menú
Umkehr im Neuen Testament
I
Umkehr ist ein Begriff, der nichtbiblischen und biblischen Religionen gemeinsam ist. In ihr vollzieht sich eine freiwillige Veränderung des Menschen, die seine sittliche Haltung und die daraus erwachsenden Werke, aber auch und vor allem seine religiöse Haltung Gott oder dem Göttlichen oder Absoluten gegenüber betrifft. Im Buddhismus etwa oder im Neuplatonismus geschieht die religiöse Umkehr durch einen Stillstand der geistigen Bewegungsrichtung der gesamten Existenz, die vom Absoluten weg in die Endlichkeit, von der Realität in den Schein, von der Selbstlosigkeit in den Durst, die Gier und den Egoismus hineinstrebte. Sie vollzieht sodann eine geistliche Wendung, die einer physischen Wendung um hundertachtzig Grad entspricht; wenn sie bisher sich stromabwärts treiben ließ, schwimmt sie jetzt gegen den Strom zur Quelle zurück. Ist schon die Umkehr selbst – als Stillstand – eine Anstrengung, so wird auch dieses «gegen den Strom Schwimmen» eine solche sein, wenigstens anfänglich, dann später erweist es sich, daß Rückkehr zum Ursprung dem tieferen Bedürfnis des Wesens entspricht, daß der Verzicht auf die Selbstsucht den Frieden der Seele verschafft.
So gibt es ein Wissen um Wesen und Notwendigkeit der Umkehr weit über den Rahmen der biblischen Offenbarung hinaus. Dies zeigt, wie wenig der biblische Ruf zur Umkehr den Menschen vergewaltigt, ihn nur von außen trifft. Aber der biblische Ruf ist mehr als nur die Entdeckung dessen, was dem menschlichen Herzen zum Frieden gereicht, eine Entdeckung, die aus der Unruhe, dem Unglück, der irdischen Unersättlichkeit dieses Herzens selbst erfolgen kann, und sich dann – auch wenn es «Religion» ist – als eine therapeutische Methode, das Herz zu befreien und zu befrieden, enthüllt. Er ist vielmehr ein aus dem Absoluten – biblisch: von Gott her – ertönender, personaler Ruf. Klingt er von oben oder von zuinnerst? Der Mensch, der «zu seinem Herzen sagte: Ich und ich allein!» und: «Niemand sieht mich» (Is 47,8.10): er ist von einem andern Ohr und Auge gesichtet worden. Die geschlossene Sphäre seiner Freiheit ist für einen andern durchsichtig. Und daß sie das ist, erspart ihm das Schwerste der Umkehr; er ist in «seiner Blöße» und damit in «seiner Schande» schon aufgedeckt (Is 47,3) und braucht nur noch einzugestehen. Dieses göttliche Auge und Ohr, das zur anrufenden Stimme wird, ist in der Bibel die zuvorkommende Gnade. Weil er von Gott gerufen wird, steht der Mensch auf seinem Weg still und horcht, und wenn er den Ruf verstanden hat, kehrt er, wenn er will, in der Kraft des Anrufs sich um.
Aber obwohl die rufende Stimme Gottes den Menschen schon im Alten Testament mit einer elementaren Kraft trifft und ihn ergreift, einer so großen Kraft, daß über sie hinaus kaum eine Steigerung vorgestellt werden kann, besteht doch nochmals ein Wesensunterschied zwischen dem Umkehrruf im Alten und im Neuen Bund. Und auf den letzteren möchten wir hier unsere Aufmerksamkeit konzentrieren.
II
Zwar scheint, wenn man nur auf die Worte achtet, der Schwellenübergang vom Alten zum Neuen Bund ein geringer. Mit dem gleichen Ruf: «Kehrt um», «Wendet euch», trifft der Täufer Johannes die ihm zulaufenden Menschen und beginnt Jesus seine Predigt vom nahenden Reich Gottes, und wiederum mit dem gleichen Ruf enden die großen Predigten der Apostelgeschichte. Auch die Motivierung scheint die gleiche zu sein: für die Umkehr ist es höchste Zeit, Gott ist drauf und dran, einzugreifen, «die Axt ist an die Wurzel gelegt», Gottes Reich «steht auf der Türschwelle», und nach dem Tod und der Auferstehung Jesu ist nur eine kurze Frist gewährt bis zu seiner richtenden Wiederkehr. Die Stimmen, die dies künden, tönen im Alten und Neuen Bund gleicherweise von Gott her, sie vermitteln die Weisung Gottes, sind seine Herolde, sprechen in seinem Auftrag, beidemal mit dem innern «Beweis von Geist und Kraft». Und doch gibt es zwischen den Testamenten zwei wesentliche Unterschiede.
Im Alten Bund ist der Partner Gottes zunächst und zumeist ganz eindeutig das Volk. Als Volk ist es erwählt, als Volk aus Ägypten herausgeführt und durch die Wüste wunderbar geleitet, als Volk wird ihm ein Land, das Gott gehört, zugewiesen. Als Volk glaubt es Gott und folgt seinen Weisungen, oder wird ihm untreu und hängt fremden Göttern nach. Als Volk wird es gestraft, so lange bis es die Strafe nicht mehr erträgt, umkehrt, zu Gott schreit und von Gott in das Intimverhältnis des Bundes zurückgenommen wird. Und da seine Schuld übergroß geworden ist, wird es als Volk von Gott verworfen, aus dem Land in die Verbannung deportiert, seiner Gebets- und Opferstätte beraubt, so daß es die von Gott selbst angeordnete Vermittlung zu ihm entbehren muß. Und wieder trifft, da es genug gebüßt hat, die prophetische Stimme, die im Namen Gottes redet, sein Ohr und verheißt ihm die Rückkehr. Natürlich gibt es durch das ganze Alte Testament eine unerhört eindrückliche Galerie großer Einzelgestalten, denen Einmaliges, Unvergeßliches widerfährt, die wie gewaltige, oft überdimensionierte Fresken vor die Augen des Volkes gemalt sind: von Abraham bis zu Joseph (dessen Erzählung das Herz fast ebenso rührt wie die Geschichte vom verlorenen Sohn), von Moses und Josua über Gideon, Samson, Jephte zu Samuel, zum tragischen Saul und zum unschuldigen und schuldigen David und dann durch die Reihe der Könige hindurch, von den großen Propheten flankiert, bis zu den dichterischen Gestalten, die zur Weltliteratur gehören: Job, den Gottesknecht, den Salomo der Weisheitssprüche, des Hohenliedes und der Eitelkeitspredigt, Jonas, Judit, Tobias, Ester …Alle diese Gestalten, und auch die kleineren dazwischen, haben persönliche Schicksale, die – von denen des Volkes abgehoben – für sich zu stehen scheinen: Moses hat einen Zweifel an Gottes Treue und wird dafür gestraft: er darf das verheißene Land nur von ferne sehen. David sieht von seinem Dach aus das Weib des Uria, nimmt es sich und läßt den Gatten umkommen, die Strafe trifft ihn furchtbar, persönlich und in seiner Sippe. Elias steht als Einsamer dem ganzen abtrünnigen Volk gegenüber, in einem tollkühnen Glauben fordert er es – beim Opfer auf dem Karmel – heraus und siegt dabei mit seinem Gott allein. Und wieder muß er einsam vor Jezabel in die Wüste fliehen, in der er todmüde am liebsten sterben möchte.
Sieht man aber näher zu, so sind alle diese gewaltigen Einzelschicksale doch nur Personifikationen, Symbole, Typen des Volksschicksals. Man hat von einem «Groß-Ich» des Volkes gesprochen (de Fraine), das sich – analog zu andern altorientalischen Völkern mit ihren Königen – in einer Führergestalt repräsentiert findet; in Israel kann diese Gestalt Patriarch oder Lenker oder Richter oder König oder Prophet oder Priester sein. Alle diese Gestalten ragen gleichsam nur halben Leibes aus dem Volksschicksal auf, wie gewisse unvollendete Skulpturen Michelangelos aus dem Felsen. Es ist kaum auszumachen, ob das Schicksal des Volkes sich mehr in ihnen personifiziert, oder ob ihr persönliches Schicksal sich mehr in das des Volkes hinein auswirkt: tiefer gesehen bildet beides einen Kreislauf. Jedes Volk verschafft sich Umriß und Ausdruck in repräsentativen Gestalten: es schaut sich in ihnen an, erkennt dann sein Wesen und nimmt sie sich zum Maßstab. So Israel mit Abraham und Moses, David und Jeremias, Job und Judit; es ist weniger wichtig, genau festzustellen, wieviel an jeder Gestalt wörtlich Geschichte und wieviel Projektion des eigenen Sein-sollens und Sein-müssens ist. Job und Jonas sind extreme Beispiele des letzteren.
Darum betrachtet Israel in den Sünden seiner Könige seine eigene Sünde, in ihrer Buße seine eigene Buße. Beide, Sündenfall und Umkehr, haben immer ein kollektives Moment. Schon das Schmachten unter dem Joch der Philister ist eine Art kollektive Bußandacht; diese Bußandachten werden immer ausdrücklicher: in den liturgischen Klageliedern während des Exils, in der großen Sühnezeremonie im 9. Kapitel von Nehemias, im Flehgebet Daniels (Dan 9) für den gebrochenen Bund. Solche Bußandachten gibt es im Neuen Bund nicht mehr. Warum?
III
Im Übergang vom Alten zum Neuen Bund erfolgt eine soziologische Veränderung, die gleichzeitig nach zwei Seiten hin geht: einerseits wird die Statue vollends aus dem Felsen gelöst, der Einzelne steht vollkommen für sich, als Person, vor seinem Gott. Anderseits wird das Volk, das vorher ein «Israel nach dem Fleische» war (1 Kor 10,18), zu einem geistigen «Israel Gottes» (Gal 6,16), dessen Standort im Bund sich völlig verändert hat: es steht Gott nicht mehr eindeutig als der geschöpfliche Partner gegenüber, sondern ist «der Leib Christi», der als Gottessohn und Sohn der Menschen selbst der leibhaftige Bund ist. Damit hat sich auch das Verhältnis des Einzelnen – der erst jetzt wirklich ein Einzelner geworden ist – zum Volk Gottes, der Kirche, grundlegend verändert. Beide Aspekte gehören innig zusammen; wir können das aber erst zeigen, wenn wir zunächst jeden für sich behandelt haben.
1. In das neue Israel tritt man nicht durch Geburt, «nach dem Willen des Blutes, des Fleisches, des Mannes», sondern durch die Taufe ein, die eine «Geburt aus Gott» ist. Deshalb haben jetzt die Heiden ebenso Zugang wie die Juden. Das Volkhafte im alten Sinn ist aufgelöst und hat einer Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott Platz gemacht. Das ist so, weil Gottes Wort, das bisher wie ein Allgemeines, das ganze Volk Betreffendes, auf Israel zukam, Fleisch, das heißt ein einzelner Mensch geworden ist, der als solcher je einzelnen Menschen begegnet. Das soll nicht sagen, daß Jesus sich um das Volk Israel nicht mehr gekümmert hätte; zu ihm ist er ja gesendet, seine verstreuten Schafe zu sammeln, seine Küken wie eine Henne um sich zu scharen. Dennoch: sofern er Mensch ist, kann er je nur Einzelne, ob sie isoliert oder als Jünger- oder Volksschar vor ihm stehen, ansprechen. Mit dem Adressanten wechselt auch der Klang der Rede. Es gibt jetzt, wie nirgends im Alten Testament, das persönliche Gespräch: die Weisungen, Verweise, Belehrungen, Tröstungen an Petrus, an einzelne Jünger oder an die Zwölf, an einzelne Kranke, die vor Jesus geführt werden, an einzelne Sünder, denen er mit einem nur ihnen zugedachten Wort die Sünden erläßt und sie auf ihren weiteren Weg sendet. Weil Gott in Jesus so persönlich und unausweichlich nah und präsent wird, hebt sich durch das Licht dieser Gegenwart der ihm begegnende, mit ihm konfrontierte, von ihm beleuchtete Mensch ebenfalls in das Licht der Einmaligkeit, die er für Jesus hat, und die ihm von Jesus zugesprochen und geschenkt wird. Was dabei geschieht, ist freilich das Gegenteil der Bildung eines exklusiven esoterischen Kreises; die Begegnungen vollziehen sich größtenteils unter dem Blick der Öffentlichkeit oder wenigstens vor Zuschauern, zum Beispiel das Gespräch mit der Sünderin (Lk 7), die ihn im Haus des Pharisäers salbt, oder mit der Ehebrecherin (Joh 8), der er angesichts der Schriftgelehrten und Pharisäer die Sünden vergibt, oder das Gespräch mit Maria in Kana oder das Wort an sie und an Johannes vom Kreuz herab. Mitten in der Volksversammlung, «in medio ecclesiae», hebt Jesus den Einzelnen heraus, so wie er Petrus stets vor den übrigen Jüngern lobt oder tadelt, oder Thomas, den Ungläubigen, aus der Reihe der zehn andern vortreten läßt. «Private» Begegnungen sind entweder durch die Furcht des Besuchers veranlaßt, wie bei Nikodemus, oder sie sind der Besuch Jesu bei einem vereinsamten Menschen, um ihn mit einer Heilsbotschaft in die Gemeinschaft zurückzusenden, wie Maria Magdalena am Ostermorgen. Der Blinde in Mk 8,22ff. wird von Mitmenschen gebracht; Jesus nimmt ihn bei der Hand und führt ihn vor das Dorf hinaus, um ihn dort zu heilen und dann zu den Menschen zurückzusenden: hier ist die Personalisierung durch eine örtliche Entfernung ausgedrückt, aber diese geschieht durch ein An-der-Hand-Geführtwerden: es ist Gang in die Einsamkeit unter der Führung Jesu (vgl. Mk 7,33), aber nicht so weit, daß nicht Beobachter den Vorgang sehen und beschreiben können. Zuweilen gibt es ein «Abseits», das Distanz von der Straße, vom Unglauben, von der Betriebsamkeit ist: den Abendmahlssaal, den Ölgarten, den «einsamen Ort» (Mk 6,32), an den Jesus die Jünger führt, aber dort alsbald wieder von der Menge eingeholt wird. Die Personalisierung durch Jesus bedeutet in keiner Weise eine Privatisierung. Das ist sosehr ein Grundcharakter aller evangelischen Konfrontationen, daß dieser sicher nicht auf das Konto der Evangelienredaktion für die Gemeindeunterweisung zu setzen ist.
Jeder, der vor Jesus tritt und von ihm «ins Auge gefaßt» wird (Joh 1,42), steht als dieser Einzelne vor ihm, der das Wort Jesu aufzunehmen und zu beantworten hat, der dadurch vielleicht zum erstenmal im Leben in eine ganz personale Verantwortung aufgerufen und mit ihr beladen wird. Man sieht das sehr schön beim geheilten Blindgeborenen (Joh 9), am überwältigendsten aber beim Anruf an den toten Lazarus in Joh 11, der, wiederum vor allen Umstehenden, den unerhörtesten Akt persönlichen Gehorsams zu vollziehen hat; er, der Tote, muß antworten, und kein Lebender kann ihm seine Antwort (die Jesus ihm schenkt) abnehmen.
Zwischen den beiden johanneischen Kapiteln steht, im 10., das stärkste Wort des Neuen Testaments für die Personalität der christlichen Berufung. Hier wird das Wesen des «guten Hirten» beschrieben und dieser einerseits von den «Dieben und Räubern» (wohl vor allem den Zeloten), anderseits von den «Mietlingen» (das können die schlechten Hirten des jüdischen Volkes sein) unterschieden. Von ihm wird gesagt: «Er ruft seine eigenen Schafe jedes bei seinem Namen und führt sie hinaus; wenn er die eigenen alle hinausgeführt hat, schreitet er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen» (Joh 10,3-4). Während das Hirtenbild vom Alten Bund herkommt, ist das Verhalten des neuen Hirten allem Überkommenen entgegengesetzt. Einmal «führt er hinaus», um den Schafen «voranzugehen». Gewiß, auch Gott hat das Volk aus Ägypten, dem Haus der Knechtschaft, herausgeführt, und ist ihm durch die Wüste vorausgegangen. Aber der Zusammenhang zeigt, daß der neue Hirte nicht aus Fremde und Sklaverei herausführt, sondern aus der Mitte des Volkes Israel selbst, aus seinem «Gehege» (eigentlich dem «Vorhof» des Tempels, aule, in dem sich Jesus bei dieser Rede aufhält)1, und zwar nicht alle Schafe, sondern nur auserwählte, die «seine eigenen» genannt und «einzeln beim Namen» gerufen werden. Es ist ein Anruf, dem das einzelne Schaf aus einem doppelten Grund folgen kann: einmal weil es seinen eigenen Namen, der hier ertönt, kennt, sodann aber weil es die Stimme des neuen Hirten kennt. Es besteht somit eine Gegenseitigkeit der Erkenntnis – «ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich» (10,14) – und diese personale Gegenseitigkeit ist erst neutestamentlich begründbar: «wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne» (10,15). Es ist eine christologische, zuletzt trinitarisch begründete Gegenseitigkeit, die durch den Herausruf aus dem alten Volk in eine neue personale Intimität hineinführt, außerhalb der alten Bundeshege, in der Ungeschütztheit der Welt, aufrechterhalten nur durch die Stimme des Vorausschreitenden und das Hören und Erkennen dieser Stimme durch die Nachfolgenden. Auch kehrt sich die zentripetale Bewegung Israels zunächst um – Jesus ruft bei Johannes geradezu aus Israel heraus! –, um dabei freilich ein neues Zentrum, Jesus selbst, zu gewinnen, ihn, der sein Leben für seine Schafe dahingibt, damit so eine Herde und ein Hirt entstehe.
Die Konfrontierung mit Jesus, die so oft bei Krankenheilungen und Sündenvergebungen geschildert wird, ruft den Menschen aus seiner Versunkenheit und Anonymität in die Selbstpräsenz empor, denn nur in dieser kann er das ihm zugedachte Wort, die ihn meinende Tat Gottes entgegennehmen. Der geistig Schlafende wird geweckt, der Zerstreute gesammelt, der Entfremdete in seine Eigentlichkeit zurückgeholt. Er muß in den Glauben auftauchen, in die wache Bereitschaft zu Gott, die durch die Begegnung mit Jesus vermittelt und erwirkt wird; man kann dieses Auftauchen im folgenden Dialog verfolgen: «Wenn du etwas kannst, so komm uns zu Hilfe aus Erbarmen mit uns. Jesus erwiderte ihm: Ach, ‹wenn du kannst›! …Alles ist dem möglich, der glaubt. Sogleich rief der Vater des Kindes: ‹Ich glaube, hilf meinem Unglauben!›» (Mk 9,22-24).
Dieses Auftauchen in die eigene Wirklichkeit, in die man aber nur durch die Konfrontation mit Jesus aufgerufen wird, ist der zentrale Akt der Umkehr. Alle Hüllen, in die das Ich sich versteckt und entfremdet hat, sind abgefallen, die Seele steht nackt vor Gott. Sie hat sich nicht durch eigene Anstrengung entkleidet, die Nacktheit ist ihr geschenkt. Sie hat sich nicht eigens umgewendet; sie steht bereits in der Richtung, aus der her der Ruf ertönt. Dieser reißt sie herum (Joh 20,16) und legt ihr die adäquate Antwort in den Mund: «Maria!» – «Rabbuni!» Diese Entblößung meinen die «Seligkeiten» am Anfang der Bergpredigt. Die detaillierten Anweisungen des Täufers, was der Bekehrte an seinem Verhalten ändern muß (Lk 3,10-14), liegen hinter uns; das Leben wird anders sein, weil es aus der Tat Gottes, die es umgekehrt hat, gelebt wird: «Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu verrichten? Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, daß ihr an den glaubt, den er gesandt hat» (Joh 6,28f.). Natürlich hat die erwirkte Haltung der Umkehr fortzudauern, deshalb die Entlassungsworte Jesu: «Geh hin und sündige nicht mehr», die Warnung vor dem Rückfall, wenn der böse Geist einmal aus dem gereinigten Haus ausgetrieben ist (Mt 12,43ff.). Der Akt der Umkehr soll als Zustand fortdauern, aber so, daß er ein wacher Akt bleibt und nicht in einen schlummernden «Zustand» abgleitet: hierher gehören alle das öffentliche Leben Jesu abschließenden und seine äußere Abwesenheit vorbereitenden Ermahnungen zur Wachsamkeit.
Das alles ist eminent personal. Immer sind es Einzelne, die vor dem einzelnen Jesus stehen. Auch wenn er zum Volk spricht, sind die Einzelnen in der Menge angeredet. Die Bergpredigt beweist es, auch wenn ihre Anrede zwischen «du» und «ihr» in fast verwirrender Form wechselt. «Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler …Willst du beten, so geh in dein Kämmerlein, …Dein Vater wird es dir vergelten. Auch sollt ihr beim Beten nicht plappern …Euer Vater weiß ja, was euch nottut.» Das «ihr» ist schon ein kirchliches, in dem jeder sich als ein «du» weiß, das als einzelnes gemeint und aufgefordert ist. Deshalb kann in dieser Kirche, wo bei den Tiefenentscheidungen zu Gott und zu Christus kein «Ich» sich hinter dem «Wir» verstecken darf, der Einzelne auch nur personal behandelt werden. Wo es um sakramentales Binden und Lösen geht, nämlich um die Entscheidung, ob ein Mensch – ja oder nein – mit seinem Leben zu Gott und zu Christus steht, ist so etwas wie ein pauschales, anonymes Handeln vollkommen undenkbar. Eine sakramentale Generalabsolution für schwere Sünden ist vom Evangelium her gesehen ein Widerspruch in sich. So etwas wäre allenfalls im Alten Testament denkbar gewesen, wo das Volk als ein Kollektiv dasteht und mit dem Sühneblut der Bundesschließung besprengt werden kann. Im Neuen Bund gibt es kein Kollektiv mehr.
Wo es deshalb in der Zeit der Kirche um das eigentliche Handhaben der Schlüssel geht, das Binden und Lösen, das sich bewußt ist, auf Erden etwas im Himmel Gültiges und Mitvollzogenes zu tun, geht es immer um den einzelnen Sünder. Der Schuldige, den Paulus 1 Kor 5,3-5 aus der Gemeinde ausschließt, jener den er 2 Kor 2,6 wieder in sie aufnimmt, ist ausdrücklich ein Einzelner, dessen Schuld klar umrissen wird, der auch öffentlich als ein Ärgernis bekannt ist. Dies ist festzuhalten, noch bevor über die äußere Form der Sündenvergebung durch die Amtsträger – ob sie öffentlich oder in der Ohrenbeichte zu geschehen hat – etwas ausgesagt wird. Personal ist der Vorgang auf jeden Fall dort, wo das von Christus (Mt 16 und 18) den Aposteln übergebene «Binden und Lösen» in seiner ganzen sakramentalen und rechtlichen Ausdrücklichkeit vorgenommen wird. Denn hier wird Kirche angewiesen, im Gehorsam Jesus gegenüber dessen Vollmacht zu übernehmen, den «Sünder zu stellen» (vgl. 2 Thess 3,14), ihn «in Gegenwart aller zurechtzuweisen» (1 Tim 5,20) und dafür, wie Paulus es in den Korintherbriefen ausdrücklich tut, das Einverständnis und sogar den Mitvollzug der Gemeindemitglieder einzufordern. Dieser Akt der Kirche, der den Einzelnen angesichts der Gemeinde isoliert, um ihn dann auf die rechte Art der Gemeinde wieder eingliedern zu können, ist die von Jesus selbst vorgesehene Weise, den Je-Einzelnen in die Konfrontation mit ihm aufzurufen, in der die Umkehr und von ihr her die mögliche Heilung und Sündenvergebung fortgeführt werden kann. Das Sakrament der «Confessio» ist in diesem Sinn das existentiellste aller Sakramente, gerade sofern es die Doppeldeutigkeit von Confessio einschließt: preisende Hinwendung zu Gott bei gleichzeitiger Umkehr als Bekenntnis der Schuld.
2. Die wirkliche Isolierung des Einzelnen in seiner Konfrontation mit Jesus ist aber keine Negierung, sondern eine Überbietung des Volks- und Gemeinschaftsbegriffs des Alten Bundes. Nicht nur ist der Augenblick der Isolierung des Einzelnen heraus aus der Menge, in der er sich verbirgt, das Mittel, ihn nachher auf eine neue, bessere Art in diese wieder einzugliedern, sondern der Vorgang der Isolierung, in der der Einzelne personalisiert wird, ist als solcher auch schon der Vorgang seiner Sozialisierung. Denn in Konfrontation mit Jesus ist er ja keineswegs allein, sondern aufs intensivste durch den Stifter und damit Repräsentanten aller wahren Gemeinschaft in Anspruch genommen. Christliche Umkehr, als Aufgerufensein durch Jesus, vollzieht sich nicht im Monolog zwischen dem minderen und dem besseren Selbst des Menschen, sondern im Dialog zwischen dem Schuldigen und dem ihn anfordernden Herrn. In diesem aber fordert ihn gleichzeitig Gott und die christliche Gemeinschaft für sich an. Gott zuerst – er ist hier in Jesus der Rufende –, und nur von Gott her die Gemeinschaft, die christlich gesehen die Stiftung, ja als «Leib Christi», die Elongatur Jesu ist. Das Wort: «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan», ist, als das zentrale Gerichtswort, nach dem eines Menschen Dasein endzeitlich beurteilt wird, auch das Kriterium, nach dem eines Menschen Gemeinschaftsgeist gerichtet wird.
IV
Gewiß, man kann hier auch die Kontinuität zwischen Altem und Neuem Bund feststellen. Denn das Volk des Alten Bundes ist durch das tätige Wort Gottes, das es in Ägypten anruft und über alle Hindernisse hinweg «aus dem Haus der Knechtschaft herausführt», allererst zum Volk geworden. Und dasselbe tätige Wort Gottes, das in Jesus Christus Fleisch wird, ist der Ursprung auch des neuen Volkes. Beide Völker müssen sich immerfort ihres Ursprungs bewußt bleiben, der sie entlassend hütet, um überhaupt das Volk zu bleiben, das sie sein sollen. Aber die Diskontinuität ist ebenso groß, wenn nicht größer. Das fleischliche Volk wird durch eine einmalige Aktion des Wortes Gottes vor Gott hingestellt, es ist als Volk mit seinen Beziehungen von Mensch zu Mensch im Anruf und in der Herausführung ein für allemal gebildet. Das geistliche Israel, die Kirche, entspringt je neu aus der Beziehung des Einzelnen zu Gott in Christus: jene Gottgeburt, die in der Taufe geschenkt wird, reißt den Einzelnen aus der natürlichen horizontalen Verbundenheit mit andern Menschen heraus, er ist «ein neues Geschöpf» (2 Kor 5,17; Gal 6,15), das ein «neues Leben» führt (Röm 6,4), ein «neuer Mensch» (Eph 4,24; Kol 3,10), dessen soziale Kontinuität mit seinen Mitmenschen einzig durch Jesus Christus hindurch führt. Er allein ist es, der im Auftrag des Vaters und in der Kraft des Heiligen Geistes die Kirche aus sich entläßt, und zwar die sichtbare Kirche in ihrer Aktualität und Strukturiertheit, und jene größere, potentielle Kirche, die die Menschheit im ganzen ist: für alle hat ja Jesus genug getan und allen das ewige Leben verdient.
So ist Umkehr gleichzeitig Versöhnung mit Gott und mit den Brüdern; das letztere aber in einer logischen Nachordnung zum ersten: da die Mitmenschen meine Brüder durch und in Christus werden. Die logische Nachordnung kann zu einer zeitlichen Vorordnung werden, dort, wo die Brüder im Auftrag Christi die Ermahnung des Sünders übernehmen und ihn der Umkehr entgegenführen. Die Apostelbriefe sind voll von solchen Anweisungen zur brüderlichen Ermahnung, wie sie sie auch selber betätigen, im Auftrag und in der Nachfolge des Evangeliums selbst (Mt 18,15f.). Denn nunmehr kann der Bruder die Stelle Jesu Christi vertreten und den Prozeß der Personalisierung des Sünders in seiner Isolierung («unter vier Augen») einleiten. Dieser Prozeß kann, sofern der Sünder sich nicht aus der Gemeinschaft heraus verloren hat – dann wird das Amt zuständig –, sondern nur, wie alle, in mehr oder weniger großer Gefahr steht, abzugleiten, durchaus auch ein gegenseitiger sein: «Ermahnt einander …» (Kol 3,16 und öfter). Indem beide Teile sich von Christus gerufen und ermahnt wissen, können sie einander dieses tiefere Wissen ins Bewußtsein rufen und einander in die vielleicht zeitweilig verschleierte Wahrheit zurückhelfen. Auch durch vergegenwärtigendes, erinnerndes Beispiel kann dies geschehen, durch das man «glühende Kohlen» auf das Haupt eines Gegners häuft (Röm 12,20).
In derartigem Tun der Gemeinde liegt jene Kraft der Sündenvergebung, die jedem Christen gemäß der Vaterunserbitte verliehen ist und an erster Stelle anzuwenden ist; der Gang zum Amt und zu dessen Richterspruch kommt erst dann in Frage, wenn dieses normale Tun nicht mehr ausreicht und fruchtet (Mt 18,17f.). Dann muß die Personalisierung (und damit die Resozialisierung) des Sünders jene Form annehmen, die Christus als den mit der Gerichtsvollmacht Gottes Ausgerüsteten stellvertritt, um den wahrhaft dem Gericht Gottes Verfallenen aus seiner Verfinsterung in das Licht der Offenbarkeit durch das Bekenntnis hinauszuführen (Joh 3,21; Eph 5,13f.).
V
Nun ist es bezeichnend für den Geist des Neuen Testaments, daß Christus einen Fehlenden öffentlich rügt und damit die Umstehenden einladet, seinem Tun beizustimmen, ohne sich pharisäisch vom Schuldigen zu distanzieren. Sie werden Zeugen einer Umkehr und vollziehen mit dem Schuldigen, Umkehrenden innerlich dessen Bewegung mit. Man kennt im Evangelium die sogenannten «Chorschlüsse», in denen das umstehende Volk für das einem einzelnen Widerfahrene Gott lobpreist, am Ereignis zugleich in Furcht und in Dankbarkeit beteiligt. So will auch Paulus, daß die Gemeinde sich an seinem Richterspruch über einen bestimmten Schuldigen aktiv beteilige. Er selber hat, körperlich abwesend, im Geist die Gemeindeglieder in sich gesammelt, um mit ihnen zusammen «in der Vollmacht unseres Herrn Jesus» den Schuldigen zu exkommunizieren (1 Kor 5,3f.); noch mehr Raum gewährt er der Gemeinde bei dessen Wiederversöhnung, obschon er auch hier die Führung behält: «mit der Strafe, die ihm von der Mehrheit zuerkannt wurde, mag es nun sein Bewenden haben. Verzeiht ihm nun und tröstet ihn.» Und er fügt bei: «Mit meinem Schreiben wollte ich euch ja auch prüfen, ob ihr in allem gehorsam seid.» Wenn sie es sind, das heißt, wenn sie im Heiligen Geist sich vollkommen einig wissen mit dem durch Paulus führenden Amt, so kann dieses dem versöhnenden Wirken der Gemeinde den Vortritt lassen: «Wem aber ihr vergebt, dem vergebe auch ich» (2 Kor 2,6-10). Das Sakrament der Confessio setzt also zu seinem idealen Vollzug den vollkommenen Gehorsam und liebenden Glauben der Gemeinde voraus, so daß Paulus sagen kann: «Wir sind bereit, jedweden Ungehorsam zu strafen, sobald nur euer Gehorsam vollkommen ist» (2 Kor 10,6). Das steht eigentlich meilenfern von allem, was wir uns unter Ohrenbeichte vorstellen: sie scheint uns ein «privater» Vorgang zwischen einem Sünder und einem Priester zu sein, ein Vorgang, aus dem jeder Zuhörer, erst recht eine ganze Gemeinde ausgeschlossen ist. Paulus möchte das Gegenteil; diese soll innerlich, weil der Vorgang sie im tiefsten angeht, an jeder Umkehr und jeder Beichte beteiligt sein.
Es gibt, sagten wir, in der Kirche nichts Privates, und zwar ist ein Vorkommnis um so weniger privat, je personaler es ist. Aus dem Personalen entspringt neutestamentlich unmittelbar das Soziale, es hat gar keine andere Quelle und keine andere Daseinsberechtigung als von der personalen Begegnung mit Gott in Christus her. Der ältere Bruder in der Parabel muß sich freuen, daß dem jüngeren verziehen worden ist, ja er soll in solcher Gesinnung sein, daß er das Verzeihen des Vaters unmittelbar mitvollzieht und das Fest der Versöhnung unmittelbar mitfeiert. Anderseits geht es nicht an, daß die Brüder sich unter Umgehung des Vaters versöhnen. Pascal sagt das in einem Fragment seiner Pensées: «Gott wollte nicht ohne die Kirche absolvieren; wie sie an der Beleidigung teilhat, so soll sie nach seinem Willen auch am Verzeihen teilhaben; er gesellt sie dieser Vollmacht zu, wie die Könige es bei ihren Parlamenten tun. Wenn sie aber ohne Gott löst oder bindet, ist sie nicht mehr die Kirche; wie das auch beim Parlament der Fall ist: wenn der König einen begnadigt, muß diese Gunst vom Parlament eingetragen werden, ratifiziert aber das Parlament ohne den König, oder weigert es sich, die Verfügung des Königs zu bestätigen, so ist es nicht mehr das Parlament des Königs, sondern eine Körperschaft in Revolte» (ed. Chevalier Nr. 818).
Weil aber anderseits alles an der Begegnung mit Christus hängt, dem vom Vater «das ganze Gericht übertragen» wurde, kann niemand einfach unter Umgehung der persönlichen Gerichtssituation die allgemeine Vergebung voraussetzen. Zwar heißt es: «Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern geht vom Tode zum Leben über.» Aber gleich darauf heißt es doch: «Ich richte, wie ich höre. Mein Urteilsspruch ist gerecht, denn ich folge nicht meinem Willen, sondern dem Willen dessen, der mich gesandt hat» (Joh 5,22.24.30). Auch wo die Verurteilung nicht erfolgt, findet jene Konfrontation statt, die zugleich die unumgängliche Personalisation ist, weil Christus kein beliebig urteilender Mensch ist, sondern das auf Gott den Vater horchende Wort: durch ihn hindurch allein vernimmt der Sünder die Gerechtsprechung Gottes.
So lassen sich in allem, was neutestamentlich Umkehr heißt, der Ernst und die Freude nicht trennen. Der Ernst hat sein Maß nicht daran, wie schwer ich meine Schuld einschätze, sondern daran, was in der Begegnung mit Christus dieser an mir enthüllt: vielleicht – wie bei der Samariterin – etwas viel Schwerwiegenderes, als mir bewußt war. In diesen Ernst ist die ganze Gemeinde oder Kirche miteinbezogen. Auch als ganze – mit ihrem Bischof an der Spitze, der ihr «Engel» genannt wird – muß sie unter das enthüllende Gericht des Logos treten (Apk 2-3), dessen «Augen wie Feuerflammen und dessen Füße wie in der Esse geglühtes Erz sind» (Apk 1,14f.), um bis an den Rand der völligen Verwerfung gedrängt (vgl. den Brief an Laodicea) der Begnadung teilhaft zu werden. Je ernsthafter wir auf Erden dieses Gericht der Gnade an uns sich vollziehen lassen, desto mehr dürfen wir hier schon an der Freude des Herrn teilhaben und die Zuversicht hegen, dem Gericht des Zornes zu entrinnen.
- Vgl. I. de la Potterie, Le Bon Pasteur. In: Communio 11. Roma 1969, S. 938f.↩

Hans Urs von Balthasar
Título original
Umkehr im Neuen Testament
Obtener
Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2025Tipo:
Artículo