaupt erreicht wird und nicht durch die marxistische Aggression auf die Gegner vereitelt wird. Jesus wollte nicht scheitern, sondern hat aus allen Kräften versucht, den Armen, die er seligpries, beizustehen, während er den Reichen das «Weh euch» entgegenschleuderte. Und er pries nicht nur die Armut des Herzens, sondern die Werke der «leiblichen Barmherzigkeit», die er zum Kriterium im Jüngsten Gericht erhob. Er wußte sehr wohl zwischen dem zu unterscheiden, was Péguy das Elend (misère) nannte und von der Armut (pauvreté) unterschied. Die Soziallehre der Päpste formuliert aus Grundsätzen des Evangeliums heraus die dringende Forderung an alle Christen, sich an der Veränderung der sozialen Zustände, die das Elend fortdauern lassen, zu beteiligen. Aber diese ganze theoretische Belehrung und praktische Betätigung der Kirche erfolgt doch immer im Auftrag und in der Nachfolge des Gekreuzigten, dem als solchem, nur als solchem, alle Macht im Himmel und auf der zu verändernden Erde gegeben ist. Deshalb kann kirchliches weltveränderndes Wirken niemals einseitig sich auf der Achse «Elend-Wohlstand» bewegen, so dringend in bestimmten Situationen gerade dieses Wirken sein mag. Ohne die gleichzeitige Verkündigung des Kreuzes und des in ihm liegenden Scheiterns drängt die «Veränderung der Zustände» auf jene Wohlstandsmentalität hin, die erst recht die Herzen gegen die wahre christliche Botschaft der selbstlosen Liebe verhärtet. Wo nicht gleichzeitig mit aktiver wirksamer Hilfe für die Armen der Geist der Entsagung gepredigt und vorgelebt wird, hat die Kirche ihr Modell, das Leben der Heiligen in ihr, nicht beachtet und ihren evangelischen Auftrag nicht wahrhaft erfüllt. Ihr Tun steht hier auf des Messers Schneide: sie darf nicht äußerlich so aufbauen, daß sie gleichzeitig innerlich niederlegt. Sie darf nicht so äußere Erfolge erzielen wollen, daß sie dabei die innere Fruchtbarkeit, die aus dem Kreuz stammt, vergißt.
Aber der Geist der Heiligkeit kommt ihr zu Hilfe, indem er gerade die Synthese anstrebt, die menschlich so schwierig erscheint. Denn immer wieder wird evident, daß dauerhafter äußerer Aufbau nur dort gelingt, wo die innere Gesinnung der selbstlosen Liebe am Werk ist – und zwar auf allen Ebenen, angefangen vom wirtschaftlichen Planen der Laien über das katechetische Wirken der Priester bis zum Gebet und Selbstopfer der Kontemplativen. Das Volk versteht rasch die Notwendigkeit dieser Synthese, wie es ja zumeist auch als erstes das Gespür hat für die Gegenwart echter Heiligkeit. Der Heilige braucht nicht immer ein Petrus Claver zu sein, dieses flammende Licht im finstersten Sklavenhandel, er kann auch Therese von Lisieux heißen, die Lehrerin der wahren Fruchtbarkeit für Kirche und Welt auf dem unscheinbarsten, dem «kleinen Weg». Das kleine Volk versteht diesen kleinen Weg; aber aus lauter kleinen Wegen, wenn sie heilig beschritten werden, ergeben sich die größten positiven Revolutionen der Geschichte.
So wird schließlich die scheinbar gebrochene Linie zur eigentlichen Geraden, weil sie nicht nur die ganzen Dimensionen des Werkes Christi, sondern auch die ganzen Dimensionen des Menschen berücksichtigt. Diese Dimensionen müssen jedem Christen vor Augen stehen, sosehr in der Kirche Arbeitsteilung entsprechend dem Charisma jedes Einzelnen geboten ist. Keine katholische Befreiungstheologie kann zum Beispiel die Rolle der Kontemplation und der Passion im Haushalt der Kirche wie der Menschheit übersehen. Aber nicht minder darf der Kontemplative oder der Leidende privatisieren: er hat sein Beten und sein Leiden dem großen Austausch im Organismus des mystischen Christus zur Verfügung zu stellen.
Mehr als je werden die Heiligen unserer Zeit und der kommenden an den Kreuzwegen stehen, wo das innere Licht des Kreuzesmysteriums sich umsetzt in zeichenhaftes, samaritanisches Handeln am Nächsten – nicht umsonst ist Teresa von Kalkutta zu einer der einleuchtendsten Gestalten von heute geworden –‚ aber nicht weniger christlich wird es sein, mitzuhelfen, daß man keine verlassen Sterbenden auf den Straßen Kalkuttas mehr aufzulesen braucht.

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Die Heiligen in der Kirchengeschichte
Ottieni
Temi
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo