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Jesus als Kind und sein Lob des Kindes
Kindsein war in der Antike etwas wie Minderwertigkeit, deshalb kann das griechische «pais» (ein Kind zwischen sieben und vierzehn Jahren) auch den Sklaven oder Diener ausdrücken, beide haben eine niedrige gesellschaftliche Stellung. Mit dem Evangelium, das Jesus Christus auch als Erwachsenen als das bleibende Kind des Vaters kennzeichnet, ändert sich die Einstellung grundlegend. Dieses Kindsein des Vaters, ja sein immerwährendes Geborenwerden aus dem Vater wird, wie der erste große Kirchenvater, Irenäus, es wundervoll darlegt, nicht nur Vorbild, sondern notwendiger Zustand für alle: «Alle Menschen, die Jesus durch sich selbst zu retten kam, sind in Gott neugeboren: Säuglinge, Kinder, Jünglinge, junge und alte Männer. Deshalb ist er durch alle Lebensalter hindurchgegangen: Als Säugling unter den Säuglingen hat er diese geheiligt, als Kind unter den Kindern hat er dieses Alter geheiligt und ist gleichzeitig für die Kinder ein Vorbild der Hingabe, der gerechten Unterwerfung geworden, als Jüngling unter Jünglingen ist er auch für sie zum Vorbild geworden und hat sie für den Herrn geheiligt, und gleicherweise ist er auch ein älterer Mann unter Ihresgleichen geworden, um in jeder Hinsicht ein vollendeter Meister zu sein, nicht bloß durch Verkündigung der Wahrheit, sondern auch dem Alter nach, indem er gleichzeitig dieses Alter heiligte und dafür zum Vorbild wurde.»1
Aber schließlich ist er dieses Vorbild für alle so, daß er das Wesen der verschiedenen Alter in sich einheitlich zusammenfaßt; das deutet Paulus schon an, wenn er ermahnt: «Brüder, werdet nicht Kinder in der Urteilsfähigkeit; Kinder, was Bosheit angeht, gewiß; aber im Urteilen erzeigt euch als reife Männer» (1 Kor 14,20). Augustin war von diesem Paradox stark berührt: «Euer Greisentum sei wie eines Knaben und euer Knabentum wie eines Greises», und er erklärt das näher: «Weder sei eure Weisheit mit Hochmut verbunden noch eure Demut ohne Weisheit.»2 Der Mensch muß dem Lebensalter nach fortschreiten, aber so, daß unser Jungsein nicht überaltern darf: «Nicht so wollen wir fortschreiten, daß wir aus Neuen Alte werden, sondern eben das Neusein soll wachsen.»3 Damit ist aber schon die Formel gewonnen, die uns das immerwährende Kindsein Jesu und seine Forderung an die Jünger und an uns, zu werden wie die Kinder, aufschließt. Wenn er der wahre «Erzieher der Unverständigen, der Lehrer der Unmündigen» (Röm 2,20) ist, so erzieht er die Unverständigen doch zu dem, was er als die wahre, die kindliche Unmündigkeit preist.
1. Jesus als Kind
Das menschliche Kindsein Jesu bleibt von dichten Schleiern verhangen; der Versuch, sie – etwa psychologisch – zu lüften, wird immer fehlschlagen. Es wurden dicke Bücher darüber verfaßt, wie das Jesuskind schon im Mutterleib der vollkommene Anbeter des Vaters war (Bérulle), da es immer schon, auch als Mensch, die vollkommene Anschauung Gottes und damit die Fülle der Erkenntnis besessen habe; aber solche frommen Spekulationen haben kein Fundament im Evangelium. Man kann – zumal vom Mittelalter und besonders vom 17. Jahrhundert an – eine besondere Andacht zum Kind Jesus entwickeln,4 doch muß diese die Grenzen des Wißbaren einhalten und sich von R. Guardini sagen lassen, daß es keine «Psychologie Jesu» gibt.
Für einen Juden, der die Erziehung des Kindes Jesu in einem gläubigen jüdischen Haus und in einer Synagoge schildert, wo es die Psalmen, das Schema, den Vergegenwärtigungssinn des Pascha und der übrigen Feste kennenlernt, ist es relativ leicht, «die unbekannten Jahre Jesu» zu schildern,5 er kann sogar aufgrund der Konfrontation des Judentums mit der Antike den Übergang von einem kollektiven Verständnis der Gottessohnschaft Israels zur personalen Jesu plausibel machen.6 Für einen Christen, der das einmalige Selbstbewußtsein Jesu nicht historisch-soziologisch, sondern nur theologisch deuten kann, sind die Mutmaßungen über Jesu Kindheit, ja seine ganzen verborgenen Jahre bis zum Hervortreten des Dreißigjährigen sehr viel schwieriger. Was hat er für Mittel, das geheimnisvoll Unbekannte anzunähern, über das ihm außer der Episode des Zwölfjährigen (Lk 2,41-52) nur der farblose Vers zur Verfügung steht: «Das Kind wuchs und erstarkte in der Fülle der Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm» (Lk 2,40).
Er hat nur zwei Daten, die er, so gut er’s vermag, in Einklang zu bringen hat: einmal die zweimalige Aussage eines «Wachstums», eines «Erstarkens», einer «Zunahme» (Lk 2,40.52), das, was für das Wissen Jesu von den Theologen als «scientia acquisita» bezeichnet wird; sodann die theologische Einsicht, daß Jesus, der vom Heiligen Geist durch die Überschattung der Jungfrau Geborene, von Anfang an ein bestimmtes Bewußtsein seiner Einmaligkeit, wenn auch nicht des ganzen Umfangs und Gehaltes seiner Sendung gehabt haben muß. Den Konvergenzpunkt dieser zwei Daten zu treffen, ihn gar konkret zu schildern, fordert größte Vorsicht und Zurückhaltung, zudem dieser Punkt sich mit der Entwicklung vom Kleinkind zum Mann erheblich verlagert haben kann. Wir versuchen, vier Schritte zu tun.
1. Nimmt man die Menschwerdung des «Wortes Gottes» ernst, so hat Jesus wie jedes Menschenkind langsam und stufenweise gelernt: nicht bloß die menschliche Sprache und die menschlichen Verhaltensweisen, sondern auch die Religion seines Volkes. Sicher wird er durch das Vorbild und die Belehrungen Marias und Josephs in die Geschichte Jahwes mit seinem Volk eingeführt, er lernt zu Hause und später in der synagogalen Unterweisung zu dem Gott Israels beten. Er lernt das Innerste und Reinste in diesen Gebeten kennen: den Preis Gottes um seiner selbst willen, die Bereitschaft Israels, als die vollkommene Schöpfung Gottes in allem Gottes Weisung zu folgen, seinen Willen zu tun. Und man ist theologisch genötigt anzunehmen, daß Maria, die gewiß den Weg ihres Kindes oder gar das Werden seiner Kirche nicht voraussah, als die Panhagia eine die umwölkte Sphäre des Alten Bundes schon überschritten Habende dessen lautersten, prophetischen Kern unfehlbar und leuchtend darzustellen verstand.
Vom Bewußtsein des zuhörenden und aufnehmenden Kindes können wir wohl nicht mehr aussagen, als daß es diese Erwählungs-Geschichte Gottes mit dem Volk, diese hingegebenen Gebete mit einer Bereitschaft aufnahm, die verstand, wie sehr das alles es im Innersten anging, vielleicht darf man schon sagen, es im An-gehen betraf, gleich als fühlte es sich im Herzpunkt Israels selbst. Es wird der Jahre des Heranreifens bedurft haben, um durch dieses Sich-Angesprochen-Fühlen von der Geschichte und aktuellen Wirklichkeit des Bundes den auf Gott Blickenden in eine nur ihm fühlbare Isolierung zu führen, als beleuchte ein geheimnisvolles Licht aus dem letzten Hintergrund seines Bewußtseins alles Erfahrene so, daß er es nur in sich selber wahrnehmen, aber keinesfalls mitteilen konnte. Vielleicht ist die erste Frucht dieser Erfahrung die der Verantwortung Israels Gott gegenüber, die ihm wie eine von ihm zu tragende Last zugemutet war, noch bevor der Knabe diese Last als eine persönliche Sendung zu deuten vermochte.
2. Ein zweites, schwieriger zu Beweisendes muß hinzugefügt werden. Etwas, das wir aus theologischen Gründen ausschließen zu müssen meinen, ist ein Bruch innerhalb der Entwicklung Jesu, was das Geheimnis seiner Herkunft betrifft. Es kann nicht sein, daß er in einem bestimmten Augenblick darüber «aufgeklärt» werden mußte, daß Joseph nicht sein leiblicher Vater sei. Daß er dafür «gehalten wurde» (Lk 4,22), daß Maria, die mit Joseph verheiratet war, diesen als den Vater bezeichnete (Lk 2,48), war nicht zu umgehen und lag auch im Willen Gottes selbst, da Joseph vom Engel geheißen wurde, Maria als seine Gattin in sein Haus aufzunehmen (Mt 1,24). Es ist aber auch nicht nötig, vorauszusetzen, daß die Mutter das Kind über die Weise seiner Empfängnis aufzuklären brauchte; nach dem oben Gesagten wuchs in diesem das Bewußtsein seines besonderen Verhältnisses zum Gott Israels als seinem Vater heran. Welche Worte Maria brauchte, ihn im Bewußtsein dieses Verhältnisses zu bestärken – von dem sie aufgrund ihrer Überschattung durch den Geist irgendwie wußte, ohne deshalb bereits eine theoretische Einsicht in das Mysterium der Trinität zu besitzen –, das dürfen wir dem Geheimnis ihrer Diskretion anheimstellen. Ihre eigene Einsicht in das göttliche und damit auch in das gottmenschliche Mysterium ist eingegrenzt zwischen zwei Schriftworten: das eine ist die Verheißung des Engels, sie werde den «Sohn des Höchsten» gebären (Lk 1,32, wobei auch noch die Worte Simeons über das «Heil Israels» und das «Zeichen für Fall und Auferstehung vieler in Israel» hinzukommen: Lk 2,30.34), das andere ist ihr und Josephs Unverständnis, da der Zwölfjährige von Jahwe als seinem Vater spricht (Lk 2,49f.).
3. Die dreißig Jahre Jesu sind ohne Zweifel ein Zeitraum sukzessiver Einweihungen in seine Identität und damit auch in seine Sendung. Einzelne Stufen lassen sich darin nicht verfolgen, aber das plötzliche Licht, das die Episode des Zwölfjährigen auf diese Einweihungen wirft, zeigt mit Evidenz, daß Entscheidendes darin schon sehr früh erfolgt sein muß. Die Einweihungen werden gleichzeitig a priori aus dem wachsenden inneren Licht und a posteriori aus der wachsenden Einsicht Jesu in die Tatsache, daß der ganze Alte Bund, seine Episoden wie seine Gebete, sein Gehorsam wie sein immer neues Versagen auf eine für ihn noch ausstehende Zukunft hingerichtet waren. In der wachsenden Einsicht in seine Identität und Sendung lag durchwegs beides: einmal eine innerste Solidarität mit Israel, bis dahin, daß er in ihm schon eine bestimmte Gottessohnschaft erkannte, die sich in der seinen erfüllen sollte (Joh 10,33-36) – war er doch zuerst zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt, um das verstreute, unkenntlich gewordene Zwölf-Stämme-Volk wiederherzustellen (Mt 15,24) –, sodann aber auch die Erfüllung der schon an Israel ergangenen Verheißung, es werde (gerade im Gottesknecht und Messias) zum «Licht der Heiden bis an die Grenzen der Erde» werden (Jes 49,6; was der Greis Simeon Lk 2,32 durchaus in Erinnerung hat). Es ist deshalb schon vom Alten Bund her verkehrt, wenn Exegeten Jesus höchstens eine Heilssendung für Israel, nicht für die Welt im ganzen zuschreiben wollen. Aber beide Dimensionen seiner Sendung, der im engeren Sinn messianischen und der welterlösenden, wachsen gemeinsam hervor aus den immer tieferen Erfahrungen seines Kindesverhältnisses zum Vater, das mit seinem Erwachsen- und Verantwortlichwerden zunimmt und sich in seinem öffentlichen Leben in seiner Unvergleichlichkeit offenbaren wird. Es ist eine Kindschaft, für die menschliches Kindsein nur ein, freilich sprechendes Gleichnis ist, dessen Realität er, der Erwachsene, seinen Jüngern und ganz Israel vorlebt und die er den zu seiner Nachfolge Willigen als Gnade eröffnet, sie aber auch zur Pflicht macht (Mk 10,15 par).
4. Doch mit der Einsicht in seine Sendung – und aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit dem Wissen um deren Preis: das Schicksal des Gottesknechts (Jes 53) – ist ihm die Entscheidung, sie anzutreten, noch nicht ausgehändigt. Der Vater behält sich die Stunde vor, wann sie für die Welt offenbar werden soll. Der Sohn wartet auf das Zeichen des Vaters, daß die Stunde gekommen ist. Dieses Zeichen erkennt er im Wirken des Täufers. Zu diesem hin lenkt er, das Vaterhaus und die Mutter verlassend, seine Schritte. Er läßt sich als erstes, zum Zeichen seiner Solidarität mit dem schuldigen und umkehrenden Israel, taufen, und dabei kommt der Sendungsgeist auf ihn herab, analog dazu, wie er an Pfingsten auf die Kirche herabkommen wird. In diesem Geist, den der Vater auf ihn herabsendet, kann er in drei Jahren (oder weniger) alles erfüllen, worauf er dreißig Jahre gewartet und sich vorbereitet hat. Dieser Geist wird ihm zugleich ins Innere gegeben und bleibt, ihm jeweils den Willen des Vaters zutragend, doch «über ihm schwebend» (Mt 3,13 par, Joh 1,32). Das ist die ökonomische Gestalt der Trinität (für die Dauer des Lebens und Sterbens Jesu), die nicht identisch ist mit der Gestalt der immanenten Trinität.
2. Jesus und die Kinder
Betrachtet man die Evangelienstellen, die Jesu besonderes Verhältnis zu den «Kleinen», den «Kindern», den «Unmündigen» schildern, so dürfen sie nach dem eben Gesagten nie von der Forderung des erwachsenen Entschlossenseins zur unbedingten Nachfolge getrennt werden. Denn in Jesus ist beides eins: der ewige Hervorgang aus dem Vater, sein Kindsein ihm gegenüber (processio), und der ganze entschiedene Ernst seiner daraus erfolgenden Sendung (missio). Was menschlich gesehen Kindheit und Erwachsensein voneinander trennt: das, was die Exerzitien «electio», Wahl eines bestimmten Lebensweges oder Standes oder Berufes nennen, wobei das unbeschränkt All-Mögliche des Kindseins in die notwendige, weise Beschränkung eines einzig zu Verwirklichenden übergeht, das ist bei Jesus letztlich überspielt durch die Einheit von processio und missio, durch die bleibende Kindlichkeit innerhalb einer vollkommenen Entschiedenheit zu diesem und keinem andern Willen des Vaters. Aus dieser Einheit, die nur vom trinitarischen Hintergrund des Evangeliums allererst sichtbar und für jeden Glaubenden erheblich werden kann, sind die Aussagen über das Kindsein zu deuten.
Doch ist darin eine weitere Differenzierung anzubringen, die mit den Stadien menschlicher Entwicklung zusammenhängt. Es gibt eine doppelte «Unmündigkeit» zunächst im Bildungsgrad; während die Unbelehrten von den Pharisäern und Schriftgelehrten verachtet wurden (vgl. Joh 9,34), nimmt sie Jesus wegen ihrer leichteren Verführbarkeit in Schutz und droht den Verführern die härtesten Strafen an (Mk 9,42). Ja, er sieht in der Lage der Unbelehrtheit den unendlichen Vorteil (gegenüber «den Klugen und Weisen»), daß hier ein einfältiges Offensein für die ganze, das natürliche Verstehen des Menschen übertreffende Offenbarung Gottes besteht (Mt 11,25; Lk 10,21). Es kann ferner eine andere, schuldlose Unbelehrtheit geben, die etwa Paulus beim «schwachen Bruder» sieht, auf dessen Schwäche auch in Dingen des Glaubens der «Starke» (wozu Paulus sich zählt, Röm 15,1) unbedingt Rücksicht zu nehmen hat: «Seht zu, daß eure Freiheit den Schwachen nicht zum Anstoß gereiche!» (1 Kor 8,9; vgl. Röm 14,1-4; 15,1-6).7 Es gibt aber noch eine dritte Unmündigkeit: die eines mehr oder weniger schuldhaften Zurückgebliebenseins in der erforderten Entwicklung des Glaubensbewußtseins. Die Apostel wissen um diese Entwicklungsstufen, die von einer der Milch bedürftigen Kindheit hinüberführt zu einer Erwachsenheit, die feste Speise (in Glaubenssachen) benötigt. Die Neugetauften dürfen und sollen «wie neugeborene Kinder Verlangen nach der geistigen unverfälschten Milch» haben, aber so: «damit ihr durch sie zum Heil heranwachst» (1 Petr 2,2). Mit einem geringen Vorwurf sagt Paulus den Korinthern: «Milch habe ich euch zu trinken gegeben, nicht feste Speise, denn ihr ertrugt sie noch nicht» (1 Kor 3,2). Aber schon der nächste Satz steigert den Vorwurf: «Ja, ihr vertragt sie auch jetzt noch nicht, denn noch seid ihr fleischlich. Denn wo unter euch Eifersucht und Zank ist, seid ihr da nicht fleischlich?» (ebd. 2-3). Vollends negativ wird dieses Zurückbleiben im Hebräerbrief gewertet: «Jeder, der noch (wie ein Kind) Milch genießt, ist in der wahren Lehre unerfahren; er ist ein Unmündiger. Für die Reifen aber gibt es die feste Speise» (Hebr 5,13f.). Jesus benützt diese Terminologie nicht, aber seine Geduld mit den nicht-verstehenden Jüngern ist unerschöpflich, und wenn er verwundert ausruft: «So lange bin ich bei euch, und du kennst mich noch nicht, Philippus?» (Joh 14,9), so weiß er doch, daß sie das viele, das er ihnen noch sagen möchte, jetzt noch nicht tragen können (16,12), sondern erst wenn der von ihm gesandte Geist sie – als mündig Gewordene – in alles einführen wird.
Aber diese getroffenen Unterscheidungen, die in das neutestamentliche Lob der «Kleinheit», «Kindlichkeit», «Geringheit» das Moment der reifen Entschiedenheit miteinbringen, hindern doch nicht, daß die Worte Jesu über die Kindheit und sein Verhalten zu den Kindern eine nicht zu relativierende Bedeutung behalten. Das gilt nicht nur für einen bestimmten, vom Alter des Menschen unabhängigen Geist der Kindlichkeit, sondern schon für das Kindheitsalter mit seinen Eigentümlichkeiten als solches. In diesem Alter gehen liebendes Vertrauen (zu den für die Bedürftigkeit des Kindes Sorgenden) und fragloser Gehorsam ineinander auf wie in keinem späteren Lebensalter. Darin liegt eine Affinität zum ewigen Kind des Vaters, anders gesagt, eine Nähe zum Himmel, die Jesus in den geheimnisvollen Worten zum Ausdruck bringt: «Seht zu, daß ihr keines von diesen Kleinen geringachtet, denn ich sage euch: ihre Engel im Himmel schauen immerfort das Angesicht meines himmlischen Vaters» (Mt 18,10). Daher auch die nicht nur sittliche, sondern theologische Empfehlung an die Gemeinde, sich des hilflosen Kindes anzunehmen: Wer ein Kind aufnimmt, der nimmt Jesus und in ihm den sendenden Vater selbst auf (Mk 9,37). Und die Niedrigkeit des Kindes bleibt als solche ein stets vor Augen stehendes Bild für den Abstieg von jeder erwachsenen Selbstherrlichkeit des Mündigen in den demütigen Dienst: «Der Größte unter euch soll euer Diener sein» (Mt 23,11). «Wer sich also demütigt wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich» (Mt 18,4). Die Segnung der Kinder durch Jesus, ihr Umfangenwerden von seinen Armen bestätigt die von ihm erlebte und ausdrücklich bezeugte Verwandtschaft zwischen dem natürlichen Kindheitsalter und seinem ewigen Kindsein gegenüber dem Vater. Beide leben in der Selbstverständlichkeit des Sich-beschenken-Lassens und Sich-Verdankens. In diese Selbstverständlichkeit muß er die Erwachsenen und Mündigen, ohne sie ihrer lastenden Verantwortung zu entheben, zurückführen. Aber es muß die richtige Last sein, die sie tragen. Nicht die «ängstliche Sorge um das Leben: was ihr essen und trinken werdet, um euren Leib, was ihr anziehen sollt»; hier dürfen wir Kinder sein: «um all das sorgen sich die Heiden; euer Vater im Himmel weiß ja, daß ihr dies alles nötig habt». Die rechte Verantwortung ist anderswo: «Sucht zuerst das Reich Gottes» (Mt 6,28ff.), wie die Ordnung des Vater Unser, des Gebetes der Kinder, es lehrt. Unsere von Erwachsenheit und Mündigkeit strotzende Zeit versteht dies nicht mehr, Futurologie ist die erste und nötigste der Wissenschaften, oder man setzt, in politischer Theologie, das Reich Gottes mit der Sorge um das Essen, Trinken und die Kleidung der Armen gleich. Eine solche Theologie hat letztlich den Sinn für die Kindlichkeit verloren, soviel plausible Gründe sie für ihre Wertskala angeben mag.
3. Der Logos als Kind
Es fällt uns schwer, die Werttafel Jesu theologisch, das heißt trinitarisch, zu lesen. «Im Anfang war der Logos», der Sinn, der Ausdruck, das göttliche Wort, die Weisheit, die über alle Dinge dieser Welt ausgegossen und ihnen eingestiftet ist (Wh 7-8): Was ist an dieser Uridee der Welt kindhaft? Niemand errät es von selbst, deshalb hat in allen außerchristlichen Kulturen das Kind auch nur eine vorläufige Bedeutung, es ist Vorlauf auf den reifen Menschen. Es braucht die Menschwerdung, um uns die nicht nur anthropologische, sondern theologische, ewige Bedeutung des Geborenwerdens zu zeigen, die endgültige Seligkeit des Her-seins aus einem zeugend-gebärenden Schoß. Der «Sinn», der «bei Gott ist», ist das Produkt einer unvordenklichen, sich verschenken-wollenden Liebe, ist die Fülle, die sich einer unendlichen Entleerung des väterlichen Schoßes verdankt. Und der es daher nicht schwer wird, sich, dem Werk des Vaters fügsam, ihrerseits in die Welt hinein zu entleeren, um dadurch die Fülle der Liebe Gottes zu erweisen und mit ihr alles in allem zu erfüllen (Eph 2,23).
Deshalb behält das ganze evangelische Geschehen etwas Kindhaftes, bis hin zum letzten Schrei des am Kreuz verlassenen Kindes des Vaters: «Warum?» Kinderfrage, und die Weisheit Gottes ist hier ein fragendes Kind, das im Augenblick keine Antwort erhalten kann. Das Kindhafte des Christlichen liegt darin, daß das Kind Gottes nicht sich selbst als Gott offenbaren will, sondern einzig die Güte, die Größe und Herrlichkeit des Vaters, so wie Kinder sich ihrer Väter zu rühmen pflegen. «Meine Lehre ist nicht die meine, sondern die dessen, der mich gesandt hat.» Und dann in kühnem Wagnis einladend: «Wenn einer Seinen Willen tun will, der wird Einsicht erhalten über die Lehre: ob sie aus Gott ist oder ob ich aus mir selber rede» (Joh 7,16f.). Das Kind rühmt sich seines Vaters: «Der Vater ist größer als ich» (Joh 14,28). Ja, das Kind hat vom Vater die Macht erhalten, andere in seine eigene Geburt aus dem Vater einzuführen (Joh 1,13; 3,5-8), mit ihm zusammen aus falscher Erwachsenheit wieder kindhaft zu werden. Es ist kein leerer Vergleich, sondern die innerste Wirklichkeit des Christentums, daß wir den Geist der Kindschaft erhalten haben, der uns rufen läßt: «Abba, Väterchen! Dieser Geist bestätigt es unserem Geiste, daß wir Kinder Gottes sind» (Röm 8,15f.). Ein solches Geheimnis stellt uns jenseits des Gegensatzes von Ernst und Spiel. Nichts ist ernsthafter und verantwortlicher für Gott als die Schöpfung der Welt, aber seine Weisheit, die ihm beisteht, nimmt das Ganze als ein Spiel: «Als er die Grundfesten der Erde legte, war ich bei ihm als ein Lieblingskind, war lauter Entzücken Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit, spielte über die ganze Erde hin und hatte mein Ergötzen an den Menschenkindern» (Spr 8,29ff.). Ein Spiel, das bis zur Geißelung und Dornenkrone führt und nicht aufhört, Spiel und Ergötzen zu sein. Und wir anderen Kinder sind eingeladen, gerade in diesem Spiel mitzuspielen.
- Adv. Haer. II,22,4; vgl. III,18,7. Zu den Lebensaltern Christi vgl. mein «Das Ganze im Fragment» (1963), S. 268-321.↩
- In Ps 112,2.↩
- In Ps 131,1.↩
- Art. Enfance de Jésus (dévotion à l’). In: Dict. de Spiritualité IV/1 (1960), Sp. 652-682 (Lit.).↩
- Neben den zahlreichen neueren Veröffentlichungen, die Jesus ganz im Rahmen der jüdischen Überlieferungen sehen, ragt das Werk von Robert Aron, Les années obscures de Jésus (Paris 1960) hervor. Seine Hypothese ist die der Geburt des Christentums aus dem schon im Judentum der Zeit Jesu bestehenden Konflikt zwischen der pansakralen Religion Israels und der durch Palästina eingedrungenen säkularisierten römischen Kultur. Die Kirche, als Ergebnis des mit Jesus begonnenen Prozesses, ist «une communauté mystique et non plus physique … Les fêtes chrétiennes sont des mystères (als Inseln in einer säkularisierten griechisch-römischen Welt), les fêtes juives (étaient) des reconstitutions» (265-266) innerhalb einer umfassend symbolischen Weltschau. Vgl. vom selben Verfasser: Ainsi priait Jésus enfant (Paris 1968).↩
- Les années obscures de Jésus, a.a.O., S. 251f.↩
- Hier wäre auch noch die geringe soziale Bildung oder Stellung der Korinther zu rechnen (1 Kor 1,26ff.), die der Apostel zwar nicht als einen persönlichen Vorteil der Gläubigen versteht, wohl aber als einen Anlaß für Gott, durch Erwählung «des Niedrigen und Verächtlichen» die Überlegenheit seiner Weisheit zu offenbaren.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Jesus als Kind und sein Lob des Kindes
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo