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Berufung
I.
Es gibt christliche Grundbegriffe, die zwar immer im Bewußtsein der Christenheit standen und doch in einer bestimmten Epoche ihrer Geschichte so ins Licht rücken, daß sie wie zum ersten Mal entdeckt werden. Drei Momente sind in der neuzeitlichen Kirche nacheinander aufgetreten, um den Offenbarungssinn christlicher Berufung in neues Licht zu stellen.
1. In den Jahrhunderten nach Thomas bildet sich ein elementarer Sinn für die Freiheit Gottes, an dessen Wohlgefallen alles weltliche Sein hängt: das alttestamentliche Gottesbild des erwählenden und verwerfenden Herrn wird in einer Art Rückwirkung bestimmend sogar für das Verhältnis des Schöpfergottes zu seiner Welt. Dieses Gottesbild erscheint aber historisch noch zusehr verklammert mit der augustinischen Prädestinationslehre (die zumal in der Reformation fortwirkt), als daß es für sich genommen eine befriedigende Berufungslehre hätte erzeugen können. Es bleibt Hintergrund für das Folgende.
2. Ignatius von Loyola wird – dem reformatorischen (biblischen) «Wort» als Offenbarungswirklichkeit Gottes gegenüber – die Heilsankunft Gottes im Fleisch ganz unter den Begriff des «Rufes» stellen. Um das Wesen des Evangeliums inbegriffshaft zu verdeutlichen, stellt er allen Leben-Jesu-Betrachtungen eine Ruf-Parabel voraus (Ruf eines Königs an seine Untergebenen, mit ihm gegen den Ungläubigen ins Feld zu ziehen), von der her, in Steigerung und unter Verwendung zentraler neutestamentlicher Worte, die Sendung Christi erläutert wird:
«Wenn wir schon einen solchen Ruf des irdischen Königs an seine Untertanen ernstnehmen, um wieviel mehr ist es dann der Erwägung würdig, Christus unsern Herrn, den ewigen König, zu sehen, und vor ihm die gesamte und vollständige Welt, an die er als ganze und an jeden einzelnen im besonderen seinen Ruf ergehen läßt und spricht: Mein Wille ist es, die gesamte Welt und sämtliche Feinde zu unterwerfen und so in die Glorie meines Vaters einzugehen. Deshalb: Wer mit mir kommen will, hat sich anzustrengen mit mir, damit er, wie er mir in der Mühsal folgte, so auch mir in die Glorie folge» (Ex. 95).
Hier fällt auf: 1. daß das Evangelium als «Proklamation» zu einer noch zu geschehenden Tat aufgefaßt wird, in die von vornherein Welt und Mensch eingeladen werden, 2. daß hier nicht von der Kirche die Rede ist, sondern einerseits von der «gesamten und vollständigen Welt», anderseits von «jedem Einzelnen», so daß die Wirklichkeit Ruf und Berufung irgendwo vor die ausgestaltete Kirche zu liegen kommt, 3. daß somit der diesen Ruf Hörende und Beantwortende (sehr im Gegensatz zum Wort-hören Luthers, der die vollzogenen Rechtfertigung zu hören und zu glauben bekommt) in das Ereignis der Erlösung selbst eingeladen wird.
3. Das dritte Moment, – obschon bei Ignatius mitformuliert, aber von der Gegenreformation noch nicht reflex herausgehoben, – tritt dort heraus, wo das Aug in Auge zwischen der «gesamten und vollständigen Welt» und dem «je Einzelnen» reflektiert und dabei erst der fundamentale Sinn der biblischen Berufung eingeholt wird. Berufung des «je Einzelnen» erfolgt, gemäß der Proklamation des ewigen Königs, auf die gesamte und vollständige Welt hin, denn der Wille des Königs ist, «die gesamte Welt und sämtliche Feinde zu unterwerfen und so» – durch Kreuz, Abstieg zur Hölle, Auferstehung – «in die Glorie meines Vaters einzugehen.» Um den Sinn dieser Aussage aus der eisernen Klammer der augustinisch-kalvinisch-jansenistischen Erwählungs- oder Prädestinationstheologie zu befreien, war das universale Menschheits- und Weltbewußtsein der Neuzeit notwendig, die damit aber nur heimfand zu einem Heilsverständnis, wie es, die Bibel abschließend, Paulus und Johannes entwickeln, und ihnen nachfolgend die griechischen Väter.
II.
Indem so der universale Weltplan Gottes, sowohl für die Schöpfung wie für deren Erlösung, endgültig ins Blickfeld rückt, wird es unmöglich, die Erwählungslehre des Alten und Neuen Bundes mit ihrer klaren Bevorzugung der Einen gegenüber den Andern anders zu deuten denn als ein Moment innerhalb dieses universalen Planes. So hat es Paulus selbst verstanden, da er die individuelle Erwählungslehre (Röm 9) nur typisch verstand auf die Erwählung Israels unter den Völkern hin, und diese in der Dialektik von Röm 11 nochmals funktionell für die Gesamtheit der Völker. Israel ist berufen zugunsten der Heiden, und diese Berufung Israels wird Vorbild für eine Berufung (Herausrufung) der Kirche, die zugunsten der Welt erfolgt, und damit auch Vorbild für jede persönliche Berufung innerhalb der Kirche, die ausnahmslos dieselbe kirchliche Sinngestalt aufweist: Berufung zugunsten der einstweilen Nicht-Berufenen zu sein. Dieses biblisch-patristische und wieder moderne Verständnis überholt ein für allemal jede individuelle Prädestinationstheologie (deren konsequenteste Form die Lehre von der doppelten Prädestination war), nach welcher der Erwählte eben primär um seiner selbst willen erwählt ist, sosehr, daß er starr und schaudernd vor dem Mysterium des Nichterwähltseins (vielleicht gar Verworfenseins) Anderer stehen bleiben muß – mögen diese Anderen nun viele oder wenige sein.
Man kann und muß ganz schlicht formulieren: jeder im biblischen Sinn Berufene ist um der Nicht-Berufenen willen berufen. Das ist im Zentrum wahr für Jesus Christus, der von Gott vorbestimmt und damit berufen ist (Röm 1,4), stellvertretend für alle Verworfenen zu sterben und aufzuerstehen. Und an Jesus Christus wird zugleich sichtbar, daß ihn der Vater eben deswegen mit einer solchen Vorzugsliebe liebt, weil er sich zur Funktion des väterlichen universalen Heilswillens gemacht hat. Wir haben nicht erst durch die moderne Philosophie, sondern grundsätzlich schon durch die christliche Offenbarung gelernt, Person und Funktion nicht mehr als Gegensätze zu sehen. Biblische Berufung ist, am Modell Christi abgelesen, Expropriation einer Privatexistenz zu einer Funktion des universalen Heils: Übereignung an Gott, um von ihm an die zu erlösende Welt übergeben und im Erlösungsereignis gebraucht und verbraucht zu werden.
Aber nun sofort das Entscheidende: wie Christus Person ist, um Funktion zu werden, so ist alle biblische Berufung primär personal, um – aus einem persönlichen Jawort an Gott heraus – funktional verwendet werden zu können. Es gibt im Raum der Offenbarung immer erst sekundär «Abstraktes», «Institutionelles», ja man muß soweit gehen, zu sagen, alles Institutionelle kann nur in dem Raum sich ausbreiten, der durch die Funktionalisierung einer berufenen Person allererst entsteht. Die Kirche ist der eucharistisch hingegebene, seinen mystischen Leib bildende Christus. Israel etabliert sich im Raum des Glaubens Abrahams. Das kirchliche Amt ist erbaut auf dem Felsen des Glaubens Petri. Paulus ist Mutter und Amme seiner Gemeinden. Marias grenzenloses Jawort ist die personale Realität, aus der sich die soziale Realität der Kirche als Braut des Herrn aufbaut. Auf dem Fundament der Apostel und Propheten wächst der Bau, den die Glaubenden bilden, hervor. Die Berufenen sind «Säulen der Kirche», «Säulen im Tempel meines Gottes» (Apk 3,12).
Es ist daher biblisch unrichtig, die Berufung der tragenden Einzelnen als eine Vorstufe hinter sich zu lassen, und, wenn die Gestalt der Kirche einmal erreicht ist, von der Berufung der Kirche als dem Primärbegriff auszugehen, der gegenüber die Berufungen der Einzelnen dann nur noch «Sonderfälle» wären, die sich auf einzelne Funktionen, Ämter, Rollen, Stände in der Kirche beziehen. So wahr es ist, daß die Propheten zugunsten Israels berufen werden, so wahr bleibt es doch, daß Israels Berufung aufruht auf der Berufung Abrahams und des Mannes, der zunächst als Einzelner den Namen Israel trägt; und daß die Anwendung des Berufungsbegriffs auf das Volk Israel eine der Prophetensendung gegenüber sekundäre, späte (erst im Deutero-Isaias auftauchende) ist. Das ist mindestens ebenso wahr im Neuen Testament: das ursprüngliche Ereignis Berufung – jene Begegnung, die die ignatianische Proklamation in Worte setzte – begibt sich dort, wo Kirche aus Christus erst im Werden ist, und zwar im Werden nicht als geschlossene Institution, sondern als offene Funktion der Erlösung der «gesamten und vollständigen Welt».
III.
Das gilt für jede Berufung, auch die spezifisch innerkirchlichen (wie Priesterberuf zur Seelsorge der Gläubigen): Bevor wir auf die Analogien und Differenzierungen eintreten, die Inhalt (Zweck) und Weise der Berufung betreffen, ist die an der Basis liegende Gemeinstruktur festzuhalten. Berufung fordert alt- wie neutestamentlich zunächst bedingungslose, uneingeschränkte Bereitschaft zu allem, wozu Gott den von ihm Angerufenen verwenden und senden könnte und wollte (Gen 12,1; 1 Sam 3,9; Is 6,8; Apg 9,6). Nicht in Frage kommt also, wenn die Wirklichkeit Berufung sich überhaupt ereignen soll, eine vom Menschen her primär eingegrenzte Bereitschaft: ich will Gottes Ruf folgen und ihm dienen, wenn ich dies oder jenes tun kann, da oder dort eingesetzt werde. Um solche Einschränkungen zu erlauben, ist das Jawort an den berufenden Gott viel zu nah dem Glaubensakt an den offenbarenden Gott, ein Akt, der ja ebenso grenzenlos auf die gesamte Wahrheit Gottes hin erfolgen muß, ob der Mensch sie versteht oder nicht, ob sie ihm lieb ist oder leid. Ja, die Spezifizierung des Wozu des Berufenseins erfolgt von Gott her erst in das Jawort bedingungsfreier Bereitschaft hinein. Eine Ausnahme scheint hier nur Maria zu bilden, der im Engelsgespräch ihre genaue Funktion im Erlösungsplan vorweg in einem apodiktischen Futurum («Du wirst einen Sohn gebären» usf.) angezeigt wird, ehe sie ihr Einverstandensein äußert; aber diese scheinbare Ausnahme ist nur der Beweis dafür, daß Gott hier, im Gegensatz zu allen Sündern, die immer Bedingungen stellen möchten (vgl. Moses, Jonas), mit einem apriorischen Jawort zu allem Erdenklichen und Unerdenklichen rechnen kann.
Ist der Sohn gesandt, «die gesamte und vollständige Welt» zu erlösen, so entspricht diesem grenzenlosen Ziel auch kein eingegrenzter Modus seines Ja, sondern allein seine Bereitschaft, sich vom Vater weit über seinen Menschenwillen hinaus in die letzte Finsternis der Sünde, der Gottverlassenheit und der Hölle senden und führen zu lassen. Im Ungegrenzten seines Gehorsams lag die ganze Fruchtbarkeit seines Wirkens und Leidens beschlossen. Entsprechend hat kein Berufener Jesu eine Chance, durch seinen Dienst im Reich Gottes fruchtbar zu werden, es sei denn alles Endliche, was er wirken und leiden wird, sei Ausfluß einer grenzenlosen Einsatzbereitschaft. Das gilt ebensowohl für Berufungen zu aktiven oder kontemplativen Orden, wie für Priesterberufungen, wie für Berufungen zu Weltgemeinschaften (instituta saecularia). Leute, die zum Beispiel ihrem Bischof beim Eintritt oder später Bedingungen stellen (Vorschläge sind etwas anderes) für ihren Einsatz, oder die beim Eintritt in eine Weltgemeinschaft als conditio sine qua non ihrer Mitgliedschaft fordern, in diesem oder jenem Beruf, den sie vielleicht bereits ausüben, verharren zu können, hätten die elementare, unabdingbare theologische Grundlage von Berufung überhaupt – jenseits aller Analogien – gar nicht verstanden.
Der einzige Akt, mit dem ein Mensch dem offenbarenden Gott entsprechen kann, ist der der uneingegrenzten Bereitschaft. Er ist die Einheit von Glaube, Hoffnung, Liebe. Er ist aber auch das Ja, das Gott anfordert, wenn er sich eines Glaubenden nach seinen göttlichen Plänen bedienen will. Nur in diesen (weiblich-marianisch-kirchlichen) Schoß absoluter Bereitschaft senkt Gott den Samen sowohl seines Wortes wie seines Sendungsauftrags (die ja letztlich der gleiche Same sind) ein. Nur dieses Jawort grenzenloser Bereitschaft ist der Lehm, aus dem Gott etwas formen kann, nur sie hat erlösende, in der Gnade Christi miterlösende Kraft. In die totale auch kirchliche Gehorsamsprobe wurden bekanntlich auch alle jene (seltenen) kirchlichen Sonderaufträge gestellt, die von Gott unmittelbar ausgehend, und den absolutesten Gehorsam an Gott einfordernd, sich im Raum der Kirche – meist durch Leiden – zu bewähren hatten. Neue Konzeptionen von Kirche, kirchlichem Apostolat usf., einer neuen Zeit entsprechend, können sich deshalb in der Kirche nicht anders empfehlen, als durch einen unfanatischen, unhäretischen (Hairesis = Absolutsetzung eines endlichen, einleuchtenden Gesichtspunktes), sondern zu allen, die Einzelnen immer übersteigenden Möglichkeiten Gottes offenen Gehorsam.
Deshalb sind Jesu Forderungen bei der Aufnahme der berufenen Jünger so unerbittlich: Alles verlassen; auch natürliche Bande der Familie, der Pietät («den Vater begraben»), grundsätzlich zu durchschneiden bereit sein, bis dazu, nichts mehr zu haben, wohin sein Haupt legen, alles auf die eine Karte des Rufes, des Rufenden zu setzen. Denn Jesus ist die vom Vater gestiftete Synthese von Natur und Übernatur, von Welt und Kirche; Jesus ist keineswegs der eine Bestandteil einer Synthese, die der Christ zu vollziehen hätte, etwa zwischen den Forderungen der Schöpfungswirklichkeit einerseits und der Erlösungswirklichkeit anderseits, zwischen seinen Pflichten der Welt und ihrer weltlichen Gesetzlichkeit und Evolution gegenüber, und seinen Pflichten der Kirche und ihren Forderungen gegenüber. Dieser gänzlich abkünftige und deshalb schiefe Gesichtspunkt verstellt jede Sicht in die ursprüngliche Wahrheit des Evangeliums. Denn hätte dieser Gesichtspunkt recht, so stünde das Befinden über die Integration der Schöpfung in Christus hinein ausschließlich beim Menschen und nicht mehr bei Christus und bei Gott. Wo immer also heutige Kirche sich diese Synthese selber anmaßen würde, um davon Wesen und Umfang ihrer Berufung abhängig zu machen, wäre Berufung im ursprünglichen Offenbarungssinn endgültig verfehlt. Dies muß so stark betont werden, weil heute die eingeschränkten, verklausulierten Jaworte überall wie Mehltau die Berufungen lähmen. Entweder will man sich nur noch auf Zeit engagieren (und nimmt damit Gott jede Möglichkeit, über den ganzen Menschen zu verfügen), oder nur zu einer bestimmten Arbeit, die man im Kopf hat, die einen lockt oder zeitgemäß dünkt (und bindet so den kirchlichen Vorgesetzten die Hände, über ihren Untertanen zu verfügen), oder man entwirft, vielfach etwa in Weltgemeinschaften, die Statuten der Gruppe bereits so, daß sie derartige halbe oder Viertels-Bereitschaften zulassen und sich damit begnügen. Überall, wo dergleichen geschieht, fragt man nur noch vordergründig, was «die Kirche» braucht oder gar, was «unsere heutige Zeit» braucht, oder noch schlimmer: was der heutige Priester oder Ordensmann «braucht», um seine Persönlichkeit harmonisch zu entfalten, aber nicht mehr danach, was Gott braucht. Verwendbar für Gott im Sinn seines Reiches ist nur Ganzhingabe, die keine Bedingungen stellt.
IV.
Ist diese Ganzhingabe der Person in die von Gott zu bestimmende Funktion die unabdingbare gemeinsame Grundlage aller Berufungen, so sind demgegenüber alle – auch erheblichen – Unterschiede in der Art und Bestimmung der Berufung sekundär. Wiederholen wir nochmals die Hauptsache: der Bereich der ursprünglichen und grundlegenden Berufungen ist ein Urbereich, ein Wurzelbereich, aus dem Kirche als Gemeinschaft und als Institution allererst wird (so wie das Volk Israel aus Abraham und Israel allererst wird, so wie die Kirche aus Jesus, Maria und den Aposteln allererst wird). Und wenn Paulus von vornherein alle Gläubigen auf ihre Berufung (klêsis) hin anspricht, so vergißt er einerseits nie seine eigene Stellung unmittelbarer Berufenheit der Gemeinde gegenüber, und zeichnet anderseits den sakramentalen Sinn der Taufe nach dem Schema der personalen totalen Weltentsagung des Berufenen mit Christus zusammen (Röm 6,3-11).
Die Synoptiker spiegeln den gleichen Sachverhalt, wenn sie die Herrenworte von der fundamentalen Bereitschaftshaltung der Erstberufenen sich verlängern lassen in eine Haltung aller Glaubenden überhaupt. Das urbildliche und buchstäbliche «Allesverlassen» der Apostel bei Matthäus (19,27) wird bei Lukas von den «großen Volksscharen» verlangt, und ebenso, daß jeder Jünger «Vater und Mutter und Weib und Kind und Bruder und Schwester, ja auch sich selber haßt», in dem Sinne, daß die Liebe zum Herrn entscheidendes Maß für alle diese natürlichen Liebesbeziehungen wird (Lk 14,25f). Von hier aus wird man sagen müssen, daß die sogenannten «evangelischen Räte» die konkreten soteriologischen Modi der Nachfolgebereitschaft des ursprünglich Berufenen sind, und daß die Erweiterung dieser Modi auf die allgemeinkirchliche Modalität, wie sie Paulus in 1 Kor 7 (in dem parallelen Vorgang zu Lk 14) vornimmt, klar die Kontinuität zwischen dem ursprünglichen fundamentalen Berufungsbereich und dem daraus gewordenen Kirchenbereich widerspiegelt. Das Wort «Rat» (1 Kor 7,25) ist darin irgendwo mißverständlich, weil es von einem Ursprünglich-Berufenen an die Gemeinde gesprochen ist. Indes ist schon die Existenz Israels als des Gottesvolkes aufgebaut auf einem strikten Nachfolge-Gehorsam dem frei und willkürlich führenden Gott gegenüber: bei Abraham, im Wüstenzug, in den Weisungen der Propheten zum religiös-historischen Handeln, aufgebaut ebenso auf einer Armut, die immer klarer als das Unterscheidungsmerkmal des wahren Glaubens und der wahren Zugehörigkeit zum lebendigen Gott hervortritt: an diese beiden Forderungen knüpft Jesu Bergpredigt an. Daß Israel ein fleischliches Volk von Geschlechtern auf den Messias hin sein soll, schließt Jungfräulichkeit aus, aber das Unterscheidungszeichen der Beschneidung bedeutet theologisch (die ethnologische Herkunft ist gleichgültig) dies: daß die sexuelle Sphäre von Gott in Beschlag genommen ist auf das zukünftige Heil hin (im Zeichen der entschärften selbstbezogenen Lust auf eine Dienstfunktion hin), und daß mit der Ankunft des Messias diese Sphäre theologisch von keinem wesentlichen Belang mehr ist, weil jetzt an die Stelle der irdischen Fortzeugung in beschränkten Familien der «zweite Adam vom Himmel» mit der eucharistischen Selbstverströmung für die gesamte Menschheit getreten ist. Im Neuen Bund wird daher die Jungfrau-Gattin Sion oder Jerusalem, (durch Vermittlung der Jungfrau-Mutter Maria) in die jungfräulich-fruchtbare Ecclesia verwandelt, als Braut (2 Kor 11,2) und eschatologisch als Gattin des Lammes, und die Ehe hat theologische Bedeutung nur noch sofern sie dieses zwar fleischliche, aber jungfräuliche Geheimnis zwischen Christus und Kirche im alten Geschlechterverhältnis abspiegelt (Eph 5,32). Dies alles zeigt klar, daß die Modalitäten der verzichtenden christlichen Liebe, die man unter dem Titel «evangelische Räte» zusammenzufassen pflegt, nicht gleichsam ein Ausnahmestatut für sporadische höhere Seelen innerhalb der Kirche bedeutet, sondern die Grundwirklichkeit Jesu Christi selbst – tief vorbereitet in der Grundwirklichkeit Israels –, die sich mitteilt an jene «Berufenen», welche mit Jesus Christus zusammen die Wirklichkeit Kirche grundlegen.
Daß die drei Aspekte des «Rätelebens» deshalb grundlegend nichts anderes sind als der reine Ausdruck der vollen Disponibilität zum Rufe Gottes und Christi – und nicht etwa, wie Luther diesem Leben vorwirft, eine Religion der Selbsterlösung durch verdienstliche Werke – bedarf keiner Erwähnung mehr. Diese Disponibilität zu jedem Gebrauch, den Gott von mir machen will, ist nun wiederum nichts anderes als die Bedingung der soteriologischen Fruchtbarkeit eines Berufenenlebens, in welchem kirchlichen «Stand» und in welcher konkreten Weise der Darlebung es sich sekundär auch immer darstellen mag. Es ist aber auf jeden Fall Selbstübergabe an Gott für die Brüder, für die Welt, mag dieses «Hinvergossen-werden für euch» (Phil 2,17) nun verborgen in der Kontemplation eines Karmel oder eines Père de Foucauld, oder in der Aktion eines Priester- oder Ordenslebens oder in der stillen Weltgegenwart einer Weltgemeinschaft sich ereignen.
V.
Es darf hier genügen, die vollkommene Disponibilität als die Wurzel des Rätelebens aufgezeigt zu haben. Denn ihr gegenüber ist die Frage, wie im einzelnen das Leben nach den Räten ausgelegt und ausformuliert wird (zu einer «Regel» etwa), weitgehend sekundär und durch den konkreten Auftrag im Gefüge der Kirche bedingt. Ein Weltgeistlicher, der kein Armutsgelübde abgelegt hat, aber mit all dem Seinen für seine Pfarrkinder zur Verfügung steht, offenen Herzens und offener Tür, steht gewiß dieser Disponibilität sehr viel näher als ein Ordensmann, der im Rahmen seines Armutsgelübdes den Geist bürgerlicher Besitzfreude nicht abgelegt hat.
Indes muß doch festgehalten werden, daß Berufung das ganze Leben des Menschen anfordert und eine entsprechende ganze Antwort verlangt, und daß das «Ein-für-allemal» der Hingabe zur Grundform jedes Berufungslebens gehört. Wenn schon die christliche Ehe unauflöslich sein soll, um wieviel mehr die Form des Hingabelebens! Noviziate, Seminarien, für Weltgemeinschaften noch längere Erprobungszeiten, sind notwendig, aber stets auf eine Hingabe ein für allemal hin. Eine Perpetuierung von «Gelübden auf Zeit» ist theologisch widersinnig und läßt den Akt endgültigen Sich-weggebens nie zustandekommen. Anders könnte die Lebensform nicht einmal Ausdruck der geforderten Bundestreue Israels, geschweige denn der Kirche sein.
Der Gehorsam ist, um theologisch relevant zu sein, immer Gehorsam an den «Ganz-Andern», den ganz frei verfügenden, nie (etwa durch ein Gesetz oder eine Regel) in die eigene Verfügung übergegangenen Gott. Maßgeblich für den Christen ist der menschliche Gehorsam der Jünger Jesu zu dem als Menschen angesehenen Meister – seine Gottheit ist für die Apostel bis zur Auferstehung gleichsam Grenzbegriff. Ihm, dem Meister, folgen sie, er ist ihre Regel, er befiehlt, verfügt, verordnet, sendet aus mit einem von ihm gestalteten Programm, er begutachtet die Berichte der abends Heimkehrenden. Er ist, als der lebendige, freie *Andere, *ihr Oberer, und gerade als solcher die Fleischwerdung des frei sprechenden, frei verfügenden Gottes Israels. Überholbar ist dieses Verhältnis nicht, es kann (quasi-sakramental) nur durch das kirchliche sanktionierte Gehorsamsverhältnis des Glaubenden zu einem Obern, der ihm Christus konkret vorstellt, vergegenwärtigt werden. Natürlich ist dieser Obere für den Gemeinde-Christen in Papst und Bischof irgendwo gegeben, aber die Ganzhingabe der Apostel an den Herrn – damit er ihr Leben gestalte – wird unausweichlich konkret im Verfügungsverhältnis des Bischofs gegenüber seinem Priester, des Ordensobern gegenüber seinem Untertanen.
Die Jungfräulichkeit ist unteilbar, nicht nur im Leibaspekt, sondern auch im geistigen. Mit andern Worten: die Ethik des Berufenen, was die geschlechtliche Sphäre angeht, wird ganz bestimmt vom jungfräulichen Leibverhältnis zwischen Christus und Kirche: ihre Ausschließlichkeit hat mit Prüderie oder übertriebenem Aszetismus nichts zu tun, es ist die Ausschließlichkeit des eucharistisch bis ins letzte hingegebenen Leibes Christi und – als Antwort des Berufenen darauf – die Ausschließlichkeit des Christo überantworteten Leibes des Christen, aus dessen gnadenhafter Fruchtbarkeit der Herr für die Erlösung der Welt ziehen kann, was er will. Der Tenor einer solchen Ethik läßt sich aus 1 Kor 6,12-20 heraushören.
Die Armut des Berufenen muß vor allem in überzeugender Weise die Armut des Volkes Gottes in der Welt, die ihm «Fremde» und «Wüste» ist, zur Darstellung bringen. Es ist Armut, die im Alten Bund eins ist mit dem Glauben (der nichts hat als Gott), im Neuen Bund eins mit der Liebe (die im Geist Gottes alles weggegeben hat). Die kanonischen Regelungen sind insofern erheblich, als sie diesen Geist unterstützen helfen und nicht im Gegenteil verdunkeln oder ihn als Glaubenszeugnis entkräften.
VI.
Wenn von den analogen Formen des Berufungslebens in der Kirche gesprochen werden soll, dann ist es viel wichtiger, die gemeinsame Verwurzelung im gleichen festzustellen als die Verschiedenheiten, die man leicht übertreibt, um allerhand «Spiritualitäten» der verschiedenen Stände wirkungsvoll voneinander abheben zu können. Um nicht durch freihändiges Konstruieren und Hinzukomponieren alles zu verunklären und zu nivellieren, wird man sich stets am biblischen Bild und seinem Relief ausrichten müssen. An ihm fällt die erste schon mehrfach besprochene Analogie auf: der Einzelne als solcher berufen zugunsten von Kirche und Welt; von ihm ist totale Disponibilität, somit Verzicht auf jede einschränkende Bindung gefordert. Dann der Einzelne als Glied der Kirche, die als Leib und Braut Christi (marianisch) von der gleichen Disponibilität zu Christus hin lebt und ihren Geist allen, die in ihr leben, mitteilt, im Gnadengehalt der Sakramente (darin auch der Ehe), des Wortes Gottes in der Schrift und in der Verkündigung der ganzen Lebendigkeit der Agape in der Kirche.
Diese Verteilung des kirchlichen Lebensgeistes an die Einzelnen geschieht nicht durch «Berufungen» im ursprünglichen Sinn, sondern hier tritt der Begriff des «Charisma» ein: er meint Gnadenzuteilungen, die den Einzelnen ebenfalls für die Gesamtheit in Dienst nehmen und ihm einen Sonderdienst «zumessen» (metron, analogia: Röm 12,3-6), in «Verfügungen» vom Haupt her (emerisen: Röm 12,3; edoken: Eph 4,11; didotai: 1 Kor 12,7f; etheto: 1 Kor 12,28), die, obschon weitgehend festgelegt (Röm 12,3-8), dennoch die Freiheit belassen, nach «den besseren Charismen zu streben». Die Verteilung der Charismen betrifft an allen Stellen, wo Paulus davon redet, primär den Lebensorganismus der Kirche; und an all diesen Stellen ist etwas wie ein fließender Übergang sichtbar zwischen dem hierarchischen und dem charismatischen Amt; für unsern Zusammenhang genügt es zu sagen, daß das hierarchische Amt sicher einen charismatischen Aspekt besitzt: als innerkirchliche Funktion (gewiß besonderer Art) für die auch eine besondere Amtsgnade (durch Handauflegung) mitgeteilt wird.
Damit tritt das Priestertum in eine doppelte Beleuchtung: es kann als «persönliche Berufung» in jenen die Kirche begründenden ursprünglichen Berufungsraum hineinreichen; es kann aber auch sein Schwergewicht im innerkirchlich-allgemein-charismatischen Raum haben, als ein darin ausgezeichnetes Amt. Hier geht eine schwer bestimmbare Trennungslinie hindurch, an der sich entscheidet, wieweit das Priesteramt mit dem ursprünglichen Berufungsleben (also neben Gehorsam auch Armut, auch Jungfräulichkeit) zusammengehört, und wieweit es, als ein innerkirchliches Charisma auch mit dem Eheleben verträglich sein kann. Die heutige Praxis (straffer Gehorsam, ungeteilter Zölibat, wenig betonte Armut) bedeutet hierin nichts schlechthin Befriedigendes, und es wäre biblisch durchaus vertretbar, wenn man sich etwa ein Priestertum der Zukunft in zwei deutlicher voneinander abgehobene Lebensformen aufgegliedert dächte: hier ein Leben aus der Ungeteiltheit der Räte, aus ursprünglicher Christusberufung, dort ein kirchliches Leben normalerweise verbunden mit der Ehe, mit vorwiegend kirchlicher Funktionszuweisung, die natürlich auf eine charismatische Eignung zu achten hätte.
Die Grenzlinie zwischen «Berufung» und «Charisma» verläuft, vom Subjekt aus gesehen, eindeutig dort, wo irdische, (kirchlich-weltliche) Zwecklosigkeit sich scheidet von irdischer, vom Menschen abschätzbarer Zweckgebundenheit. Zwecklosigkeit heißt: Übergabe der ganzen Existenz an Gott zu dessen freier Verfügung, wobei der sich Hingebende nicht einmal wissen will, wozu seine Hingabe verwendet wird. Wer in Kirche und Welt bekehrt sich durch die Kontemplation und die Buße einer Karmelitin? Sie weiß es nicht und begehrt von Gott keine Abrechnung. Wo wird ein Jesuit oder Dominikaner eingesetzt werden? Er weiß es nicht, und es ist ihm letztlich gleichgültig. Er steht zur Verfügung. Wo diese Haltung ist, kann Berufung sein. Wo ein Christ aber einen bestimmten Dienst versehen will, dessen Wichtigkeit ihm selber eingeleuchtet hat, und keinen andern, da kann Charisma sein.
Es kann natürlich auch im Raum der Berufungen Charismen geben, die aber nicht von gleicher Dringlichkeit sind wie die Berufung selbst. Die Berufung ist ein Akt zwischen Gott in Christus und dem Menschen, der seine ganze Existenz hingibt. Ob dieser Mensch eher Benediktiner als Kartäuser oder Weltpriester wird, ist eine weit weniger wichtige Frage. Die großen Orden, auf fundamentalen Berufungen eines Gründers wurzelnd, stehen im Raum der Kirche wie verfügbare charismatische Räume; vielleicht weist der berufende Herr auf einen besonderen hin, vielleicht läßt er die Wahl dem Berufenen weitgehend frei. Hier hat ein natürlich-übernatürliches Gezogenwerden, eine Vorliebe, ein Bewußtsein der Eignung Spielraum. Am stärksten wird das rein kontemplative Leben eine Art Sonderberufung erfordern, aber auch dies nur relativ.
Dasselbe hat zu gelten für Berufungen zu den neuen Weltgemeinschaften, die das Leben im weltlichen Beruf verbinden mit dem Leben vollkommener Disponibilität zu Gott gemäß den «Räten» des Herrn. Diese Berufungen unterscheiden sich, was das theologische Fundament angeht, in nichts von andern echten Berufungen. Sie machen ebenso ganze Sache wie etwa die Mönche, und sie verzichten zudem auf manche Erleichterungen, die das Kloster bietet (geregeltes Gemeinschaftsleben, geringere Gefahr für die Jungfräulichkeit, leichtere Bedingungen für den Gehorsam als in einem weltlichen Beruf usf.). Und wenn bei manchen Weltgemeinschaften eine menschliche Abzweckung mit der Gründung verbunden scheint (wie ja auch bei manchen Kongregationen), so ist einmal mehr zu erinnern, daß ohne tiefergehende zweckfreie Ganzhingabe der Mitglieder an Gott solche Gründungen nur wenig Frucht bringen werden. Dies ist mit aller Schärfe einer technisch denkenden jungen Generation entgegenzuhalten, die das christlich Sinnvolle am Maßstab des menschlich Zweckmäßigen messen möchte. Welchen «Zweck» hat es denn, daß Maria (die den besten Teil erwählt hat) den ganzen Tag zu Füßen Jesu sitzt und ihm zuhört? Tieferblickende Weltgemeinschaften rechnen deshalb gar nicht mit zählbaren Erfolgen. Sie stellen ihre Mitglieder als «gottgeweihte», zur Verfügung Gottes stehende Personen mitten in die unchristliche Welt, ohne ihnen auch nur ein bestimmtes organisiertes Apostolat im Sinn der Katholischen Aktion nahezulegen: durch ihre Ganzhingabe sind sie auf eine unsichtbare, da und dort vielleicht auch sichtbare Weise Sauerteig, in einer Art, die vom «Apostolat» eines kontemplativen Klosters vielleicht gar nicht fern ist.
Unter dieser Voraussetzung steht die Berufung zur Weltgemeinschaft ebenso nah am Quell aller echten Berufungen wie die zu irgendeinem Orden. Sie steht dort, wo die Proklamation Jesu «an die gesamte und vollständige Welt» ergeht «und an jeden Einzelnen im besonderen», des Inhalts, daß Jesus «die gesamte Welt» zum Vater heimführen will. Von der Kirche ist hier gar nicht die Rede: der Einzelne, der sich entschließt, «seine ganze Person für die Mühen» der Erlösung «anzubieten» (Ex. 95) steht als Repräsentant der Kirche neben dem Herrn, und Kirche im soteriologisch reinen Sinn ist die Gesamtheit derer, die ihre ganze Person dem Herrn zugunsten der gesamten und vollständigen Welt anbieten. Kirche so gesehen ist weniger die statische Hürde eingefriedeter Schafe als vielmehr die dynamische Ausstrahlung des Lichtes Christi in den dunklen Weltraum hinein, ein Übergangsbegriff zwischen dem Gottmenschen und der «gesamten und vollständigen Welt». Das Kloster ist «Stadt auf dem Berge», der äußern Gestalt nach ein Modell der statischen Kirche. Die Weltgemeinschaft ist untergehender Sauerteig, kaum oder gar nicht feststellbar, unumfriedet der Welt gegenüber. Man hüte sich, die «evangelischen Räte» als eine Abgrenzung gegenüber der «bösen» oder «gewöhnlichen» Welt anzusehen: sie sind pure Exponiertheit, christliches Geliefertsein, eucharistisches Verteiltsein (auch und gerade die Jungfräulichkeit), oder dann sind sie gar nichts. Niemand, der das richtig bedenkt, wird behaupten, der Weg der Weltgemeinschaften sei «leichter» als Ordensleben oder Priestertum, oder sei ein Kompromiß mit der Welt.
Natürlich lassen sich sekundär auch eine Menge zweckhafter Gesichtspunkte für die Aktualität der Weltgemeinschaften anführen. Vor allem, daß sie an Milieus herankommen, die dem Priester und den Ordensleuten im allgemeinen nicht zugänglich sind und eben deshalb der Betreuung am meisten bedürfen; daß sie für das Berufsethos der weltlichen Berufe durch berufliche Kompetenz große Dienste leisten können, daß die Mitglieder nicht, wie Familienväter und Mütter, durch die Pflichten der Familie absorbiert werden und weniger auf Finanzielles Rücksicht zu nehmen brauchen, also auch im Sinn der Caritas disponibler sind, daß sie in kommenden Verfolgungszeiten möglicherweise die (noch einzig verbleibende) große Hilfe für die Kirche sein werden. Schließlich daß ihre Mitglieder, als echte Laien, die zugleich nach den Räten leben, die tausendjährige Kluft zwischen den kirchlichen Ständen wirksam überbrücken helfen, und was der Gründe mehr sind.
VII.
Bisher wurde Berufung vor allem von der Haltung des Berufenen her beleuchtet; aber nach dem ersten Beginn unserer Untersuchung hängt Berufung wesenhaft an der Freiheit des Berufenden. Diese Freiheit, die, im Spätmittelalter hervorgehoben, bei Ignatius das Christusbild ganz beherrscht, enthebt uns der Problematik der mittelalterlichen Vollkommenheitslehre: das Räteleben ist vollkommener als das Leben der bloßen Gebote, wer daher vollkommen sein will, müßte jenes wählen. Aber Christus ist es, der ruft, wen er will, wann und wie er will. Ob der reiche Jüngling aus Berufung oder aus Neugierde zum Herrn kam, ist ungewiß, der Herr erlaubt ihm den Weg, mehr läßt sich nicht sagen. Andere, die Jesus um Aufnahme in den Jüngerkreis baten, hat er zurückgewiesen und deutlich in den «Weltstand» als den für sie gottgewollten Stand versetzt (Lk 8,38-39). Die Vollkommenheit besteht für jeden darin, den Willen Gottes über ihm zu tun. Das hindert nicht, daß Matthäus (20,16; 22,14) die Zahl der Berufenen weit größer sieht als die Zahl derjenigen, die ihre Berufung auch wirklich ergreifen.
In der Überlegung, daß ein Glaube, der sich zur vollen Disponibilität für Gottes eventuellen Ruf durchringen und durchläutern kann, ohne daß Gott dadurch gezwungen würde, ihn im ursprünglichen Sinn zu berufen, liegt der Zugang zum Gedanken, daß vollkommene christliche Liebe der Maßstab jeder christlichen Vollkommenheit sei. Erst hier liegt dieser Zugang, weil anderswo die Täuschung fast (oder ganz) unvermeidlich ist, der Mensch wisse von sich her, was Liebe ist und wie sie ausgeübt wird, während in Wahrheit der Sinn für die göttliche Liebe dem Menschen erst aufgeht, wo er in der vollen Bereitschaft vor Gott steht, sich mit Jesus Christus – aus Liebe – auf den Weg des vollkommenen Verzichtes und schließlich des Kreuzes führen zu lassen. Des Verzichtes nicht auf die Liebe (zum Beispiel in der Ehe), sondern auf alle verborgene Ichsucht im Eros und in der ganzen Familiengemeinschaft. Um dieses Gesichtspunktes willen (daß «die Liebe das Band der Vollkommenheit ist») nun aber den Ausdruck einer christlichen «Berufung zur Ehe» einführen wollen, hieße sich nicht nur vom Sprachgebrauch der heiligen Schrift, sondern auch von ihrer gesamten theologischen Auffassung von Berufung entfernen. Die Theologie der Berufung hat in der Schrift eine präzise, klarumrissene Gestalt, die durch solche Nivellierungen um ihre ganze innere Kraft und existentielle Auswirkung gebracht wird.
Der wahre Ausgleich liegt nicht in der Nivellierung, er liegt im Gedanken, daß Berufung immer Expropriation zugunsten der Andern besagt, daß also, neutestamentlich ausgedrückt, der «Größere unter euch» als Diener aller der Geringste sein soll und es tatsächlich ist. Und wie der Herr selbst, so redet Paulus, wenn er als Apostel sich auf dem letzten Platz weiß und von dort aus nicht ohne bittere Ironie die Korinther auf die kirchliche Dialektik aufmerksam macht: «Wir schwach, ihr stark; ihr geehrt, wir verachtet» (1 Kor 4,10). Diese Dialektik ist schlechterdings unauflösbar, weil Christus gehorsam und arm bis zum Tod ist, damit wir frei und reich in Gott werden; und es für den in die Kreuzesnachfolge Berufenen gleichgültig ist, wie man ihn weltlich einstuft (1 Kor 4,3), er ist einer, der mit Christus in die Armut und Verachtung absteigt und darin einen Vorzug nur sehen kann, weil Christus diesen Weg für ihn gegangen ist. Man sollte an dieser Stelle nie vergessen, daß die Jungfräulichkeit, die für uns (Marias wegen) mit einer Ehrenkrone geschmückt erscheint, in Wahrheit doch ein Zeichen der Schwäche, der Vergeblichkeit und der Schande ist, vom Alten Bund her eindeutig; daß die Unfruchtbare (oder Sitzengelassene) gebiert, ist ein Zeichen der Macht Gottes in der menschlichen Ohnmacht. Zumal der jungfräuliche Mann, der außerhalb der Kirche oft der Verachtung und Verdächtigung begegnet, darf diesen Gesichtspunkt nicht übersehen. Die Dialektik bleibt weltlich unauflösbar und weist eben damit auf ihren Offenbarungsgrund hin.
VIII.
Es gibt Grenzfragen zwischen der Theologie und der Pastoralpsychologie der Berufung (die letztere zu behandeln, würde den Rahmen dieser Skizze überschreiten). Wir heben drei solcher Grenzfragen heraus.
1. Berufungen sind nur ausnahmsweise nicht durch den Menschen vermittelt, normalerweise sind sie vermittelt. Die Apostelberufungen bei Johannes (1,35-51) sind doppelt vermittelt: einmal durch den Täufer, der die beiden ersten Jünger Jesu so erzogen hat, daß sie seinen Hinweis auf das Lamm Gottes sogleich verstehen, ihn verlassen und Jesus nachfolgen; dann durch die Jünger selbst, sofern Andreas den Petrus wirbt, und Philippus den Nathanael. Berufung ist seinshaft fruchtbar zu neuen Berufungen, auferlegt aber auch bewußtseinshaft die Pflicht zum Berufungsapostolat. Von hier die schwere Verpflichtung nicht nur der Ordensleute (etwa in Kollegien), sondern des gesamten Klerus, in Predigt und Katechese auf den Weg der Vollhingabe als den archetypischen Christenweg nachdrücklich hinzuweisen: auf ihm ruht einmalig (in den Aposteln und Maria) und immermalig die Kirche. Die innerkirchlich mächtig entgegenstehenden Ideologien, die heute der Jugend Eindruck machen, sind aus der Tiefe und Fülle des Wortes Gottes und aus der Klarheit des Nachfolgegedankens zu widerlegen. Dabei sollen die Anregenden den Berufungsweg im allgemeinen aufzeigen, Weltklerus sollte nicht so reden, als sei der Weltklerus das einzig Seligmachende, Ordensleute nicht so, als sei ihr Orden der einzig in Frage kommende. Orden und Weltklerus sollen sich nicht verschwören, den neuen, von der Kirche so stark befürworteten Weg der Weltgemeinschaften als unerheblich, unerprobt, gefährlich oder als Halbheit zu diskreditieren. Ganz widersinnig und charakterlich minderwertig ist es, ältere weibliche Kongregationen mit bestimmten karitativen Zwecken – Spitälern, privater Krankenpflege, Schulen, Waisenhäusern – als «überlebt» zu belächeln, und dabei doch ihre völlig unentbehrliche Hilfe mit Selbstverständlichkeit in Anspruch zu nehmen. Alle sollen einerseits die Ganzheit der kirchlichen Lebensformen und anderseits ihre Formenfülle im Auge haben. Allerorten ist immer etwas zu reformieren; das geschieht sinnvoll weder durch Sarkasmen noch durch äußerliches aggiornamento (indem man Fernsehapparate einführt und Klausuren aufhebt), sondern durch Rückbesinnung auf die Absicht der Gründer, tiefer: auf die Bedürfnisse des Herrn der Kirche im Hinblick auf die Erlösung der Welt.
2. «Jede Berufung, die von Gott kommt, ist immer lauter und durchsichtig» (Ex. 172), sie ist nicht fraglich, wahrscheinlich und deshalb quälend, sondern, im Augenblick des endgültigen Jaworts des Menschen dazu, hundertprozentig, und deshalb beruhigend und freudig. Die Durchsichtigkeit kann aus verschiedenen Gründen ausbleiben: aus ethischen Gründen im Berufenen: er bringt sich selbst nicht bis zur vollen Disponibilität, sondern hält an Bedingungen und Vorbehalten Gott gegenüber fest (diese abzubauen ist bekanntlich der Hauptzweck der ignatianischen Exerzitien). Aber auch aus Ursachen, die der sich berufen Glaubende nicht ausschalten kann, wie Unfähigkeit zum jungfräulichen Leben (1 Kor 7,9), unbehebbare kirchliche Hindernisse. Gott will einen freudigen Geber, auch wenn die Gabe vielleicht immer mehr zum Kreuz wird; fehlt die ursprüngliche Gebefreude (wie bei Leuten, die den Weg der Räte oder des Priestertums wählen, weil er der schwerere ist: das ist imgrunde Ehrgeiz), dann ist die Berufung nicht echt.
3. Berufungen können objektiv und subjektiv abgestuft sein. Objektiv kann es sehr wohl Abstufungen in der Dringlichkeit geben, mit der ein Ruf vom Herrn her ergeht. Sie kann so groß sein, daß sich Gott des Menschen, den er braucht, einfach bemächtigt, beinah ohne ihm Raum zur Zustimmung zu lassen, ihn überwältigt wie Paulus (vgl. 1 Kor 9,16-17), oder ihn umwirft wie Nathanael, ihn einfach «mitnimmt» wie Philippus und Matthäus. Der Ruf kann aber auch eine gleichsam bittende Einladung sein, mit jener gottmenschlichen Diskretion vorgetragen, die auf des Menschen Verständnis und freie Entscheidung baut. Er kann schließlich so etwas sein wie eine Erlaubnis, die aus Liebe dem Menschen, der es wünschte, diesen Weg freigibt (Mt 19,16f). Davon zu unterscheiden ist die subjektive Abstufung in der Weise, wie ein Mensch den Ruf vernimmt: plötzlich und mit dem unabweisbaren Wissen, von oben her angesprochen zu sein, oder allmählich und gleichsam von innen her überredend, oder aus der eigenen vernunfthaften Überlegung heraus, daß er sich als ein Glaubender, der sein ganzes Leben auf seinen Glauben hin ausrichten will, am liebsten Gott zum vollen Dienst anbieten möchte.
Die jungen Christen, die sich mit Berufungsfragen befassen, brauchen aufs dringendste Führung durch erfahrene, betende, geistlich überlegende Persönlichkeiten, heute noch dringender als je zuvor in der Kirchengeschichte, da die ganze Atmosphäre der Kirche verpestet ist mit theologisch ungedachten, kurzatmigen, oft geradezu «halbstarken» Schlagworten und Ideologien. Es wäre wünschenswert, wenn Verantwortliche aus allen Ständen – Priester, Ordensleute, Laien – sich zusammenfänden, um die Probleme der Berufungen heute theologisch weiter zu klären und zusammen nach Wegen der Verwirklichung zu suchen.
Hans Urs von Balthasar
Título original
Berufung
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Temas
Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2022Tipo:
Artículo
Fuente:
Zur Pastoral der geistlichen Berufe. Zum Welttag der geistlichen Berufe am 24. April. Freiburg: Informationszentrum Berufe der Kirche, 1966, 3–15. Aufgenommen in: Hans Urs von Balthasar, Verkaufe alles und folge mir nach. Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg 2015, 15-51
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