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Verstehen oder Gehorchen?
Der Stein, der Baum, das Tier stehen als Ganze im Gesetz der Natur. Wie von einer unwiderstehlichen Strömung werden sie vom Schicksal dahingetragen, sie tun nur, was die innere Stimme ihrer Schwerkraft, ihrer Entelechie, ihres Instinkts ihnen einflüstert. Die innere Heile, die Luft, die Befriedigung ihres Daseins ist unvermittelt eins mit ihrer Natur: Sie wissen von keiner Spaltung zwischen «Verstehen» und «Gehorchen». Der Mensch aber ist das freie und vernunftbegabte Lebendige. Wenn auch in seinem tierhaften Wesen seine Verwirklichung übereinfällt mit seinem Schicksal, seine natürliche Richtigkeit mit seinem Gehorsam, so hat er doch in seinem geisthaften Wesen Abstand von diesem Schicksal, Freiheit von diesem Gehorsam. Seine Größe und seine Fragwürdigkeit, sein Adel und sein Fluch liegen in dieser Möglichkeit, sich zurückzuwenden gegen sein eigenes Wesen, in der Re-flexion. In der hinreißendsten Umarmung kann er sich urplötzlich gegen den Strom der Luft umwenden, der ihn dahinträgt, kann er sich eiskalt über die Schulter schauen, wie der Tod in Böcklins Selbstbildnis. In dieser Distanz muß er aufweinen über das fremde Gesetz, das die Luft und die Zeugung ihm auferlegen, über sein Mittel-Sein dort, wo er Ziel zu sein glaubte, und indem er «versteht», daß er «gehorchen» muß, versteht er zugleich, daß sein «Verstehen» und sein «Gehorchen» nicht übereinfallen, versteht er den tragischen Riß in seiner ursprünglichsten Anlage. Die «romantische Ironie» ist nur der zerrissene Ausdruck dieser urmenschlichen Situation.
So erhebt sich für den Menschen die Frage, auf welchem der beiden Pfade, auf dem des Verstehens oder auf dem des Gehorchens, zuletzt für ihn das Heil und der Ausweg liegen. Soll er als homo sapiens die tierhaften Bindungen seiner blinden Natur überfliegen und vom Geist aus sein Verstehen wie einen Sauerteig in das naturhafte Schicksal einsenken, um es aus einem zwangshaften in ein freies, vernünftiges umzuwandeln und es so sich erst wirklich anzueignen, oder soll er als homo faber seine überlegende Distanz nicht dazu verwenden, um mit um so größerer sittlicher Kraft sein Schicksal auf sich zu nehmen, den Strom, auf dem er hintreibt, in seiner Richtung zu bejahen, die über-weltliche Kraft seiner Reflexion benützen, um die Weltlichkeit der Welt voll zu verwirklichen?
Der Gegensatz dieser beiden Möglichkeiten tritt vielleicht, in dieser noch abstrakten Form, nur matt und schattenhaft zu Tage. Er scheint der auflösenden Versöhnung nahe zu sein. Aber diese erste Empfindung täuscht. Wir müssen im Folgenden erst die ganze Tiefe der Kluft aufreißen, um die Situation ganz in den Blick zu bekommen. Und weil doch das geisthaft-freie Verstehen des Menschen eigentümliches Angebinde ist, so gilt es zuerst, den Umfang dieses Verstehens abzuschreiten.
Die «tragische» Rolle des Verstehens erschöpft sich in keiner Weise darin, in Gegensatz zu treten zum naturhaft beschränkten Einzelwesen, und seine schicksalshafte Vereinzelung, Unvermittelung durch die «Allgemeinheit» und «Notwendigkeit» des Denkens bloßzustellen. Das Denken ist an sich, wie Hegel es so tief erfaßt hat, gerade die Vermittelung, Mediation, Verbindung und Versöhnung des Einzelhaft-Zufälligen im «höheren Medium» des Allgemein-Notwendigen. Gerade als Aufhebung der tragischen Vereinzelung vollstreckt das versöhnliche Denken den Urteilsspruch über das tragisch Vereinzelte, läßt es diese Vereinzelung, die dem Tiere unbewußt bleibt, hervortreten und fügt es der Natur, die es zu «erlösen» gedachte, den Todesstreich zu. Der Geist ist schon wirklich, wie Nietzsche es begriff, das Leben, das sich selbst ins Leben schneidet. Das Medium des Allgemeinen, in dem der verstehende Geist sich zu entfalten und zu atmen beginnt, ist eine zu dünne Luft für das Leben, es welkt darin und stirbt ab. Es ist ein Leichtes, diesen wunderlichen Widerspruch in verschiedenen Bezirken des Daseins aufzuweisen.
Die zarteste, dem Leben scheinbar am nächsten stehende Form des Verstehens ist die ästhetische Einfühlung. Denn von der vitalen Eins-fühlung, die auch die Tiere unter sich verbindet und verständigt, ohne sie aus dem mütterlichen Zusammenhang des Allebens zu reißen, scheint es bis zur geisthaften, verstehenden Einfühlung nur ein unmerklicher Schritt zu sein. Der künstlerische Mensch scheint mit den Kindern, die sich vom Alleben noch nicht losgelöst haben, jene Hellsichtigkeit und Feinfühligkeit gemeinsam zu haben, welche ihm erlaubt, in die Dinge einzutreten, als besäßen sie keinen stofflichen Widerstand, ihr Leben geheimnisvoll mitzuleben und andeutungsweise, in Bildern und Vergleichen, auszusagen. Der Dichter «versteht», anscheinend ohne das Mysterium des Schicksals zu profanieren. Und doch sagt uns schon das unabänderliche, gutmütig-verächtliche Lächeln, das den Dichter auch in den Zeiten begleitet hat, da er noch als der Seher der inwendigen Natur und des Göttlichen galt, daß gerade er weit entfernt ist, durch seine «Einfühlung» auch seinen «Gehorsam» zu leisten. In aller Kunst liegt ein Gran Flucht, in aller Ästhetik ein überdeckter Widerspruch zur Existenz, so ungerecht und verzeichnet auch die Schilderung sein mag, die Kierkegaard von diesem Widerspruch gegeben hat.
Was aber im Ästhetischen verhüllt da ist, das bricht offener aus im Politischen. Das Politische sieht, weil es wesenhaft Verwirklichung eines partikulären Programms in Tat und Gehorsam ist, mit Recht seinen ärgsten Feind in jener einfühlend-verstehenden Ästhetik, die das «relative Recht», das «Körnchen Wahrheit» in allen entgegengesetzten Teilprogrammen verteidigen möchte. Das Politische, als die entschiedenste Form schicksalswilligen Gehorsams, hat das Recht und die Pflicht, «ungerecht» zu sein gegen unvereinbare Entwürfe und damit gegen die Absolutsetzung des «Verstehens» selber. «Alles verstehen heißt alles verzeihen» oder doch alles bejahen und gutheißen: diese Maxime des ästhetischen Menschen ist der Tod der politischen Existenz. Die praktische Unvereinbarkeit alles Guten und Wünschenswerten sanktioniert die «Verständnislosigkeit» und darum die Grausamkeit des Politischen. Aber dieser abstrakt eindeutige Satz schließt nicht aus, schließt vielmehr ein, daß der große politische Mensch, um eben die nötige Blickschärfe für die Wahl des relativ Besten und für den Gehorsam der schicksalhaften Konstellation des Augenblicks zu haben, «verstehend» über der Parteien Streit und Hader zu stehen hat. Das Verstehen breitet vor ihm ein (im Grenzfall) indifferentes Material von Möglichkeiten aus, aus dem er eine herausgreift, sich ihr auf Gedeih und Verderb verschreibend, Ziel, Sinn und Glück liegen, im verwirklichenden Gehorsam. Aber eben von diesem Grenzfall aus kann dem politisch Handelnden, wie dem das Politische unbeteiligt Betrachtenden, die Fragwürdigkeit solchen Tuns aufgehn: das Material der Möglichkeiten überblickend und «verstehend» kann in ihm der eisige Verdacht aufsteigen, daß es «im Grunde gleichgültig sei», auf welcher Seite man stehe, daß der eigentliche Wert im «gehorchenden Einsatz seiner selbst» liege, daß das naturhafte Schauspiel aufeinanderprallender Heroismen, wie es der Nibelungen Not darstellt, ein letztes Erreichbares und auch Wünschbares sei. Und dann ist es nur noch Sache der Veranlagung, ob der also Verstehende sich blindlings ins Handgemenge stürzen will oder, abermals ästhetisch, das Ganze aus der Ferne als Schauspiel zu genießen vorzieht, kampflos und unpolitisch. Radikales «Verstehen», das sich über den «Gehorsam» erhebt, endet demnach hier entweder in der Verachtung des Schicksals oder in der seiner selbst.
Die reinste, untragischste Entfaltung des Verstehens scheint sich im Gebiet des theoretischen Denkens vollziehen zu müssen. Denn wenn hier die existentielle Enge der politischen Gegensätze sich als festgefahrene, partikuläre Gegensätze der «Schulen» spiegelt, so scheint es doch, in geradem Gegensatz zum Politischen, die Aufgabe jedes wahrhaft großen Denkers zu sein, diese verholzten Antithesen zu lockern, das «Quentchen Wahrheit» jedes Standpunkts nicht nur synkretistisch zu amalgamieren, sondern schöpferisch zu versöhnen und fruchtbar füreinander werden zu lassen. So haben Plato und Aristoteles die naive Naturphilosophie und die kritische Sophistik ineinander aufgehoben, so haben Patristik und Scholastik an der Überwindung des Particular-Platonischen und Particular-Aristotelischen gearbeitet, so hat Leibniz Scholastik und Naturwissenschaft, so hat Kant Leibniz und Hume zu versöhnen versucht, bis endlich Hegel die allversöhnende Bewegung des Denkens und Verstehens zum Inhalt und zur Form des Denkens selber erhob. Indem das Denken hier alle im Partikulären entgegengesetzten Gedanken und Systeme durchglüht und in die große Gesamtwahrheit einschmelzt, «versteht» es alles und «gehorcht» es nur sich selber; der Widerspruch von Freiheit und Schicksal, Schaffen und Erleiden ist überwunden und unter uns zurückgelassen. Und doch ist auch diese Lösung ein Schein. So wahr es sein mag, daß ein wahrer Denker sich niemals in die Enge eines «Systems» einpferchen lassen wird, das einem andern ebenbürtig gegenübersteht (wie Platonismus gegen Aristotelismus, Thomismus gegen Skotismus, Suarezianismus gegen Bañezianismus, Rationalismus gegen Empirismus usw.), sondern in diesem Gegensatz stets nur den Anreiz und Anfang des wahren Philosophierens entdecken wird, so wenig wird er sich aber auch mit der hegelschen Enzyklopädie, die jedem Teil des Gesamtwissens sein Plätzchen und seine Schublade anweist, beruhigen. Er versteht, daß das umfassende All-Verstehen nichts Statisches sein kann. Ist es aber (wie Hegel selbst es wollte) Dynamik und Bewegung, dann gilt von zwei Dingen eines. Entweder strebt dieses Verstehen einem allgemeinen, absoluten Wissen entgegen und «verlangsamt» damit seine Bewegung, je näher es diesem Wissen kommt. Dann aber gerät es zu sich selbst in Widerspruch (da es doch wesenhaft Bewegung, ewige Selbstüberwindung sein soll) und verfällt dem gerechten Spott Kierkegaards, der höhnisch fragt, warum Hegel, nach dem Abschluß der Phänomenologie und gar nach dem der Logik, sich doch wieder ins Werden und Bewegen stürzte, um die Enzyklopädie zu schaffen. Oder das Verstehen versteht sich als die reine, unabschließbare Bewegung, als die reine, immer neue Verflüssigung aller partikularen Ergebnisse, den reinen Eros, den reinen Aufschwung, die reine Luft der offenen Unvollendbarkeit der Welt. Dann entstehen die genialen Fragment-Schutthaufen eines Novalis, Friedrich Schlegel, Nietzsche, die der Widersprüche zu zeihen die größte Torheit wäre, da sie doch eben vom Widerspruch leben. Aber Verstehen löst sich damit in reine «Lebensweisheit» auf, in der das größere Wahrheitsmoment nur noch die größere Spannkraft, der glühende Elan ist, nicht mehr aber das objektiv Verstandene. Das gilt zuletzt doch auch von einer gemäßigteren Form des dynamischen Denkens, die im Verstandenen weder ein absolutes Wissen noch auch einen indifferenten Anlaß zum formalen Schwung des Verstehens, sondern ein Gleichnis, ein Symbol, einen «Mythos» sieht, durch dessen bedeutsame Erscheinung hindurch ein Endgültiges sich verhüllt offenbart. Denn auch dieses mythische Denken führt uns, wie das rein dynamische, unversehens wieder in die nächste Nähe der ästhetischen Grundhaltung. Der «allverstehende» Mensch ist als solcher gerade nicht das, was er sein möchte: der Mensch, der jede konkrete Situation von innen her bewältigt und durchlebt. Die verstehende Einfühlung in die innere Weisheit des Lebens ist als solche nicht identisch mit dem – gehorsamen Fühlunghalten mit derselben (gewiß jeden Augenblick neuen, dynamischen systemlosen) Weisheit des Lebens. Wenn das Verstehen im Theoretischen sich die Lebendigkeit des Daseins nicht restlos entgleiten lassen will, so ist es jeden Augenblick an einen restlosen Gehorsam dem Gesetz des Lebens angewiesen. Das Ewig-Empirische im Denken setzt dieses nicht nur provisorisch, nicht nur zufällig, nicht nur äußerlich, sondern wesensnotwendig und endgültig auf die Schulbank zurück. Nicht nur in den sogenannten empirischen Wissenschaften muß sich die selbstherrliche Freizügigkeit des Verstehens beugen und brechen unter den Gehorsam der Tatsachen, auch in den scheinbar apriorischsten Sätzen der Philosophie (wenn anders diese nicht zu einem toten, abstrakten System verdorren, sondern die je und je sich vollziehende lebendige Auslegung des Daseins sein soll) ist Verstehen jeden Augenblick nur das nachträgliche Sich-Erhellen der radikalen Unbegreiflichkeit jeder neuen Daseinssituation, die als Situation nur in einem gehorchenden Fühlunghalten mit dem Lebenssinn richtig gelebt werden konnte. Theoretisches Verstehen ohne Gehorsam wird unfruchtbar und geradezu unsittlich; so notwendig auch sein Überschuß über die konkrete Situation (wie im Politischen) diese erhellen kann und muß, so sehr widerspricht doch immer auch das «eine Notwendige» in der Situation (die also für den Augenblick das «eine Wahre» ist) dem «vielen Wahren» des Verstehens und straft es Lügen.
Indem wir so bereits von der «Ethik» des Denkens gesprochen haben, ist es ein Leichtes, das Problem von der Ebene des Theoretischen auf die des Ethischen als solchen hinüberzuführen. Gerade das über Situationen Gesagte ist geeignet, dem Ethiker Mißtrauen einzuflößen gegen eine abstrakte, auf alle Situationen a priori zugeschnittene Ethik, und Péguys brillanten Aphorismen über eine «morale souple» gegen eine «morale rigide» Beifall zu spenden. In der Tat, wenn sich auch die abstrakten Grundspielregeln sittlichen Verhaltens an der abstrakten Struktur der menschlichen Natur und ihren Forderungen ablesen lassen, so gilt es doch einerseits nicht außeracht zu lassen, daß diese «Natur» eben nicht nur «Natur», sondern auch «Geist» ist, und der Geist (auch der geschaffene) in der freien Selbstbestimmung seinen Kern hat. In die Sphäre dieser unberechenbaren Freiheit fallen die tiefsten Begegnungen zwischen Mensch und Mensch, wie die Berührungen zwischen Geschöpf und Gott. Keine Ethik vermag die schöpferische Vielfalt und Buntheit der möglichen Situationen auszuschöpfen, ja sie verschließt sich, in ihrem Eifer das Konkrete einzuholen und zu bändigen, nur in die Irrgänge eines (als Haltung gerade hoffnungslos abstrakten) Kasuismus1. Hier aber, im Bereich der «Situationen», scheint sich das weiteste Feld dem «Verstehen» zu öffnen. Dieses begreift in der Tat die Berechtigung der Rede von der Relativität des Ethischen, und dies gerade nicht aus «Laxismus», sondern im Gegenteil, weil das Ethische jeder einzelnen Situation einmaliger, unerbittlicher, anschmiegender auf den Leib rückt. Der tief verstehende Arzt, Priester, Seelenführer ist immer zugleich «sehr weit» und «sehr unerbittlich». Er sprengt ohne Scheu die engen Rahmen der «Moralität», aber nur um dem aufatmenden Patienten oder Beichtkind die härteren Forderungen der menschlichen oder der göttlichen Liebe zu zeigen. Aber es ist zugleich deutlich, daß all dies sich nur im Rahmen des oben aufgezeigten, hier noch strengeren Gehorsams abzuspielen vermag. Das Verstehen schweift hier noch weit weniger als im Theoretischen in einer widerstandlosen Luftleere herum, es bewährt sich vielmehr gerade nur in der demütigsten Beugung unter das jeweilige Schicksal des sittlichen Augenblicks. Trotz alledem ist anderseits auch für den verstehenden Ethiker die Gefahr des «Ungehorsams» eine besonders bedrohliche. Denn sobald er nur ein wenig aus dem Handgemenge des Augenblicks emportaucht und Abstand gewinnt, muß sich ihm das Weltbild des Predigers entrollen mit seinem unheimlichen, stumpfen Relativismus der Situationen selbst: «Alles hat seine Zeit …, Zeit der Geburt und Zeit des Sterbens, Zeit des Pflanzens und Zeit des Jätens, Zeit des Tötens und Zeit des Heilens, Zeit des Zerstörens und Zeit des Aufbaus, Zeit des Weinens und Zeit des Lachens …, Zeit der Umarmung und Zeit der Enthaltung …, Zeit der Liebe und Zeit des Hasses.» Aber wenn der Prediger dieses Schauspiel zugleich als «sehr gut» und als «das ewig Alte unter der Sonne» bezeichnet (Iwan Karamasows Teufel würde drastischer sagen: «Das ist ja die allerunanständigste Langeweile»), dann ist das der Ausdruck einer abgründigen Müdigkeit vor dem Schaustück der Welt, es ist zugleich das Heraustreten aus der Spielebene und die unabweisbare Ahnung, daß Gott immer hinter beiden steht, hinter Leben und Tod, Heilen und Töten, Lieben und Hassen. … Die Situation verblaßt, und eine unerhörte Vision des «Ganzen» schimmert durch. Zu Beginn seiner Beschauung über die Menschwerdung fordert uns Ignatius von Loyola auf, uns in diese Vision aufzuschwingen: «Der erste Punkt ist, daß ich die Personen betrachte, die einen und die andern, und zunächst die auf der Fläche der Erde in so großer Verschiedenheit, so in Kleidung wie in Handlungen; die einen weiß, die andern schwarz, die einen im Frieden, die andern im Krieg, die einen weinend, die andern lachend; die einen gesund, die andern krank; die einen bei der Geburt, die andern vor dem Tode.» Diese Vision, in der der absolute Gegensatz des irdischen Schauspiels in einen relativen lockert, diese Vision, welche die tiefste irdische Religion, den Buddhismus, in seiner Tiefe bedingt hat, diese Vision, in der Augustinus das Wort ausruft: «Gott, durch den das All auch mit der linken Seite vollkommen ist, Gott, zu dem kein Widerklang bis ins Äußerste ist, da je Böseres und je Besseres zusammenklingen» – diese Vision führt mit unerbittlicher Folgerichtigkeit doch wieder zu jener Entnervung der ethischen Situation, von der wir uns eben noch so weit entfernt glaubten. Denn jetzt handeln wir zwar, als ob es einen absoluten Ernst und eine absolute Wahl und Entscheidung gäbe, wir schmiegen uns so gehorsam, so verstehend wie nur möglich in die Forderung der Stunde ein, aber wir können doch nicht mehr anders, als uns gleichzeitig über die Schulter hin zuzuschauen, wie wir nur Rädchen sind im großen schwingenden Ganzen, in dem alle Widersprüche versöhnt sind; und wir geben Hölderlin recht: «Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder.»
Der Widerspruch von Verstehen und Gehorchen und die Problematik des ersten erreicht den Höhepunkt im Religiösen, dieses in seiner konkreten Form als Offenbarung und Kirche verstanden. Freilich sind wir bei «Offenbarung» von vornherein geneigt, den Anteil des gläubigen Gehorsams größer anzusetzen als den des Verstehens. Aber dennoch ist Offenbarung eben die Kundwerdung der ewigen Liebe und der über alles Erwarten hinaus wunderbaren Versöhnungen dieser Liebe. Werden also nicht hier alle Versöhnungsversuche und -ahnungen des theoretischen und des ethischen Weltbildes neue Beteuerung sich holen und, gleichsam sanktioniert durch Gottes gnädige Erhebung des Menschen an Kindes Statt, dem innersten Liebesgeheimnis Gottes kindlich-hemmungslos ans Herz fliegen? Ermutigen uns nicht da und dort aufblitzende Worte der Schrift, die Theologen umsonst zu verdunkeln sich bemühten (Röm 5; 1 Kor 15,24ff.), und das Bedürfnis unserer Liebe, daß keiner unserer Brüder, der Menschenantlitz trägt, uns auf ewig entrissen werden möchte? Freilich, wir wissen dabei, daß wir aus solcher Ahnung oder Liebesgewißheit kein trockenes System, nicht einmal eine Geheimlehre machen dürfen, wie einst Origenes. Aber auch so, wenn wir die Ahnung vor uns selbst als das selige Geheimnis verhüllt halten, bringen wir dann noch den Schwung der Spannung auf, die uns in allem Ernst vor die Möglichkeit ewiger Verlorenheit stellt? Origenes weiß von diesem Widerspruch, und dieser Widerspruch reißt sein ganzes Denken wie ein Blatt Papier entzwei. Wüßten wir unser (seliges) Ende, sagt er einmal, so «würde der Widerspruch eintreten, daß einer zugleich zur sittlichen Güte gelangt und voraus weiß, daß er durchaus gut sein wird. Denn zu dem, was wir von Natur besitzen, ist uns ein unbändiger Schwung und eine gewaltige Spannung vonnöten …, das vorausgenommene Wissen aber … lähmt die Anstrengung.» Das Problem wird noch schärfer und schmerzlicher, wo es um die konkrete Form religiöser Gemeinschaft, um die Kirche, geht. Denn wenn wir wissen, daß «außer der Kirche kein Heil ist», daß also hier der unterwürfige Gehorsam unter diese kontingente Kirche alleinseligmachend ist, so läßt doch das Evangelium weite Ausblicke offen in die Dimensionen der «unsichtbaren» Kirche, deren Grenzen sich ganz und gar nicht mit denen der «sichtbaren» decken. Viele, sagt Augustinus, sind drinnen, die draußen scheinen, und viele sind draußen, die drinnen scheinen. Hier, wo wir also zu einem fast «blinden» Gehorsam aufgerufen sind, weil wir sogar wissen, daß die Grenzlinien anders verlaufen, als wie wir sie verteidigen müssen, wo wir oft genug mit Feinden gegen Brüder kämpfen und im Nahkampf auf Leben und Tod plötzlich das Antlitz eines Freundes vor uns zu erkennen glauben, hier ist die Unversöhnlichheit von Verstehen und Gehorchen auf ihrem Höhepunkt. Der Riß geht uns mitten durchs Herz, und wir sehen keinen Ausweg.
Wir haben bisher vom Verstehen gesprochen, aber im Grunde ist überall das Gehorchen schon mitgezeigt worden. Beides, so unversöhnbar es erschien, hat sich immer gefordert wie Gewicht und Gegengewicht. Am Ende alles Verstehens lag entweder die Selbstauflösung und der Tod des lebendigen Lebens, oder die dringliche Forderung, den Weg sogleich abzubrechen und unter das Gesetz des Gehorsams zu treten. Das nichtverstehende Tun erschien als die erlösende Rückkehr in die naturhafte Gesetzlichkeit des Lebens nach tötender Aus- und Abschweifung. Aber das Entscheidende für uns liegt nicht in der banalen Festftellung, daß die «Theorie» aus sich zur «Praxis» drängt, daß das bloße Denken leer bleibt ohne Tat, es liegt vielmehr darin, daß das Verstehen, an einen be stimmten Punkt gelangt, die Tat als Rettung fordert und gleichzeitig die volle Ernsthaftigkeit dieser Tat auf ewig in Frage stellt. Das Schwere im Leben liegt nicht darin, überhaupt zu gehorchen, denn Gehorsam ist das Element des Menschen, ja die erlösende Befreiung aus der Tantalusqual des reinen «Verstehens». Das Schwere liegt vielmehr entschieden darin, daß das Verstehen dem Menschen die naive und natürliche Rundung und Lebendigkeit der Tat verunmöglicht. Denn es treibt entweder zum stumpfen Fanatismus dessen, der sich mit Gewalt die Ohren verstopft für die «Gegengründe», oder aber in die Zerstreutheit desjenigen Täters, der auf feinem Posten nicht anders kann, als die durchkreuzenden Konzerte anderer benachbarter Sendestationen mitanzuhören. Wird von uns also nicht das Unmögliche verlangt? Wir sollen uns ganz einem Teil verschreiben, während wir wissen, daß dieser Teil nicht das Ganze ist. Wir sollen Gott auf die eine Seite setzen, während wir wissen, daß Gott keinen Parteien sich verschreibt. Wir sollen das Ganze übersehen, in dem unvereinbaren Doppelsinn, daß wir es zugleich «beherrschen» und «nicht beachten». Ist dieses Paradox lebbar, und gibt es einen Weg, es lebend zu verwirklichen, ohne es als Paradox zu zerstören?
Solcher Wege bieten sich in der Tat drei an. Sie alle ehren das Tragische des Daseins, sie alle wissen, daß weder der blinde Gehorsam noch das leere Verstehen, sondern nur die unendlich mühevolle Verständigung beider der menschlichen Lage zuletzt gerecht werden kann. Die beiden ersten Wege versuchen, beide Linien sich, wenn auch im Unendlichen, schneiden zu lassen, eine prunkhafte Identität zu setzen. Der dritte verzichtet darauf und sucht ein geheimnisvolleres Gleichgewicht.
Der erste Weg führt Verstehen auf Gehorchen, Freiheit auf Schicksal zurück. Alle Freizügigkeit des Verstehens bleibt eine unreife Vorläufigkeit oder ein dienendes Mittel für den Gehorsam. Letztes, ganz enthülltes Verstehen ist Gehorsam. Es ist dies die überwiegend soldatische, politische, «heroische» Lösung. Sie setzt die Einsicht absolut, daß der Mensch eben letztlich zum Gehorchen gemacht ist und daß er sich voll verwirklicht nicht durch seine kritisch-auflösende, sondern durch seine schöpferisch-aufbauende Seite. Der «blinde Gehorsam» ist wertvoller und wertschaffender als alles Reflektieren; dieses bildet nur einen gleichsam unwirklichen Hintergrund, von dem sich jenes als die scharf- und hartgemeißelte Wirklichkeit plastisch abhebt. Gewiß ist der Dualismus zwischen Verstehen und Gehorchen ein tragischer, – solange man eben tatenlos in dem Dualismus stehen bleibt. Aber diese düstere Tragik verwandelt sich in eine helle, blitzende, wenn die Tat den Knoten durchhaut und, statt zu reflektieren, handelt. Ist es nicht bezeichnend, daß die Richtung nicht umkehrbar ist? Am Ende alles Verstehens bleibt nur der Sprung in die Tat, während die Tat in sich rund und abgeschlossen ruht und keineswegs über sich hinaus das Verstehen fordert. Es ist, als müßte der Mensch im letzten nicht sehend, sondern blind sein. Der Täter ist mehr Mensch als der Grübler. So argumentiert der erste Lösungsversuch, Verstehen in Gehorchen zurückführend. Er hat nicht nur natürlich heroische Werte für sich, er kann sich ebenso auf das Religiöse berufen. Das höchste Beispiel religiöser Haltung: das «ecce ancilla Domini» Mariens, ja ihr ganzes Leben erscheint wie eine einzige Apologie dieser Haltung. Sie sucht nicht zu begreifen, sie gehorcht.
Aber ist dieses letzte Beispiel wirklich auf eine Ebene zu setzen mit dem natürlich-heroischen Ethos des Soldaten? Gilt nicht vielmehr, daß Maria, welche alle Worte ihres Sohnes «in ihrem Herzen bewahrt» und betrachtend zu verstehen versucht, mehr und mehr in eine abgründige Weisheit hineinwächst, die sie schon hienieden zur «sedes sapientiae» macht? So sehr, daß dieses Beispiel uns vielmehr für den zweiten Lösungsweg, der Gehorchen in Verstehen auflösen möchte, als Erläuterung zu dienen scheint? Und dann: Kann das «Ethos des durchgehauenen Knotens» wirklich die Losung all der ästhetischen, politischen, theoretischen, ethischen und religiösen Probleme enthalten, die wir oben entrollten? Es ist zu evident, daß dies nicht der Fall ist. Und doch fühlen wir, daß etwas menschlich Endgültiges im «blinden Gehorsam» liegt. Gibt es eine Lösung, die das scheinbar Unvereinbare vereint?
Der zweite Weg versucht sie, indem er Gehorchen in Verstehen auflöst. Es ist der Weg aller Intellektualismen, vom naiven rationalistischen bis zum sublimsten mystischen. Ihr Gemeinsames ist, daß sie Gehorsam und Tat zum Mittel der innern Lichtwerdung der Seele machen. Lassen wir hier die roheren formen außeracht; entscheidend sind die feineren. Das Verstehen, heißt es jetzt, drängt nur darum so unwiderstehlich zur Tat, weil die Tat selbst das Lebenselement des Verstehens, gleichsam sein ewiger Trag- und Nährboden ist. Man «versteht» nur, wenn man tut und lebt, was man theoretisch weiß. Dies heißt dann «existentiell denken», «realize», und aus diesem Grunde läßt Fichte sein Denken in «Erfahrung» sich aufheben, bauen Hegel und Maurice Blondel ihre Stufen der Einsicht auf ebenso viele Tatverwirklichungen. Durch die Tat sprengt der Geist die Schranke des zu engen Verstehens, diese Sprengung ist als solche «irrational», unverstehbar, sie ist Gehorsam, aber alsobald kommt der Geist in dem größeren eroberten Raum neuerdings zu sich; die Tat verwandelt sich in helleres Licht, der Mensch ist tiefer, reifer, weiser geworden. Durch Selbstverleugnung und Selbsthingabe hat er sich selbst auf geheimnisvolle Weise gefunden und reicher zurückbekommen. Wahre Philosophie wäre so die progressive Verwandlung des theoretisch Gewußten in existential Verstandenes durch Gehorsam. Oft genug wurde der Sinn und Wert des Gehorsams so dargestellt. Er ist die große Aszese des Geistes, entscheidender als Armut und Keuschheit, um ihm die Ruhe und Ordnung der wahren innern Weisheit zu verschaffen. Durch Gehorsam verwirklicht sich der Geist, durch die Selbsthingabe heilt er von allen (zumeist neurotischen) Krankheiten des Reflektierens, wird er ein «sozialer» Mensch, ein «Charakter», wächst er in der «Tugend». Kurz, der Gehorsam wird restlos als das große Mittel in Beschlag genommen, aber über dieser Mittelfunktion ist der Endgültigkeitscharakter, den er in der ersten Lösung hatte, völlig in Vorläufigkeit übergegangen. Das Menschenbild, das hinter der neuen Sicht steht, ist das der «großen, reifen, weisen Persönlichkeit», die sich existentiell voll verwirklicht hat. Aber wir brauchen an diese Lösung nur wieder die früheren Dilemme anzulegen, um zu sehen, wie wenig sie im letzten befriedigen kann. Ja, im Grunde geschieht genau das Gegenteil dessen, was zu erwarten schien. Mag auch die größere tätige Lebenserfahrung eines Menschen ihm einen weiteren Horizont des Verstehens erobert haben, der Riß zwischen diesem Verstehen und dem zufällig-kontingenten Alltag, in den er notwendig gestellt bleibt, wird dadurch nur um so schroffer. Dadurch, daß das Ganze den milden Schimmer des Verstehens über sich gebreitet hat, wird das Partikuläre um so schattenhafter, kantiger, irrationaler. Man bräuchte nur das Bild des alten Weisen von Weimar zu beschwören, um das Gemeinte sogleich illustriert zu sehen. Aber nicht genug, daß der Gehorsam hier in seiner ganzen Schärfe (und gar nicht mehr als «Mittel») wiedererscheint, sein abermaliges Auftauchen trägt gerade nicht den Charakter eines «bedrohlich Unbewältigten», sondern den einer Erlösung. Einer Erlösung von dem schrecklichen Alpdruck einer «großen, reifen, weisen Persönlichkeit». Auf keinen wenigstens dürfte diese Bezeichnung weniger passen als auf die «ancilla Domini». Ihr Gehorsam hat auch nicht den Schatten eines «Mittels» an sich. Er ist keine «Tugend», keine «Aszese», überhaupt keine ethische Kategorie. Er ist nichts als der selbstverständliche Akt der Kreatur, die an Tugend, Aszese und mögliche Mittel zum Verstehen so wenig denkt, daß sie als ganze nur das einfachste «blindeste» Vertrauen und Sichübergeben in Gottes Wohlgefallen ausdrückt. So scheinen wir gleichsam an die erste Lösung zurückgewiesen. Aber diese selbst wies über sich hinaus auf die zweite. Drehen wir uns also im Kreise, oder gibt es einen dritten Weg?
Soll eine wahre Lösung gelingen, so darf sie nicht eine Reduktion des einen auf das andere Glied enthalten. Die Situation, die wir beschrieben haben, daß der Mensch zugleich einen weiten (theoretischen) und engen (praktischen) Horizont besitzt, daß er gleichzeitig die Gleichgültigkeit und Zerstreutheit des Zuschauers und die leidenschaftliche Beteiligung des Mitspielers verwirklichen muß, diese Situation ist eine grund-menschliche und ist nicht «auflösbar». Es gilt also vielmehr, sie hinzunehmen und sich innerhalb ihrer einzurichten. Wollte der Mensch vor ihr fliehen, so flöhe er vor seinem eigensten Sein. Es wird uns also die Betrachtung dieses Seins (als Weg zu dessen Akzeptierung) auch den Hinweis auf die wahre Lösung geben können. Wir beleuchten dieses Sein von drei Seiten her, die ebenso viele Stufen von einer abstrakt-schematischen zu einer konkreten Betrachtungsweise besagen.
1. Jede tiefere Philosophie kennt unter irgend einer Form das ontologische Grundgesetz des endlichen und weltlichen Seins, von der Scholastik Realdistinktion zwischen Sein und Wesen genannt. Leider hat sich die Scholastik damit begnügt, diesen trockenen Satz in seinen vollen Abstraktheit zu belassen, anstatt ihn durch alle Grundverfassungen (transcendentalia) und Grundformen (Sein – Leben – Fühlen – Denken und Wollen) hindurchzuverfolgen2. Aus den unabsehbaren Konsequenzen, die sich daraus ergäben, greifen wir nur den einen, hier bedeutsamen Satz heraus: wie Wesen und Dasein im endlichen Sein nur analog im Seinsbegriff übereinkommen, so auch die erste transzendentale Eigenschaft dieses endlichen Seins: die Wahrheit. Auch sie hat, wie das Sein, zwei Zentren gleich einer Ellipse: ein essentiales und ein existentiales Wahrheitszentrum, die nicht «univoce» unter einen gleichen Oberbegriff von Wahrheit zu bringen sind. Nur in Gott sind beide Wahrheiten identisch, wie Wesen und Dasein. Diese einfache Überlegung offenbart uns plötzlich, daß es im Grunde völlig in Ordnung ist, wenn der Mensch gleichzeitig und unrückführbar zwei Kristallisationspunkte seines ganzen Seins besitzt. Der eine ist das Zentrum der «Wesenswahrheit», um den der Mensch alles verstehend zu ordnen sucht, der andere ist das Zentrum der «Daseinswahrheit», von dem aus er alles tätig durchzuformen trachtet. Aber diese Polarisierung um einen Pol gelingt nie, weil der Mensch auch sein Sein selbst nie mit sich «zur Deckung bringen» kann, weil sein Dasein nie seine Idee einholt und sein Wesen nie in seiner Existenz sich verwirklicht.
2. Blieben wir in dieser ersten Betrachtung stehen, so hätten wir ein absolut tragisches, ja zerrissenes Bild des Menschen. Aber diese Tragik selbst wird uns zum Fingerzeig auf etwas Tieferes hin. Das notwendige Wissen des Menschen um diese seine Seinsverfassung, mag es noch so unbewußt und ungeklärt sein, sagt ihm zugleich, daß er in sich selbst ewig nur ein ungelöstes, ja unlösbares Problem bleiben kann, daß er also, um sich zu lösen, zu erlösen, sich grundsätzlich überschreiten muß. Ein Sein, das in sich selbst problematisch ist, kann in sich auch nicht absolute Wahrheit und darum auch nicht absoluter Ernst sein. Es kann sich selbst nicht absolut wichtig nehmen. Sein Ernst und seine Wichtigkeit liegen vielmehr außerhalb seiner, in dem Gott, der allein seine mögliche Einheit und Einigung ist, und in der Beziehung zu diesem Gott. Und zwar weniger in der aktiven Beziehung zu Gott, die sich immer nur mit den dualistischen Kräften der endlichen Natur herstellt, als in der passiv empfangenden Beziehung zu Gott, in der Gott der Handelnde und mit dem Menschen Umgehende ist. Im Wissen um das schlechthin Überragende und Überwältigende des göttlichen Tuns mit uns ist eine absolute Feierlichkeit vonseiten des Menschen nicht mehr möglich; das Mißverhältnis muß im Gegenteil etwas wie ein – schelmisches Augenzwinkern des Menschen hervorrufen, der seine (im Sinne Kierkegaards) «komische» Stellung in dieser Beziehung entdeckt. Freilich wird so das menschliche Tun nicht zu einem Spaß, wohl aber zu einem Spiel, zu jenem großen Welttheater, das die «Kinder» vor dem «Vater» aufführen. Sie werden sich sehr anstrengen, ordentlich zu spielen und nicht zu «patzen», es werden Augenblicke sein, in denen sie, hingerissen von der Handlung, ganz hineinknieen in ihre Rolle und vergessen, daß sie «nur» spielen, Es werden andere Augenblicke sein, in denen sie ihr Spiel bewußt überlegen, ihre eingeübten Gesten und Effekte nicht ohne schauspielerische Befriedigung und Überlegenheit produzieren. Beides aber wird ein einziges, dramatisches Tun sein. Distanz zur Rolle und Identifizierung mit ihr sind im Schauspieler kein Widerspruch, er lebt vielmehr ganz von dieser Spannung. Die Distanz, die er jeden Augenblick zur Rolle hat, dient nur dazu, sie überzeugter auszufüllen, und noch in der Versenkung in sie bis zur Identifizierung bleibt das «Verstehen» der dargestellten Person der Hintergrund des «Gehorchens» dem aufgegebenen Schicksal. Diese Lösung ist also nicht, wie die beiden ersten, eine Vertilgung des Gegensatzes im Menschen, sondern eine Anerkennung seines notwendigen Dualismus. Sie ist aber doch Lösung, dank der Aushebung des absoluten, tragischen Ernstes der Welt in ein «Spiel». Nietzsche will, daß wir auch den Helden noch in die kindliche tanzende Schwerelosigkeit des Über-Helden aufheben. Goethe sieht die Welt als «wahren Schein» und «ernstes Spiel». Christliches Theater hat den grellen Widerspruch der antiken Bühne zwischen Tragödie und dem komisch-grotesken Nachspiel aufgehoben in dem ernst-heiteren Gesamtspiel seiner «Welttheater».
3. Diese Lösung erhält eine seltsame Bestärkung durch den Blick in das Geheimnis Christi selber, dessen Gestalt, als Mittelpunkt der Schöpfung, notwendig den Schlüssel zu allen letzten Weltgeheimnissen enthalten muß. Freilich ist das Wie der Möglichkeit Christi selbst höchstes Geheimnis; aber seine historische Wirklichkeit und die Tatsache der Versöhnung aller Extreme in Ihm ist es nicht. Christus also ist einmal die personale Einheit von Gott und Mensch, das heißt des schlechthin Allgemeinen und des Besondersten. Aber über diese Einheit und Gleichzeitigkeit von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Bewußtseinsenge legt uns die Theologie ein anderes, noch unbegreiflicheres Zugleich innerhalb seiner menschlichen Natur selbst nahe: das Zugleich von unverhüllter Gottschau (visio beatifica) und irdisch verhülltem Gotterkennen, wie jeder Mensch es besitzt. In letzter Zuspitzung erscheint dieses Paradox im Leiden, wo jene unverhüllte Gottschau die furchtbarste Trennung von Gott und Verhüllung des Vaters bis in die absolute Verlassenheit nicht hindert. Hier ist die Gleichzeitigkeit absoluten Verstehens und absoluten blinden Gehorsams in letzter Schärfe verwirklicht. Hier ist der Beweis erbracht, daß es existentiell möglich ist, zugleich das Ganze und der Teil, zugleich das schlechthin Überlegene und das schlechthin Unterworfene zu sein. Denn hier ist unsere tragische Situation noch weit überholt: Unser Verstehen des weiteren Zusammenhangs ist meist nur ein Ahnen und Vermuten; Christus aber schaut ihn in der vollen Helle. Diese Schau hindert Ihn nicht, sowohl zu gehorchen wie frei zu wählen, sich zu partikularisieren. Es ist absolut gleichzeitig wahr, daß Er die neunundneunzig Schafe verläßt, um sich ganz der Sache des einen, verlorenen hinzugeben, – und daß Er nie von jenen neunundneunzig fortgegangen ist. Und ein ganz Ähnliches gilt vom Bezug Christi zur Kirche. Als Haupt leidlos im Himmel thronend, leidet Er wahrhaft und wirklich und nicht nur metaphorisch in seinem irdischen Leibe. Und endlich: Sich ganz und gar Seiner sichtbaren Kirche verschreibend, hört Er doch nicht auf, das Haupt aller Menschen zu sein und ihnen, auf geheimnisvollen, unbekannten Wegen, Seine Huld und Seine Gnade zuzuwenden.
Aber wir können vielleicht doch etwas Licht in diese Paradoxe bringen, wenn wir sie auf das oben über Spiel und Welttheater Gesagte zurückbeziehen. Und in dieser gegenseitigen Erhellung wird uns, in einem anscheinend noch höheren Paradox, doch die existentielle Möglichkeit dieser Gleichzeitigkeit offenbar werden. Im «Welttheater» kann der Mensch darum zugleich «in» und «hinter» der Rolle sein, weil er nicht sich selbst, sondern sein Spiel vor Gott ernst nimmt. Gerade weil er das Spiel versteht, wird er blind für sich selbst und gehorsam in seine Rolle. In Christus kann es nicht anders sein, als daß das absolute Hinsehen auf den Vater und das absolute Verstehen des Göttlichen zugleich und ohne Riß auch das absolute Absehen von sich selber besagt. Vom künstlerischen Schaffen sagt Rilke einmal: «Es ist, wie wenn man zeichnet, den Blick an das Ding gebunden, und die Hand geht allein irgendwo unten ihren Weg, geht und geht, wird ängstlich, schwankt, wird wieder froh, geht und geht tief unter dem Gesicht, das wie ein Stern über ihm steht, das nicht schaut, nur scheint.» Und Christus sagt: «Wahrlich, Ich sage euch, der Sohn kann nichts aus sich selber tun, Er kann nur tun, was Er den Vater tun sieht. Was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn.» Der Gegensatz zwischen der ersten und zweiten Lösung, die wir beide ablehnten, ist hier behoben, weil die Blindheit des absoluten Gehorsams gleichsam einem Übermaß an verstehendem Licht entstammt. Hingerissen ins Geheimnis des Vaters, wird der Sohn zum reinen, werkzeuglichen Vollzug des Heilswillens des Vaters. Nicht daß in dieser Blindheit das Partikuläre buddhistisch verflüchtigt oder platonisch unter die «Idee» subsumiert würde. Es bleibt, als das Aufgetragene, das absolut Wichtige und Belangvolle, wie ja auch die Rolle für den Spieler das absolut Wichtige ist. Aber der Spieler ist es, der sich selber belanglos, für sich selber blind wird. So ist auch der «blinde Gehorsam» für ihn keine geblähte Tugend und keine gespreizte «Aszese», sondern die schlichte Selbstverständlichkeit, wie wir sie bei der «Magd des Herrn» fanden.
- Kasuistik ist ein notwendiges und berechtigtes Hilfsmittel der Ethik, so wie formale Logik für eine inhaltliche Metaphysik notwendig ist. Aber einen «casus conscientiae» mit einer «Situation» verwechseln, hieße in den gleichen Fehler verfallen, in den sich einst die logizistische Metaphysik verirrte.↩
- Wir versuchten, einiges zu diesem grundwichtigen, noch völlig unbetretenen Gebiet in unserer «Apokalypse der Deutschen Seele» beizubringen. Vgl. vor allem in Bd. 1 «Fichte», «Goethe»; Bd. 2 «Nietzsche und Dostojewskij»; Bd. 3 «Mythos, Utopie, Kairos». Vgl. auch in der Schweizerischen Hochschulzeitung, Juni 1936, die Skizze über «Philosophie und Theologie des Lebens».↩

Hans Urs von Balthasar
Título original
Verstehen oder Gehorchen?
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Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2025Tipo:
Artículo