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Leuchtet Jesus ein?
«Alles, was bewiesen werden kann, kann auch widerlegt werden», hat Georg Simmel, vielleicht im Spaß, gesagt und damit hinweisen wollen auf tiefere Formen der Erkenntnis im Bereich des Lebendigen und Personalen. Aber auch dieses steht mitten in der Welt der Fakten, an denen sich die Beweise und deren Widerlegung zunächst mühen, weil auch Fakten immer in Zusammenhängen stehen, die so oder anders spielen und ihnen verschiedene Beleuchtungen geben können.
Jesus von Nazaret steht ebenfalls – und zwar wesentlich – in den geschichtlichen Zusammenhängen und damit im Schlachtgewühl der Beweise und Widerlegungen. Man kann nicht viel dagegen haben, daß ihn Jaspers mit Sokrates, Buddha und Konfuzius zusammen unter die «Maßgebenden» eingereiht hat, aber natürlich ist damit die entscheidende Frage nach dem Anspruch Jesu umgangen. Hat er jedoch diesen Anspruch, der von Gott gesandte einzige Heilbringer zu sein, wirklich erhoben? Frühere Zeiten hatten es mit der Apologetik für ihn leicht: er hat Wunder gewirkt, um seine Lehre zu bekräftigen, er hat die Prophezeiungen erfüllt, die auf ihn hinwiesen; die Männer, die von ihm Zeugnis ablegen, sind wahrhaftig, die Kirche, die er gestiftet hat, ist geographisch wie qualitativ weltumfassend. Keiner dieser Beweise ist unwiderlegt geblieben: wir haben analoge Wundergeschichten von gleichzeitigen Thaumaturgen, von den ausdrücklichen Weissagungen haben die wenigsten auf ihn gezielt, und er selbst hat offenbar den Messias und Königstitel für sich abgelehnt; subjektiv mögen die Zeugen Jesu gutgläubig gewesen sein, aber sie haben offenkundig an seinen Worten und Taten herumgebastelt, ihren Glauben in die Darstellung seiner Gestalt zurückprojiziert, ihn schließlich (Johannes!) in Höhen aufgesteigert, in die seine gesprochenen Worte sich nie verirrt hatten. Und die Ausbreitung seiner Kirche ist heute nicht beeindruckender als die anderer Religionen oder Weltanschauungen; ihre qualitative Katholizität mag für Gläubige evident sein, von außen betrachtet ist sie wenig einleuchtend.
Apologetik muß sich auf der ganzen Front in Rückzugsschlachten vom Feind absetzen; die zentralen Daten, auf denen das Phänomen Jesu zu stehen schien, sind angefochten: die Auferstehung vor allem (was hat sich hinter den so widersprechenden Berichten davon eigentlich zugetragen?), und wenn diese fällt, fällt natürlich das von ihr her gedeutete Kreuz, dessen Heilsbedeutung dann unerfindlich wird, und hinter dem Kreuz der im öffentlichen Leben Jesu erhobene singuläre Anspruch, der ja durchaus in die Ereignisse zurückprojiziert sein konnte, usf. usf.
Aber ist die historische Wirkung Jesu nicht eine unvergleichliche, so daß man die Weltgeschichte mit Recht in die Zeit vor ihm und nach ihm einteilt? Mancher wird diese Wirkung pauschal gern einräumen, aber zugleich zumindest ihre Zweideutigkeit betonen: Märtyrer und Heilige: sehr wohl, aber haben andere Religionen und sogar Atheismen nicht die ihrigen? Und dann die Folgen der konstantinischen Vermischung von Staat und Kirche bis zur Neuzeit hin, die Reichsbischöfe, die Inquisition, die Kreuzzüge, Galilei, der Scheiterhaufen Brunos, der Obskurantismus von Päpsten noch im letzten Jahrhundert, Übergriffe im Gebiet kirchlicher Unfehlbarkeit (die Fehlweisungen der Bibelkommission), aber weit wichtiger als all dies: die Unfähigkeit, das elementare Gebot Jesu auszuführen: einmal sich mit den Armen und nicht mit den Reichen zu solidarisieren (so daß anscheinend der Marxismus korrigierend eingreifen mußte, um zu zeigen, was wirklich hätte geschehen sollen), zum andern den einen Beweis seines Gekommenseins zu leisten: einig zu sein in ihm, wie er und der Vater einig waren: statt dessen Zank und Zerfall der kirchlichen Einheit, so daß jedes apologetische Argument, das sie für sich aufstellt, zum Schlag ins Wasser wird. Aber nicht das ist hier gefragt, sondern das Argument für Jesus. Leuchtet es heute noch ein?
Conzelmann mag gesagt haben, die Kirche lebe vom Nichtwissen dessen, was in der Exegese verhandelt wird: gerade dieses Nichtwissen (und zum Teil offenkundige Nichtwissenwollen) ist ein immerhin beachtliches Phänomen. Denn es zeigt: für den größten Teil der Menschen, die sich für Jesus interessieren, hat seine Gestalt, so wie sie einheitlich aus den neutestamentlichen Zeugnissen hervortritt, weit mehr Überzeugungskraft als die diese Einheitlichkeit zerlegenden Subtilitäten der Exegeten, deren Ergebnisse selten weiter als bis zu Wahrscheinlichkeiten führen. Gesetzt also, sie führte das eine und andere Mal in die Nähe der Gewißheit: diese käme nicht auf gegen die immer noch unangefochtene Einheitswirkung der Gestalt. Mag sein, daß Jesus dieses oder jenes Wort nicht ausdrücklich so gesagt hat: es bleibt doch offenbar die angemessene Deutung seines Verhaltens; der Christ würde sagen: der Heilige Geist, der die Evangelisten inspiriert, gibt ihnen die rechte Wendung ein, die die Situation und Jesu einmalige Reaktion in ihr exakt ausdrückt. Dies gilt bis zu so extremen Worten wie die Selbstdeutungen Jesu bei Johannes: «Ich bin Licht, Leben, Wahrheit, Weg, Auferstehung, Speise ins ewige Leben» usf.
Sagen wir es anders: diese Unzahl einfacher Leute, die naiv unmittelbaren Zugang zu Jesus finden, ohne sich um den Stacheldraht der Philologen zu kümmern: sehen sie vielleicht etwas, was die Historisch-Kritischen gar nicht sehen? Gerade weil sie naiv sind, ihr Auge einfältig (Mk 6,22), ihr Geist arm ist (Mt 5,2)? Es gibt ein zentrales Wort Jesu, das man aus dem Evangelium nicht herausoperieren kann: «Ich preise dich, Vater, Herr Himmels und der Erde, daß du dies den Weisen und Klugen verborgen, Einfältigen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, so gefiel es dir» (Mt 11,20). Diese Einfältigen sehen auch heute Dinge beisammen, die den Weisen und Klugen auseinanderzuklaffen scheinen. Wie sollen denn diese total bankrotten Jünger plötzlich zu ihrem geistigen Reichtum gelangt sein, wenn Jesus nicht auferstanden und in ihrem Geist alles auf den Kopf gestellt hat? Und wenn das so ist, weshalb an der Deutung und Bedeutung des Kreuzes zweifeln?
Um so mehr als hier ein einziges Mal eine Gottheit Partei ergriffen hat für die Leidenden, die Erniedrigten und Beleidigten? Wer stiehlt mir einen solchen Gott, der, wie ein verborgener Dichter im Archipel Gulag zu sagen sich erkühnt, nicht nur sterben mußte um die Sünden der Menschen zu tilgen, sondern um ihre Leiden mitzuerleben1. Einen Gott, der nicht nur – bestenfalls – vom Himmel her Mitleid hat mit den armen Geschöpfen, sondern ihre Schmerzen und Ratlosigkeiten teilt, ja weitergeht und diesen einen Sinn von Liebe und Verklärung verleiht, so grauenhaft sie auch sein mögen. Erklärt wird das Leiden nicht – aber auch der Kommunist, der es abschaffen möchte, erklärt es nicht, besonders nicht das sinnlose, unerlösbare Leiden derer, die schon tot sind, und auch der Buddhist, der es erklärt und Techniken angibt, ihm zu entfliehen, kann das Leiden der Mitkreatur nicht aufheben –, erklärt wird also das Leiden nicht, aber Öl und Wein wird in die Wunden gegossen und Einer ist, der für den unter die Räuber Gefallenen Sorge und Verantwortung übernimmt. «Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.» Es muß einer sehr hoch stehen, wenn er solches ausrufen kann und sehr weit herabgestiegen sein, wenn es kein großsprecherisches Schwindelwort sein soll. Und weil offenbar beides, die Hoheit und Erniedrigung in einem solchen Wort zusammenkommt, deshalb leuchtet es ein, heute wie damals.
Was aber heißt einleuchten? Sicher etwas mehr als bloß logisch schlüssig und damit überzeugend sein. Das Wort selber trägt ein Licht in sich, das in uns hineinleuchtet, und wenn das Wort, dann vor allem auch der, der es gesprochen hat.
Es wird hier einfach unmöglich, zwischen Objektiv und Subjektiv zu unterscheiden, zwischen apologetischen «Beweisen», die auf äußern Fakten aufruhen, und dem sogenannten inneren Glaubenslicht, das uns die geheime Richtigkeit der Fakten, Worte und Sinnzusammenhänge aufzeigt. Die einfältigen Augen des Glaubens sehen die leuchtende Wahrheit nicht inwendig in sich, sondern im objektiven Evangelium, dem sie so oder anders begegnen, aber dieses Leuchten der Wahrheit leuchtet für sie, in sie hinein, und damit in ihnen selbst. Und es besteht keine Diskrepanz zwischen dem draußen Erkannten und dem innen Sich-zu-erkennen-Gebenden, er ist der Gleiche.
Wir haben heute zu diesem Mysterium des Erkennens andere Zugänge als die alten Apologeten; wir wissen, was einer Person, gar einer geliebten, begegnen heißt. Hunderte haben sie ebenfalls angetroffen, kennen ihren Namen, ihren Beruf und ihre Gewohnheiten, aber nur ich kenne sie von innen, so wie sie ist. Und ich erkenne sie auch durch ihre neutralen Worte und Gebärden hindurch, die andere gleichfalls wahrnehmen und auf ihre Weise «verstehen», aber ohne das Herz zu sehen. Muß man also in Jesus verliebt sein, um ihm in Wahrheit zu begegnen? Sagen wir viel schlichter: Man muß ihm glauben. Für wahr und für möglich halten, was er sagt und versichert und tut. Zum Beispiel wenn er den unendlichen Gott «Väterchen» nennt, was er sicher getan hat. Zum Beispiel wenn er nicht mit frommen Sprüchen, sondern mit einem großen Schrei stirbt, was er ebenfalls sicher getan hat.
Und glauben heißt hier noch gar nicht, eine «göttliche Tugend» praktizieren, sondern dem, was sich darbietet, nicht ausweichen. Nicht schielen. Sich vielmehr stellen, standhalten. Das ist wohl das Entscheidende. Die meisten blicken an der Sache vorbei. Sie sind mit ihrem Urteil schon fertig, ehe sie sich auseinandergesetzt haben. Das Wort Vor-Urteil trifft hier ins Schwarze. Das gilt auch von großen Leuten, wie Goethe und Nietzsche; der letztere hat vielleicht einmal wirklich hingesehen, aber dann leidenschaftlich weggeschaut und, da er ehrlich war, immer die Versuchung gespürt, doch wieder hinzusehen. Ausreden sind so leicht bei der Hand: man braucht bloß, statt auf Jesus, auf die Kirche blicken, und schon ist man entschuldigt (und wer sieht schon die wahre Kirche, die der Heiligen?).
Jesus braucht keine Apologetik: er leuchtet ein. Er beleuchtet jeden, der in die Welt kommt (Joh 1,9) und nicht absichtlich wegschaut. Die Kirche soll für sich keine Apologetik treiben, sondern versuchen, so zu sein, daß sie einleuchtend wird; das ist schwerer, weil sie aus vielen besteht, die alle Sünder sind und daher Mühe haben, miteinander auszukommen. Aber sie sind um den Namen und das stets gegenwärtige Werk Dessen versammelt, der ihr Licht ist, und so müßte es nicht gar so schwer sein, selber, von ihm beleuchtet und bevollmächtigt, ein wenig «Licht der Welt» zu sein (Mt 5,14), das heißt, Den sichtbar zu machen, der mit den Seinen zusammen ein einziges Licht bilden möchte.
- Solschenizyn, Der Archipel Gulag III. Zürich 1977, S. 109.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Leuchtet Jesus ein?
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo