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Kultur und Gebet
Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Kultur und Gebet
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2024Tipo:
Articolo
Exzellenzen, hohe Festversammlung!
Gründungen setzen einen Grundriß voraus, die genaue Vorstellung dessen, worin das zu Gründende gründet, somit auch der Verantwortung, die der Gründer übernimmt, wenn er neuen Wesenheiten oder Verhältnissen das Schicksal bereitet, gerade auf dieser fortan unveränderlichen, alles tragenden Grundlage zu gründen. Ist die Gründung ein Raum und eine Stätte des Geistes, gar des christlichen Geistes – der immer menschlicher und göttlicher Geist in einem ist, menschlicher Geist, der auf den Heiligen Geist lauscht und sich dadurch als zeit- und geschichtsmächtig erweist –, so erheischt die Planung doppelte Vor-Sicht und Um-Sicht.
Christlicher Geist ist einmal dadurch gekennzeichnet, daß er immer Geist von Einzelnen ist, die im Gebet gelernt haben, auf das Wort Gottes zu hören und ihm zu gehorchen. Der Mensch, wie wir ihn kennen, ist von sich aus nicht geeignet, sein Denken und Streben nach Gottes Wort auszurichten. Die Übereinstimmung göttlichen und menschlichen Wollens ergibt sich auch nie als ein Zufallstreffer. Die Wahrheit Gottes geht dem Menschen nur in der Umkehr seiner Marschrichtung auf; die Meta-noia ist die erkenntnistheoretische Voraussetzung für das Hörenkönnen des Wortes und für seine Befolgung. Anderswo als im Gebet wird keiner für eine christliche Sendung in der Zeit berufen und ausgerüstet.
Das schließt das zweite Kennzeichen christlichen Geistes ein: Ist er Gehorsam an Gottes Wort, und zwar an das jetzt an die Zeit wie an den Einzelnen wirksam von Gott her ergehende, so kann christlicher Geist nie und in keiner Epoche das Ergebnis einer immanenten Kulturentwicklung sein; als steuerte diese Entwicklung von innen auf größere Bereitschaft der Menge, größere Aufgeschlossenheit des weltlichen Geistes für den christlichen Geist hin, als könnte man vor seine Haustür treten, um Geruch und Witterung des Zeitgeistes zu erspüren, jenen Wind, nach dem sich die Windfahnen drehen, um daran die Chancen des Christentums wahrzunehmen und den Optimismus, daß endlich die Welt einzusehen beginnt, hier liege ihr Heil, und so ein moderner, zeitaufgeschlossener Christ zu sein. (Man könnte ja, in Abwandlung eines Wortes Kierkegaards, ernsthaft die Frage stellen, ob ein solcher moderner Christ, der für die Philosophie und Kultur des Nichts aufgeschlossen ist, nicht überhaupt für nichts aufgeschlossen ist.)
Aber reden wir lieber konkret. 8 Rue de la Sorbonne: die arme, enge finstere Bude, rückwärts, erreichbar durch einen ebenso finsteren Schlauch. Dort installierte sich, gegenüber der grimmig gehaßten Feindin, der omnipotenten Hochburg des laizistischen Geistes, der lebensfremde Phantast, der stur und jedes kaufmännischen Sinnes bar, für ein paar mitleidige Abnehmer seine Cahiers de la Quinzaine herausgab, buchhändlerisch eine richtige Katastrophe, wie natürlich auch sein unförmliches Drama und die unleserlichen Pamphlete gegen unbedeutende Geister, die zudem nicht selten auf Mißverständnissen beruhten. Es ist aber der Mann, der beten konnte, wie vielleicht nie ein Dichter gebetet hat, der diese unerhörten Hymnen auf die Kindlichkeit, auf die Hoffnung, das Vertrauen, die Übergabe, das weiche Herz gedichtet hat. Nun, man wird sagen dürfen, daß heute, fünfzig Jahre nach dem menschlich sinnlosen Experiment, Charles Péguy in seiner kleinen Bude gesiegt und die gewaltige Gegnerin entthront hat.
Noch ärmer, verlassener, phantastischer ist der andere Beter, ein Aristokrat, der Heer und Diplomatie den Rücken kehrte, um ins Kloster zu gehen, dann, auch die Klöster fliehend, sich mitten in der Sahara unter einem wilden, unerziehbaren Nomadenstamm in einer Hütte einrichtete, um bloß noch zu beten, Gott in seiner eucharistischen Gegenwart unter den Menschen zu verehren. Das menschlich und kulturell Sinnlose dieses Unternehmens springt in die Augen: die scheinbar anachronistische Repristination mittelalterlichen oder byzantinischen Anachoretentums. Von diesem Mann, Charles de Foucauld, ist doch wohl die stärkste Erneuerungsbewegung der gegenwärtigen Kirche ausgegangen – nach seinem Tode erst, bezeichnenderweise –, die in der ganzen nichtkatholischen Welt staunende Bewunderung auslöst und für die Kirche zu einem Schlüssel zu werden verspricht, der auch die verschlossensten Türen aufschließen kann. Bei Lebzeiten aber fand er nicht einen Jünger.
Sollen wir das armselige Zimmerchen im Karmel von Lisieux betreten, wo ein zwanzigjähriges Mädchen betet und leidet und bald darauf an Schwindsucht stirbt, und ihren Schwestern zuliebe ein paar Aufzeichnungen über ihre Kindheitsjahre hinterläßt – ich bin eben daran, den endlich vorliegenden authentischen, unverfälschten Text deutsch herauszugeben – ein Beinah-Nichts, das aber doch sich selbst, das eigene Gebet als Schwungrad im inneren Uhrwerk der Kirche gedeutet hat, das die großen Außenräder der priesterlichen und der Katholischen Aktion in Gang hält: und der Rosenregen und die ungeheure Auswirkung der Kleinen bezeugen, daß sie recht gehabt hat.
Sollen wir noch die arme Klosterzelle im florentinischen San Marco betreten – jetzt durch ein Spitalzimmer vertauscht –, von wo aus sich Giorgio La Pira um die ihm von Gott anvertrauten Armen seiner Stadt in Sorge verzehrt: ein Beter und Verzichter, der selber den Schritt in die Aktion und in die Kultur unternimmt? Oder in die armen und verfolgten Anfänge des spanischen Opus Dei und so vieler anderer zurückgehen, die dieser Zeit nicht besser helfen zu können meinten, als indem sie wahrhaft gründeten, das heißt, in den einzigen gründenden Grund zurückgingen: «Denn einen andern Grund kann keiner legen als den, der gelegt ist, und das ist Jesus Christus» (1. Kor. 3, 11).
Man könnte alle Jahrhunderte durchwandern, wenn einer bezweifeln wollte, daß dies katholisches Grundgesetz sei. Nacktheit des Gebetes hat von jeher die Welt bekleidet, volle Armut verzichtender Existenz hat sie bereichert, strikter Gebetsgehorsam an Gottes Wort sie befreit. Die großen Gestalter der kirchlichen Welt und zugleich der durch das Christliche geprägten Kultur kamen allesamt aus der Einsamkeit des Gebetes und der evangelischen Räte: Augustin begann in Cassiciacum, und hat es in Hippo nicht anders getrieben, die Kappadozier kamen aus der Einsiedelei am Irisfluß, der Feuerkopf Hieronymus, der Begründer des christlichen Humanismus, läßt sich bei der Krippe des Herrn nieder, und der Stein, mit dem er sich kasteit, und den uns die christliche Ikonographie genügend eingeprägt hat, ist nicht erfunden. Von Bernhard, Franz, Ignatius, Theresia und Johannes vom Kreuz brauchen wir nicht zu reden. Dabei ist es einstweilen unwichtig, ob dem gleichen Mann, der gleichen Frau die beiden Pole Gebet und Kultur aufgetragen waren, oder ob eine Arbeitsteilung stattfand, und der eine nur beten durfte, der Glückliche!, und das Gestalten dem Folgenden überlassen konnte, der im Kielwasser des ersten, in seiner Lichtspur, in seiner Gnadenschleppe zum Deuter ward. Solche Teilung ist vielleicht die höhere Gunst, denn wer – so fragt Augustin, der es wissen mußte, und alle Kirchenväter fragen so mit ihm und alle Beter des Mittelalters und noch die «Nachfolge Christi» und Louis Lallemant – wer kann vom Gebet zur Aktion übergehen, ohne davon bestaubt und vielleicht ernsthaft verunreinigt zu werden? Nicht von der Anstrengung, nicht von der Demütigung durch die Armen und die Sünder, sondern viel eher durch den Ruhm, gegen den keiner endgültig gefeit ist; wer’s nicht glaubt, vergleiche bloß unsere «christlichen Dichter» und sonstigen «Persönlichkeiten» in ihren einsamen glühenden Anfängen und in ihrer fraglichen Endphase, wo sie mit Preisen und theologischen Doktorhüten und anderen ehrenden Trophäen behängt eher äsopischen Fabelwesen gleichen als einem Apostel Jesu Christi, und sich fragen sollten, ob die Tausende von Fragenden, Dürstenden, die nach glaubhaften Bildern Ausschau hielten, in ihnen das noch erkennen können, was sie, die berufenen Bildträger, einst zu bieten schienen…
Fragen wir einmal von diesen Fragenden aus. Fragen wir, ob wir dann nicht, was christliche Kultur angeht, zum genau gleichen Ergebnis gelangen. Es ist nach wie vor mit dem Christlichen so bestellt: wirklich «ziehen» nur die Heiligen, die ganze Sache machen, an denen das, was Christus für die Menschen gemeint hat, in schlichter und unwiderleglicher Weise anschaulich wird. So einfach ist die christliche Apologetik; und das ist eine sehr tröstliche Tatsache. Christus, der Grund und der Gründer, hat mit keiner andern Wirkung seiner Gründung auf die Menschen, die einzelnen wie die Völker, gerechnet als mit der Evidenz seiner Liebe. Das ist das «Licht», das die Gesendeten keinesfalls unter den Scheffel stellen dürfen, das gute Werk, das getan werden muß, damit die Menschen es sehen und darob den Vater im Himmel preisen (Mt. 5, 16), das eine und einzige Gebot, das eine Kriterium: «Wenn ihr einander liebt, werden alle daran erkennen, daß ihr meine Jünger seid» (Joh. 13, 35). Christus hat zwar das Amt eingesetzt, aber weder er noch die Apostel haben es als ein apologetisches Mittel ausgegeben, auf das hin die Ungläubigen zum Glauben kommen sollten. Selbst die Einheit der Kirche wirkt auf die Menschheit nur insoweit und nur dadurch, daß sie Einheit der Liebe, und nicht etwa der Furcht, des Zwanges, der Organisationskraft ist. Denn diese Dinge – so wahr sie Gott für seine Kirche heranziehen kann – sind Dinge, die die Menschen auch verstehen und, wenn es darauf ankommt, radikaler anwenden können als selbst die Kirche. Und das gerade heute. Es ist nicht lange her, da waren Amerikaner im Vatikan, um die dortige Organisation zu beurteilen und das Urteil in Punkten auszudrücken (vgl. Herderkorrespondenz, Mai 1956, Heft 8, Jg. X, S. 353): die kirchliche Verwaltung erntete zwar hohes Lob von der Kommission und eine hohe Punktzahl, indes keineswegs die höchste: man kann diese Dinge durchaus noch besser machen. Aber nicht darauf kommt es ja an, sondern auf etwas, was keiner Punktierung, keinem Test, nicht einmal einem Team zugänglich wird und was für uns der einzige Grund ist, uns von der «Welt» und ihren Organisationen zu unterscheiden. Es ist das, wonach die Fragenden Ausschau halten. Es ist heute doch eher so, daß ein Konvertit nicht wegen, sondern trotz des Amtes konvertiert. Er nimmt es in Kauf. Sogar dann, wenn er aus dem Chaos der Sekten vor der Kirche draußen herkommt, wenn er aus der Beichtnot, der sakramentalen Not des Protestantismus, flieht. Er beugt sich dem Amt, weil er einsieht, daß der Gründer recht hatte, und nur das Amt den Menschen frei von sich selber macht für die Liebe.
Ebendeshalb müssen Bilder da sein, an denen die Liebe weithin leuchtend evident wird. Christi Bild ist evident. Aber hat er nicht zu hoch gegriffen, hat nicht der «Großinquisitor» recht? Ist Nachfolge möglich, ohne Verbildung und Komplex? Junge Menschen schauen sich heute in Deutschland mit angstvoller Sehnsucht nach Bildern um. Franzosen und Italiener sind reich. Es dürfte nicht so sein, daß man bei uns keine fände, weil wir’s aufgegeben haben, um sie zu beten, ja, sie zu wollen und hervorzubringen, die Grundlagen zu leisten, auf denen sie entstehen. Wir können es uns nicht leisten, die jungen Menschen, die sich fragenden Blickes an uns wenden, mit Ideen, Programmen, apologetischen Büchern, mit Einladungen zu Tagungen und Kursen abzuspeisen. Natürlich ist dies alles auch notwendig, wir sind Menschen und können uns nicht ohne menschliche Mittel der Kommunikation mitteilen und austauschen. Aber das alles tun die Heiden auch und besser. Gewiß sollen wir uns nicht scheuen, einem Suchenden das Wochenendprogramm der Akademie in die Hand zu drücken: vorausgesetzt, daß er dort, wo er hinbeschieden wird, Menschen findet, die ihn durch ihr Sein, durch ihre Haltung (mehr noch als durch ihre Worte), zu Christus führen. Wo aber sind sie, diese Gestalten, um die herum Kultur wie von selbst entsteht, die, eingesenkt in die Lauge, das Trübe sogleich zum Kristallisieren bringen? Wo sind sie, die den Mut haben, an die Transzendenz des Christentums zu glauben: daß die Kontemplation das Aktivste ist, daß der Verzicht das Bejahendste ist, daß die Armut der Liebe, die nichts für sich will, das Zwingendste ist? Die den Mut haben, dem Gründer das Gesetz der Höhe und des Gefälles zu glauben: «Wenn ich von der Erde erhöht sein werde, werde ich alle an mich ziehen» (Joh. 12, 32)? Das Christentum ist eine eschatologische Wirklichkeit, nicht weil Welt und Kultur ihm gleichgültig geworden wären, sondern weil in ihm das Endgültige, Ewige, Himmlische durch Menschwerdung, Tod und Auferstehung Christi Gegenwart geworden ist. Von dieser Höhe über der Erde zieht es die Erde gesamthaft zu sich empor. Und Gott schenkt seiner Kirche die Bilder solcher Erhöhung – sie erhielte deren mehr, wenn sie wollte –, Bilder, die alle auf das Urbild verweisen.
Heilige sind immer Einzelne, und zwar Einzelne in Widerspruch und Verfolgung, darin hat Kierkegaard recht. Man muß es heute wieder ernst unterstreichen, wo in unserem so herrlich organisierten deutschen Katholizismus auch die Dinge der Kultur sich vertrusten, um irgendwelche großen Geld- und Machtzentren (in oder neben der Kirche) herum, in deren Sog merklich-unmerklich die kulturell Arbeitenden geraten, merklich-unmerklich zu Arrivierten geworden und ihrer apostolischen Freiheit, die ihrem Auftrag in Kirche und Welt unentbehrlich ist, verlustig gegangen sind. Der Einzelne, der sich nicht vertrustet, kann heute so einsam und ungeschützt sein wie je, er lockt (genau wie zu Kierkegaards Zeiten) die Lachlust des «Korsars» an (wie etwa, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, der neuliche Angriff auf einen so nobeln Denker wie Ernst Wasmuth wieder deutlich gemacht hat). Täuschen wir uns nicht: man ist auch schneller «Korsar» als man meint!
Aber da wir gerade bei Kierkegaard sind, verlohnt es sich sehr, einen Augenblick bei ihm zu verweilen. Denn ein Bild ist er zweifellos. Wie kein anderer ist er, der alles auf die Spitze der christlichen Entscheidung gestellt hat, zum geistigen Vater des 20. Jahrhunderts geworden: des katholischen wie des protestantischen wie des ungläubigen, seiner Philosophie wie seiner Theologie. Klarer als an andern Bildern scheint an ihm die christliche mögliche Einheit von Gebet und Kultur ablesbar: aus der Höhe – der immer höhern Höhe, bis zum «Martyrium für die Wahrheit»! – des Gebetes die Geburtsstunde christlicher Kultur. Kierkegaard hat die Generation, mit der ich groß wurde, bezaubert; wir alle schulden ihm und haben ihm gehuldigt, «wir sind» (wie eine lächerliche Schwätzerin in einem Karl-Kraus-Stück sagt) «durch Kierkegaard hindurchgegangen».
Es gibt ohne Zweifel so etwas wie eine Entropie des Geistes und der Kultur. Der christliche Geist wird Weltgeist, die Theologie des Johannes wird Hegelsche Philosophie, die Totalität Christi wird synthetische Dialektik, in der jede Entscheidung sich fortlaufend aufhebt in höheren Überblicken der spekulativen Vernunft. Kierkegaard roch plötzlich die Verwesung: die Degeneration ins System, die allgemeine «Unwirklichkeit» – großartig, prophetisch formuliert in der «Literarischen Anzeige». Dagegen stellt er von Anfang an sein «Entweder–Oder»: zwischen Ästhetik (das Schöne ist ja nach Schelling die Indifferenz des Realen und Idealen, höchster Akt der Philosophie, und die Romantik ist ihm darin weithin gefolgt) und jenem Ethischen, das für Kierkegaard zunächst die Ordnung der Ehe ist gegenüber der Unordnung des Eros und seiner Triebgesetze, aber, wie die «Stadien auf dem Lebensweg» dann ergänzen, doch nur das Ethische ist, und nicht verborgene Spießbürgerlichkeit, wenn es das Einsam-Religiöse hinter sich hat, ja im Weg des Verzichtes auf die Ehe, der unmittelbaren Nachfolge Christi in das «Ärgernis» transzendiert. Im Dienste der Transzendenz, um die Umrisse des «Apostels» reiner zu zeichnen, steht das Gesetz des Kontrasts: das Hervortreiben der höchsten Möglichkeit der Immanenz: der Gestalt des «Genies».
In der kurzen Abhandlung «Vom Unterschied zwischen Genie und Apostel» wird der Gegensatz herausgearbeitet: das Genie entfaltet die inneren Dimensionen des Menschen: dazu braucht es Zeit, braucht es Muße – Otium nannten es die Alten – braucht es Kontemplation, die von der Umwelt nicht gestört werden darf, braucht es auch – in echt romantischer Formulierung – Humor und Resignation. Der Apostel hat für solche Sorgen nicht Zeit. Er verkündet nicht sich selbst, sondern Christus. Er ist nur Botschafter, er handelt und leidet für das Evangelium (Hegner-Ausgabe 1951, 389). Je reiner man das Genie herausschält, je höher man es exaltiert, um so klarer kann das christliche Dasein sich von ihm abheben. Kierkegaard ist weit entfernt, das, was er «ästhetisch» nennt, zu verachten: es ist die Weltmacht schlechthin, die Doxa, die Selbstverherrlichung und der Selbstgenuß des kreatürlichen Daseins. Aber nun beachte man die Bilder des Ästhetischen, die Kierkegaard aufrichtet. In seinem genialen «Symposion», womit er die «Stadien auf dem Lebensweg» einleitet, und worin in Tafelreden der Eros verherrlicht wird, wetteifert der Däne mit Platon. Im gleichen Buch, im zweiten Band, stellt er Goethe als ästhetische Existenz dar. In seinem Erstling aber hatte er auf Hunderten von Seiten den Gipfel ästhetischer Kunst und Existenz überschwenglich gepriesen: Mozarts Don Giovanni. Platon, Goethe, Mozart.
Was ist hier geschehen? Kierkegaard hat betont, daß er sich selber als «Korrektiv» verstehe, ja, wie die Tagebücher sagen, das Protestantische überhaupt als ein «Korrektiv» ansehe, als einen Strebepfeiler am Dom des Katholischen. Man darf daraus folgern, daß wenn das «Korrektiv» des «Systems» nun selber «systematisch» verstanden wird, es zur ärgeren und ärgsten Verwirrung Anlaß geben wird. Denn man müßte dann sagen – und man kann nicht umhin es zu tun, weil Kierkegaard als «protestantischer Denker», der «Schule gemacht» hat, wie jeder Denker «zusammenhängende», das heißt systematische Gedanken äußert –, man müßte sagen, daß Kierkegaard, um das Ethisch-Religiöse herauszustellen und zu exaltieren, die Grundpfeiler der abendländischen Kultur untergräbt. Was ein Jahrhundert nach ihm ein anderer nordischer Christ, Nygren, in seinem «Eros und Agape», getan hat, ist ein relativ harmloses Epigonenwerk verglichen mit dem Schlag, den Kierkegaard einer «religiösen Kultur» versetzt hat. Freilich: in der gleichen Weise hatte Luther den Aristoteles angegriffen. Den Aristoteles gibt mancher gerne preis – aber Platon? Hat der Eros im platonischen Symposion etwas gemein mit dem Eros im kierkegaardschen Symposion? Und ist der ästhetische Egoist, als den der Däne Goethe schildert, jener Dichter, der nicht aufhören kann, unser Goethe zu sein, selbst wenn Thomas Mann in seiner «Lotte» das unterwühlende, zerstörende Werk fortsetzt und bis zum Ende durchgeführt hat: Ästhetik (diesmal der Grundwert!) zerstört wesenhaft die ethische Existenz. So ja auch im «Faustus». Ist der unbegreifliche Mensch, der mit fast achtzig Jahren das noch nie gehörte, nie mehr erreichte Deutsch des Helena-Aktes geschrieben hat: ist er eine «ästhetische Existenz»? Und Mozart? Ist er denn identisch mit seinem Don Giovanni? Hat Kierkegaard denn nichts anderes gehört als dies? Hat er die Zauberflöte mit dem gleichen Ohr hören können? Hat er das Requiem gehört, ist das triumphale Credo der C-moll-Messe, in der Erde und Himmel das katholische Bekenntnis jubeln, ehern für ewig –, ist die ganze Kirchenmusik, in der großen Tradition von Monteverdi, Bach, Haydn stehend, nicht zu seiner Kenntnis gedrungen? Aber was ist überhaupt an europäischer Kultur in seine Kopenhagener Klause gedrungen? Seine weiteste Reise war Berlin, aus dem er doch jedesmal nach wenigen Wochen in seine geliebte Heimatstadt zurückfloh. Von Süddeutschland oder Wien keine Prise, geschweige von Italien, Spanien, der Provence, von Paris oder England. Sollte man denn, wenn man so pertinent über das Ästhetische spricht, es nicht nur in abstrakter Spekulation und ebenso abstrakter romantischer Begeisterung in sich tragen, sondern – zumindest auch – in der klaren, klassischen Anschauung, mit der Goethe und Jakob Burckhardt Italien gesehen haben?
Aber welches Paradox, daß die Erneuerung des katholischen Geistes in Deutschland sich gerade im Zeichen dieses urprotestantischen Dualismus vollziehen sollte, und daß der Sitz des Neukierkegaardismus gerade die katholischen Barockstädte, gerade Wien und München, sein sollten! Nun wurden freilich, um mit Friedrich Heer zu reden, den katholischen Stammlanden von jeher Gifte genug injiziert, die sie zu heftigem Reagieren anreizen sollten. Gift kommt von Gabe, und des einen Gift ist des andern Arznei, auch kann Gift in einer Dosis heilen, in der andern töten. Der radikale Dualismus zwischen Christentum und Kultur als zwischen Transzendenz und Immanenz gehört sicherlich zur Krankheit der europäischen Kultur (als wollte diese das injizierte christliche «Gift» dadurch wieder aussondern); er ist eine Kulturerscheinung, und so ist denn auch der philosophische Kierkegaardismus unserer Jahrzehnte zu deuten. Man wird dabei nicht übersehen, daß Kierkegaard persönlich in einer unentwirrbaren Mischung Genie und Apostel ist, daß er im Spiel seiner Pseudonyme seine ästhetische Genialität seiner christlichen Sendung dienstbar zu machen versuchte, daß er schon im ersten Werk um ein «Gleichgewicht zwischen Ästhetisch und Ethisch» rang, daß er, eigentlich durch ein Wunder der Gnade, diesen Zweideutigkeiten entrissen und in eine grandiose Eindeutigkeit des christlichen Endkampfes erhoben wurde. Niemand eignet sich besser als er – für ein tiefenpsychologisches Zeitalter – zu Übungen am Phantom.
Aber wir meinen ihn ja nicht als einmaliges Phänomen, wir müßten ihn zurückstellen in das ganze nordische Wesen, das kaum anders denken zu können scheint als in Dualismen, oft fast in Schizophrenie, und das mit den Schatten seiner Schwermut den vom Christentum erhellten und durchsäuerten Raum überdüstert; es war das Zeitalter, in dem nacheinander Jacobsen, Ibsen, Strindberg (auch eine Philosophie des Eros!), Munch, Ernst Barlachs fürchterliche Dramen und Thomas Manns nicht weniger auflösende Säure in Wellen über uns dahinfluteten, während wir selber einen anderen mauvais génie, der neben Kierkegaard den Nachkriegs-Katholizismus aufwühlte, aufs Schild erhoben: Max Scheler. Denn auch bei ihm war, und zwar (im Gegensatz zu Kierkegaard!) gegen Ende sich steigernd, der Dualismus von Eros und Agape entscheidend, von brünstig umfaßter Immanenz und ekstasisch bejahter Transzendenz, von Triebmacht und Geistohnmacht, womit sich schließlich die neukantianisch-protestantischen Anfänge Schelers doch, trotz aller Ausbruchsversuche, als übermächtig erwiesen.
Das schlechte Gewissen der Katholiken konnte nicht ausbleiben. Man mußte zurück, mußte wenigstens ein Gegengewicht finden im Umfassenden, Ökumenische, Katholischen. Ebner starb zu früh. Przywara wandte sich von Scheler und Kierkegaard zu Newman und Augustin; Theodor Haecker fand in Vergil den Vater des Abendlandes und gleichfalls in Newman wohltätige Ergänzung, ohne die er sein schönes Buch über «Schönheit» nicht hätte schreiben können; Romano Guardini war von Anfang an im Raum des Liturgischen, überhaupt des Romanischen zu sehr beheimatet, als daß der Dialog mit den – vom Katholischen her gesprochen – Randfiguren Pascal, Hölderlin, Dostojewskij, Kierkegaard, Rilke ihn hätte aus dem Gleichgewicht bringen können. August Brunner bettete Scheler in die Welt des Aquinaten ein, die rabiaten Schelerschüler verloren allmählich den bestimmenden Einfluß. Aber das sind doch nur Korrekturen. So bleibt die Frage nach dem Leitbild, der Ur-Zündung. Nach welchen Horizonten blicken wir aus? Wohin treibt uns die Sehnsucht? Welches Bild schwebt vor unseren Träumen?
Denn ich möchte nicht glauben, daß ein solches Bild in unseren Herzen erloschen sei. Daß wir etwa bloß noch «weiterwursteln» in kirchlicher Betriebsamkeit und im Grunde gar nicht wissen, wozu. Oder daß wir, von der Sündflut der entchristlichten Unkultur überwältigt, uns nicht mehr getrauten, ernstlich dagegen Stellung zu beziehen. Oder auch, daß wir so sehr in katholischem Snobismus und geistlichem Morphinismus steckten, daß wir nur noch durch die Injektion von Protestanten, Jansenisten und Orthodoxen in «Form» bleiben könnten. Bleiben wir auch diesmal beim Konkreten, und da es uns um das Bild geht, weisen wir’s an einem Bilde nach, wie es unsere Wirklichkeit bietet. Was ist, so wollen wir einmal fragen, an Kulturwerten des Abendlandes bis auf unsere Stunde lebendig geblieben? Was hat die Schiffbrüche überstanden? Beschränken wir uns, weil es einfacher geht, auf die Literatur. Was ist noch fähig, in heutigen Menschen, jungen Menschen Spannung, ja Begeisterung zu wecken? Vieles ist ohne Zweifel im letzten und in diesem Jahrhundert versunken: «Bildungsmaterial» der humanistischen Gymnasien, vom Mittelalter und Barock her tradiert. Anderes übersteht. Was ist es?
Lassen wir ein paar Namen an unserem inneren Ohr und Auge vorüberziehen; lassen wir die Wirklichkeit, die sie uns zutragen, auf uns wirken; prüfen wir, wieviel geistige Reichweite wir ihnen zuschreiben. Ich nenne sie langsam, ohne Betonung.
Homer – Pindar – Äschylos – Sophokles – Sokrates – Platon – Epiktet und Mark Aurel – Vergil – Der Augustin der Confessionen – Dante – Shakespeare – Calderon und Lope, Cervantes, Camoes – Molière, Racine, Pascal – Grimmelshausen und Angelus Silesius – Goethe – Hölderlin – Eichendorff – Stifter.
Lassen wir die späteren weg und fügen wir hinzu: Konrad Witz und Grünewald – Rembrandt und Rubens – Giotto – Angelico – Mantegna – Botticelli – Velasquez – Tintoretto und Greco – Goya – Palestrina – Monteverdi – die beiden Scarlatti – Bach – Haydn – Gluck – Mozart – Schubert – Bruckner – Bartók.
Eine ganze banale Namenliste, die auf keinerlei Originalität Anspruch erhebt. Doch aber sagt sie aus? Das eine, Eindeutige, daß diese ganze, große Kunst fromm ist. Sind auch ihre Schöpfer nicht das, was man kanonisierbare Heilige nennt, sie stehen doch alle im Lichtkreis des Heiligen. Sie blicken zu ihm empor. Sie dienen ihm. Gewiß, es ist «Humanitas», die undefinierbare, reiche, nie zu umschreibende, festzulegende Menschennatur. Aber sie im Licht des Göttlichen. Der Gnade. Dorthin zielt und sehnt sich der Eros. Es ist nicht wahr, daß er sich Gottes nur «bemächtigen» will. Gebrochen bei den Heiden, offen und strahlend bei den Christen dient er dem Geheimnis. Antigone, Ödipus, sogar der Prometheus des Äschylus sind fromme Sage. Das ahnungslose Volk, das in Autocars wie das Schlachtvieh an den Denkmälern der Antike, an den Domen des Mittelalters vorbeigeführt wird und sich die absurden «Erklärungen» eines ebenso ahnungslosen Fremdenführers anhört: nun, vielleicht blitzt dabei doch ein Licht auf: die Einsicht in den Abstand von transzendenter «Kultur» und der immanenten Zivilisation, die nichts mehr sucht als die Bequemlichkeit des Diesseits. Und selbst die noch Ärmeren, jene Generationen von Kunst-, Literatur- und Musikhistorikern, die die großen Werke der frommen, der heiligen Kunst mit keinen anderen Augen als denen des Ästheten, mit keinen anderen wissenschaftlichen Kategorien als denen einer formalen Betrachtung und Analyse anzusehen und anzuhören imstande sind, diese tiefer Blinden und Tauben, die solche Mitschuld haben an der Verästhetisierung unserer Kultur: auch sie leben, ob sie es wissen oder nicht, mit dem besten Teil ihrer selbst doch noch von dem höheren Licht, dem alle wahre Kultur dient. Niemand hat in unseren Tagen über all dies besser gehandelt als Reinhold Schneider in seinen theoretischen Kunstschriften.
Man mache die Gegenprobe. Es gibt wirklich eine rein ästhetische Kunst. Es hat sie immer gegeben, die Kunst, die nicht im oberen Licht steht, sondern gefallen will. Diese wird, wenn sie nicht in einer faden Mitte des Bedeutungslosen und Kitschigen verharrt, unweigerlich dazu übergehen, auch zu reizen, zu verführen. Sie wird ins «untere Licht» rücken. Sie wird sich erotisch, prometheisch, dionysisch gebärden. Aber seltsam: auch wenn die sie erschaffenden Künstler nicht weniger genial sind als die ersteren, auch wenn ihr Name von den Büchern genannt und tradiert wird: sie wirken nicht. Sie erzeugen nichts. Sie haben Gebrauchsware verfertigt, die zuerst vielleicht sehr bewundert, sicher äußerst gefragt war, aber kaum tot, werden sie gründlich vergessen. Sofort muß ein anderer in die Lücke springen und sie ersetzen. Man kann sie ausgraben, in Liebhaberbänden Bibliotheken von «Erotica der Weltliteratur» zusammenstellen, man wird natürlich immer ein paar neugierige Leser dafür finden. Das hindert nicht, daß das Tote tot ist. Sophokles lebt, Aristophanes lebt nicht. Vergil lebt, Ovid lebt nicht. Goethe lebt, Byron lebt nicht. Thomas Mann wird nicht leben. Sartre wird nicht leben.
Immer wieder sind antike Mythen auferstanden im Laufe der abendländischen Geschichte. Aber sie wurden kaum je mehr in der Tiefe der Frömmigkeit erneuert, die ihnen allein lebendige Zeugungskraft geschenkt hätte. Sie wurden ästhetisch behandelt in der Renaissance, oder allegorisch, wie oft bei Calderon, oder moralisch oder existenzialistisch; all das geht unter wie des Grases Blume, und es überstehen nur ganz seltene Ausnahmen, die den Ernst und die Weihe der Antiken erreichen, wie Goethes Iphigenie.
Das Heilige ist der Quellgrund der Kultur. Diese Aussage gilt nicht nur relativ, für jene glücklichen Zeiten der «Hochkulturen», da die Zivilisation sich noch nicht so weit von der Philosophie und Theologie entfernt hatte, wie es die Entwicklung dann scheinbar zwangsweise mit sich gebracht hat: diese Aussage gilt absolut. Man ersieht daran, daß eine immanent gewordene Zivilisation ihre inneren Regulative besitzt, alsbald an ihre Grenzen stößt, sich selber kritisch begrenzt (man denke an Nietzsches Kritik des modernen Wohlfahrtsstaates!), ja die Werkzeuge ihrer eigenen Aufhebung bereitstellt, immer rascher, immer unfehlbarer.
Lassen wir hier die Frage, an der Hölderlin sich verbrannt hat, offen: zwischen den Göttern und Christus. Die Götter, so viel ist sicher, waren nicht nur Dämonen; sie waren Zeichen für das Geheimnis. Sie sind dahin, aufgenommen wie die Sterne vom größeren Licht des Christus-Helios. Aber dieses Licht hat die Lichter der Heiligen gezeugt, und von Anfang an stand christliche Kultur in deren Zeichen. Um die Apostel, um die Märtyrer der ersten Zeit schart sich Kunst und Kultur, sie sind deren Patrone, sie sind ihr Inhalt. Sie haben das Ganzopfer ihrer Existenz gebracht, sie brennen physisch oder geistlich als Fackeln in den Gärten Neros, aber auch auf den christlichen Altären. Sie sind es, die uns die Kirche liebenswert machen. Wir wollen hier einen Augenblick Bernanos lauschen:
«Die Stunde der Heiligen ist immer am Kommen. Unsere Kirche ist die Kirche der Heiligen. Wer ihr mit Mißtrauen naht, glaubt geschlossene Türen, Schranken und Schalter zu finden, eine Art geistlicher Polizei. Aber unsere Kirche ist die Kirche der Heiligen. Welcher Bischof gäbe nicht seinen Ring, seine Mitra, seinen Stab, welcher Kardinal nicht seinen Purpur, welcher Papst nicht seinen weißen Rock, seine Camerieri, seine Schweizer und all sein Zeitliches dahin, um ein Heiliger zu sein? Wer möchte nicht die Kraft haben, diese wunderbaren Abenteuer zu bestehen? Denn die Heiligkeit ist ein Abenteuer, sogar das einzige, das es gibt. Wer das einmal verstanden hat, ist ins Herz des katholischen Glaubens eingedrungen, hat in seinem sterblichen Fleisch einen anderen Schreck verspürt als den des Todes: eine übermenschliche Hoffnung. Unsere Kirche ist die Kirche der Heiligen. Aber wer kümmert sich um die Heiligen? Man sähe sie gerne als Greise voll Erfahrung und Politik, aber die meisten von ihnen sind Kinder, und die Kindheit steht immer allein gegen alle. Die Schlauen zucken die Achseln, lächeln: welcher Heilige hat den Leuten der Kirche viel zu danken gehabt? He, was gehen uns hier die Leute der Kirche an? Warum soll sich der und jener zu den heldenhaftesten Menschen Zutritt verschaffen, der das Reich Gottes wie einen Sitz in der Akademie gewinnen möchte, indem er sich mit männiglich gutstellt? Gott hat die Kirche nicht geschaffen für den Wohlstand der Heiligen, sondern damit die Kirche ihr Andenken lebendig erhalte, damit nicht, mit dem göttlichen Wunder zusammen, ein Strom von Ehre und Poesie zerrinne. Es soll eine andere Kirche ihre Heiligen vorweisen! Die unsere ist die Kirche der Heiligen. Wem wolltet ihr diese Herde von Engeln zu weiden geben? Schon die bloße Geschichte mit ihrem summarischen Verfahren, ihrem sturen und harten Realismus hätte sie zerbrochen. Unsere katholische Tradition trägt sie davon, ohne sie zu verletzen, in ihrem umfangenden Rhythmus. Benedikt mit seinem Raben, Franz mit seiner Laute und seinen provenzalischen Versen, Jeanne mit ihrem Schwert, Vinzenz mit seiner zerschlissenen Sutane, und die Letztgekommene, die Fremde, Geheime, von den Geschäftemachern und Bestechlichen auf die Folter gespannt, mit ihrem unbegreiflichen Lächeln – Therese vom Kinde Jesu. Oder möchte man, sie wären alle bei Lebzeiten in goldene Schreine gefaßt worden? Mit schwülstigen Eigenschaftsworten angegangen, mit Kniebeugungen begrüßt, mit Weihrauch angeschwungen? Solche Freundlichkeiten sind gut für Prälaten. Sie aber lebten, litten wie wir. Sie wurden versucht wie wir. Sie trugen ihre volle Last, und mehr als einer bettete sich, ohne sie fahren zu lassen, darunter und starb… Der ganze Riesenapparat aus Weisheit, Kraft, geschmeidiger Zucht, Prunkentfaltung und Majestät ist nichts in sich selber, wenn nicht die Liebe ihn beseelt. Die Mittelmäßigkeit sucht freilich darin eine solide Versicherung gegen die Wagnisse des Göttlichen. Was tut’s. Jeder kleine Bub, der unsere Christenlehre besucht, weiß, daß der Segen aller vereinigten Kirchenmänner den Frieden doch nur jenen Seelen vermitteln kann, die schon bereit sind, ihn zu empfangen, den Seelen guten Willens. Kein Ritus dispensiert von der Liebe… Wir respektieren die Dienste der Verwaltungsbehörden, der Profossen, des Generalstabs und der Kartographen, aber unser Herz ist mit den Männern der Front, unser Herz ist mit denen, die sich umbringen lassen.» («Jeanne relapse et sainte», S. 61-66, Gallimard.)
Genau dieses Hochgefühl, diese selige und doch wieder nüchterne Entschlossenheit ist die Geburtsstunde, immer neu, der christlichen Kultur. Allen hat es eingeleuchtet: das ist das Beste des Menschen! Es ist heute üblich geworden, die Barockkunst als ganze zu belächeln, psychoanalytisch zu verdächtigen. Es gibt die Schattenseite. Aber das Wesentliche steht im Licht und ist die gleiche Verherrlichung des christlichen Mysteriums, der Heilsgeschichte und der bekehrenden Wunder der Gnade an den Heiligen, den sich Opfernden und Geopferten, wie stets bisher. Der Nachhall bei Schiller, in Maria Stuart, in der Jungfrau von Orleans, hat nicht umsonst seine Wirkung getan. Claudel wirbt für eine christliche Kultur unter dem Zeichen, dem Licht und der Wärme der Heiligen; und wenn er vielleicht zu weit geht in der Rehabilitierung auch des platonischen Eros («Der seidene Schuh»), und seine eigenen Konfessionen nicht so reinen Klang haben, wie wir es möchten: welch gewaltige Klammer hat er angelegt zwischen Gebet und Kultur! Und im gleichen Licht von oben steht auch das sehr realistische Bild des sündigen, des versagenden und versuchten Menschen, des aussätzigen armen Heinrichs, des Simpels Grimmelshausens, des armen und seligen Don Quichote.
Es kann nicht, darin hat Kierkegaard recht, um eine Synthese gehen. Schleiermacher und seine deutschen und dänischen Nachfolger haben das Christliche in Kultur aufgehen lassen. Es kann aber auch nicht, wie Kierkegaard wollte – oder nichtwollend doch anregte –, um ein Entweder–Oder gehen. Es kann nur gehen um das, was in Reinhold Schneiders Werk so überzeugend unter der Kategorie der «Begegnung» geschichtlich verdeutlicht wird. Begegnung ist eine menschliche, ja eine zwischen-Gott-menschliche Kategorie, die entscheidende sogar der ganzen Heilsgeschichte. Karl Muths Tat war die «Wiederbegegnung von Kirche und Kultur». Ein Aufeinander-Zugehen, ohne Verleugnung des Eigenstandes. Bei Schneider die Begegnung zwischen den Königen und den Heiligen, ermöglicht dadurch, daß auch die Könige Verzichter sind und sein müssen, während die Heiligen von Gott her zur Welt gesendet werden. Begegnung, Funkensprung, Dramatik, je neue Tragik und (wörtlich) Auseinandersetzung, je neue Zusammenführung auf einer unverhofften Ebene, ohne daß je letzte Auflösung, die «Systematik» möglich wäre.
Auch die Geschichte der abendländischen Philosophie vollzieht sich im Raum des Religiösen. Für Platon, auch für die Stoiker und Neuplatoniker sind Philosophie und Theologie noch identisch. Vernunft ist Erkenntnis des Göttlichen, oder sie ist nichts. Das ist das Thema sowohl Augustins wie Thomas’ von Aquin, es ist sogar noch das Thema Kants und der Idealisten. Es ist, über alle inzwischen aufgehenden Dualismen (von Verstand und Vernunft) hinweg erneut das Thema Bergsons, Heideggers und Jaspers’. Es gibt keine «profane Vernunft». Claudels Anknüpfen bei Thomas ist richtig, so wie vor hundert Jahren das Anknüpfen F. von Baaders am gleichen Punkt richtig war. Man kann dem Rad der abendländischen Geistesgeschichte keine Zähne ausbrechen, wenn es sich wirksam drehen soll. Man kann die Scholastik nicht auslassen, nicht totschweigen, nicht durch Vergessen und Interesselosigkeit hinter sich lassen, wie es leider heute weitgehend in Deutschland getan wird. Nur durch die Scholastik hindurch kommen wir über die Scholastik hinaus. Der Weg, den Josef Pieper seit Jahrzehnten sauber und gewissenhaft, aber einsam geht, und der darin besteht, das Licht des «allgemeinen Lehrers» genau auf unsere Situation zu lenken, aber diese Situation entsprechend auch der Weite dieses Lichtes zu erschließen: diesen Weg müßten viele erneut beschreiten, wenn wir Katholiken ein Weltbild besitzen wollen, das geräumig genug ist, Natur und Übernatur, «Schöpfung und Bund», irdische Realität und eschatologische Verheißung sich begegnen zu lassen. Hier werden auch die vordergründigen, allzu gefühlvollen Begeisterungen in Zucht genommen und aufgehoben – im guten Sinne – in die höhere Begeisterung der christlichen Vernunft, die sich durch Besonnenheit, Nüchternheit und Universalität auszeichnet, die einzige Form der Vernunft, mit der wir heutigen Christen der progressiven Universalität modernen Denkens begegnen können.
Was haben wir mit all dem für die neue Gründung beigesteuert? Zu vieles vielleicht, sicher auch zu weniges. Kein Programm, höchstens eine Marschroute. Wir wollen deshalb, zum Ende, nochmals konkret werden.
Eine Akademie muß «Stadt auf dem Berge» sein; man steigt empor, man steigt bereichert wieder herab. Dazu braucht es vor allem eine Stätte, ein Haus. Nicht in der Stadt, sondern in der Stille, in der Landschaft. Altenberg ist so ein Ort, oder Laach oder Kremsmünster. Man kann auch etwas Bescheideneres bauen. Aber es muß eine Stätte der Ruhe, der Kontemplation sein. Es ist heute gar nicht leicht, in Deutschland Exerzitien zu geben, Tage des Stillschweigens, des Gebetes, der Betrachtung der Heiligen Schrift: weil für die nötigen Stätten kaum noch genügend gesorgt ist. Es wäre sehr sinnvoll, die «Arbeit des Gebetes» und die der Akademie im gleichen Haus zu verrichten. Ora et labora. Das Gebet der einen Gruppe müßte in den Räumen noch lebendig sein, während die nächste zu einer Arbeitstagung anrückt. Alles, was gearbeitet wird, muß zuletzt im Zeichen der Begegnung mit Gott, mit Gottes Wort in Betrachtung und Gebet stehen. Lieber wenig im Programm, dafür aber Zeit für ein Atemholen der Seele. Und immer muß die ganze Höhe der christlichen Frohbotschaft und der christlichen Forderung vor den Augen stehen; nirgends dürfen zum Beispiel die evangelischen Räte ausgeklammert werden. Nirgends darf es zu dem praktischen Kierkegaardismus kommen, daß die Kirche in der Vorstellung der Akademieteilnehmer in zwei getrennte Gruppen zerfällt, die einander nicht oder nur sehr wenig angehen: hier die professionellen Beter (der Klerus und die Ordensleute), dort die professionellen Arbeiter: vorwiegend die Laien. Hier die «Verzichter», die den privilegierten, aber eben doch privaten Weg der evangelischen Räte beschritten und damit freiwillig aus der Diskussion um die weltlichen Belange ausschieden, die davon nichts verstehen und deshalb auch nicht befragt zu werden brauchen, dort die «Gebraucher»: der Ehe, der weltlichen Güter und Freiheiten, denen es obliegt, weil sie Kenntnis und Erfahrung des Weltlichen haben, zu dessen christlicher Bewältigung beizusteuern. Dieses heute in weite Bereiche des kirchlichen Lebens hinein maßgeblich gewordene Kirchenbild ist – mit Verlaub gesagt – nicht katholisch. In zweifacher Hinsicht nicht. Im Spiegel des Evangeliums betrachtet, läßt sich die Behauptung nicht rechtfertigen, der Klerus und die «Jungfräulichen» seien gleichsam bloß das Licht der Kirche, während der Laie – auf der verantwortungsvollen Grenzscheide zwischen Kirche und Welt – das eigentliche Licht der Welt sei. So einfach liegen die Dinge nicht. Irgendwo wäre es für beide sehr praktisch, wenn eine so simplistische Arbeitsteilung das Richtige träfe: die Ordensleute könnten ihren Ordenskram, die Bischöfe und Pfarrer ihren kirchlichen Kram betreuen, und die Laien würden sich für den Kulturkram spezialisieren. Das wäre das sichere Ende jeder Idee und Wirklichkeit einer christlichen Kultur. Eine katholische Akademie, die diesen Namen verdient, wird vor allem gegen diese schleichende Häresie angehen müssen. Sie wird im gleichen Zug über all die kleinlichen Ressentiments der kirchlichen Stände gegeneinander hinweg ihre Ziele entwickeln müssen – die Ängstlichkeiten des Klerus gegen die überhandnehmende Macht der Laien, die Ressentiments der Laien gegen die Machtgelüste des Klerus, die gemeinsamen Ressentiments beider gegen die Ordensleute (tiefverwurzelt im deutschen Katholizismus!), schließlich die Ressentiments der Orden gegeneinander. Die Akademie muß, in Programm und Durchführung, die Einheit nicht sosehr der Organisation als vielmehr der Liebe zur Darstellung bringen.
Keinesfalls darf es so sein, daß eine Tagung, zum Beispiel über Fragen der Medizin, der sozialen Fragen, des Rechtes, der Pädagogik, der Politik, nicht weiter vordringt als bis zu den Fachproblemen. So brennend diese auch sein mögen, es gibt etwas, was viel brennender ist: die Liebe Gottes. Und was viel aktueller und viel fordernder ist. Hat man erst einmal zusammen gebetet, zusammen das Wort Gottes nicht nur flüchtig angehört, sondern in einer ausreichenden Zeit und ohne Ungeduld, zum «Praktischen» zu kommen, auch betrachtet und genossen (frui), dann wird man vom «besonderen Teil» Nutzen und Frucht erwarten können. Die Schranken sind weggerückt, die unsern Horizont so eng und oft so bekümmert und einseitig, fanatisch und verbohrt werden ließen. Wir haben Abstand und Übersicht, soweit Gottes Wort sie uns Pilgern gewähren will. Ist es nicht die letzte, himmlische, so doch eine derart überwältigende, daß uns der Glanz der Herrlichkeit blendet. Dieser weite, katholische Horizont wird es auch verhindern, daß wir in die Enge und in die Infantilismen eines weltgeschichtlich längst überholten nationalistischen Standpunktes zurückfallen. Gerade wir Katholiken müssen in dieser Beziehung um jeden Preis aktiv vorangehen. Keine völkischen Schranken! Keine exklusiv deutsche Problemstellung! Kein Hineinzwingen anderer Perspektiven in die der eigenen Nation! Aber nicht nur äußerlich, politisch, wirtschaftlich «international» denken, sondern menschheitlich, weltanschaulich, kirchlich. Es muß in einer deutschen Akademie ohne weiteres möglich sein, einen französischen, englischen, spanischen Vortrag zu veranstalten. Und das nicht als ein blaues Wunder, sondern als Folge eines normalen Kontaktes und Austausches mit den verwandten Bestrebungen im Ausland. Lange Zeit war Deutschland das «europäischste» Volk Europas, das wie kein anderes die Weltkultur zu seiner eigenen machte und zählte und seine Sendung als eine Vermittlung verstand zwischen West und Ost, Nord und Süd, zwischen den Konfessionen und den Philosophien, wenn auch der Universalismus der Goethezeit und der Romantik stets einen gefährlichen Feind am deutschen Biedermeier all derer besaß, die nichts weiter wünschten als ein biederer Meier zu sein… Die Vermittlungsaufgabe Deutschlands ist heute größer als je, sie kann, menschlich gesprochen, als eine Überlast und Überforderung erscheinen. Dennoch muß sie gesichtet werden. Sie wird keinesfalls auf der bloßen Ebene politischer Klugheit, mit den Mitteln eines Tages-Opportunismus und der (von Fichte so gerühmten) nationalen «Untreue» als der Tugend der absoluten Dynamik gelöst werden, sondern höchstens von einer Katholizität, und zwar nicht bloß der Breite, die alles umarmt und für alles Verständnis hat (wie ein Hegel, der leicht in Marx umschlägt), sondern der Höhe, der Vertikalität, ich meine jenes Gefälles zwischen Gott und Welt, das an der Haltung des Christen und gerade des Gebildeten, abgelesen werden muß. Das Gefälle entscheidet. Das Gefälle im Kraftwerk erzeugt Strom und Licht: harmlose, ruhige Ergebnisse, die irgendwo, fern, einen Sturz, den Wirbel einer Turbine voraussetzen. Das Gefälle entscheidet: die Überwältigung dessen, der den Auftrag übernehmen soll, durch die Höhe, die niederschmetternde Reinheit und Unnahbarkeit des Gottes Israels, und das Brennen der glühenden Kohle in der Hand des Seraphs, der des Propheten Lippen berührt. Und das bittere Verschlingen des heiligen Buches. Und die lange Wanderung des Einsamen, den Weg zurück und gegen den Strich, vom gelobten Land in die Wüste und empor auf den Sinai, wo vor Jahrhunderten Jahwe im Feuerbusch und im Donnerblitz erschienen war, aber Moses ist längst tot, und das Volk hat sich im Land zur Ruhe gelegt, und Gott ist nicht mehr im Sturmgewitter, der Einsame der kahlen Stätte spürt nichts mehr als das leise Lüftchen, darin aber ist der Herr. Wie der Sinai zum Horeb wird: das ist das unüberholbare Ereignis der Religion, es ist auch unser Ereignis. Und Elias ist Vater des Karmel… Und erst wenn es den Heiligen Berg in der Wüste gibt, kann Gott den damit verbundenen Heiligen Berg Sion beziehen (Gal. 4, 25).
Nur auf den Bergen erfährt der Beter Stimme und Willen Gottes. In den Niederungen und an den Königshöfen in Jerusalem und Samaria wird eifrig Politik getrieben: Situationsethik in all ihrer Subtilität: mit Hundeflair erhascht man den Wind von Ägypten und Babylon her und versucht, daraus den «Willen Gottes» und die Marschrichtung des heiligen Volkes zu errechnen. Und gewiß hat die Geschichte, die «Stunde» ihren Sinn, und wir sind aufgefordert, ihn zu deuten. Aber wozu wäre Gebet nütze, wenn nicht Gott dem Beter einen Willen offenbarte, der immer wieder quer liegt zu allen kulturellen und politischen Situationen der Welt? Und gerade dieses Quere, Störende, Unberechenbare, weil souverän Freie, gerade das ist das Rechte. Wie denn, kann Gott nicht durch die Beter seiner Kirche Worte in unsere geschichtliche Stunde hineinsprechen wollen, die Lösungen sind nicht für heute, sondern für morgen? Also ganz gewiß sich nicht ergeben können aus klugen Kombinationen der heute verfügbaren Elemente? Walter Dirks hat in seinem höchst beachtlichen Buch «Die Antwort der Mönche» diese weltgeschichtliche, politische und kulturelle Möglichkeit als eine immer wiederkehrende, für die abendländische Geistesgeschichte geradezu entscheidende Wirklichkeit aufgezeigt. Vielleicht müßte man vom ganzen Christentum das gleiche sagen: es ist entscheidendes Wort Gottes in die Geschichte hinein, in einen Zeitpunkt gesprochen, da die Welt noch kaum reif dazu war, und erst allmählich, als sie reifer wurde, zeigte sich, welchen Umfang, welche Folgen das gesprochene Wort besaß. Wir stehen ganz am Anfang seiner Auslegung.
Die Berge! Sinai, Horeb, Karmel. Der Berg Sion. Der Berg Tabor. Der Berg der Seligkeiten. Der Ölberg. Der Berg mit der guten Luft, mit der weiten Aussicht, mit der Stille, mit der Nähe zu Gott. Der Berg, auf dem man klein wird in der Größe der Schöpfung und der Geschichte, seine Enge vergißt, seine Ängste verliert, wie von selber das Beten wieder erlernt. Civitas, super montem posita. Fundamenta ejus in montibus sanctis. Levavi oculos meos in montes, unde veniet auxilium mihi.
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