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Gericht
Im Alten Bund
Die alttestamentliche Anschauung vom Gericht steht auf dem Hintergrund einer gemein-orientalischen Sicht von einer die Welt im ganzen durchwaltenden, alle natürlichen und menschlichen Verhältnisse ordnenden Gerechtigkeit. Der oberste Gott hat sie erlassen und wacht darüber, daß sie nicht verletzt wird. Dem König obliegt die besondere Verantwortung, daß die Menschen sich ihr einfügen. In Sumer heißt sie Me, in Ägypten Maat (die zugleich die alles durchwirkende Weisheit ist, wovon die Grundvorstellung der israelitischen Weisheitsliteratur sich herleitet), in Akkadien, Phönizien und besonders in Kanaan hat es einen Gott Sädäq gegeben – er ist in alten Namen wie Malchi-sädäq = Melchisedek noch erkennbar – den Gott der gerechten Weltordnung, dessen Funktion zu einem der Attribute Jahwes wird. (Auch der unter Salomo zu Ehren gekommene Oberpriester Sadoq, der wahrscheinlich vordem im jebusitischen Stadtheiligtum Priester gewesen war, trägt den Namen.) Wenn der Thron des Pharao und anderer Könige mit Symbolen der Maat geschmückt werden, so bilden in Ps 98,15 und 97,2 «Gerechtigkeit (sädäq) und Gericht (mischpat) die Stützen des Thrones Jahwes».1
Daher durchziehen das Alte Testament zwei Vorstellungen vom Gericht, die einander nicht stören, sondern ergänzen. Sofern Gott der Urheber und Walter der Weltgerechtigkeit ist2, hat er selbst, wie sehr zahlreiche Texte aussagen, das Gericht in der Hand; an ihn kann der unrecht Behandelte appellieren; die irdischen Richter, gelegentlich als Sachverwalter des göttlichen Rechts «Götter» genannt, haben nach keinem andern Recht als dem Gottes zu richten. Sofern aber die von Gott etablierte Gerechtigkeit eine der Welt einwohnende Realität ist, gibt es auch eine sich innerhalb der irdischen Dinge von selbst herstellende Gerechtigkeit; mit andern Worten: das Böse rächt sich an dem, der es begeht. Sieht man beide Aspekte ineins, so ergibt sich etwa das Bild von Gerechtigkeit und Gericht, das sich die Freunde Ijobs machen und das die Ansicht des klassischen Israel wiedergibt: am (endgültigen) Schicksal eines Menschen läßt sich sein vor Gott Gerecht- oder Ungerechtsein ablesen.
Natürlich mußte diese Ansicht in verschiedener Hinsicht erweitert werden. Das von Feinden unterdrückte Israel, das in der Gegenwart keine Rechtsprechung Gottes findet, appelliert an den «Tag des Herrn» in der Zukunft oder am Ende der Geschichte, da Gott über die Feinde seines Volkes Gericht halten und sein Bundesrecht Israel gegenüber offenbaren wird. Im Ijobbuch, wo dieser rechtfertigende Tag sogar für den bedrängten Gerechten anbricht und seine Freunde von Gott ins Unrecht gesetzt werden, bleibt doch eine klaffende Frage offen, über die auf Erden sich auspendelnde Gerechtigkeit hinaus, nach einem jenseits der Zeit und des Todes sich vollziehenden Gericht. Freilich, das Alte Testament gelangt nirgends eindeutig zu einem nach dem Tod des Einzelnen erfolgenden persönlichen Gericht3; es gibt nur den Ausblick auf den erwähnten «Tag des Herrn», der in der Spätzeit auch als der Tag der Totenauferstehung verstanden wird.
Die besondere Situation Israels lag darin, daß es einerseits in die alle umliegenden Völker beherrschende großartige Welt-Gerechtigkeitsidee eingebunden, anderseits durch sein einzigartiges Bundesverhältnis zu Jahwe, der sein besonderes Bundesrecht aufrichtete und hütete, bestimmt war. Dies führte zunächst, eigentlich unvermeidlich, in die Versuchung zu meinen, man könne die Gottesgerechtigkeit in der Welt überblicken; wer im Bund blieb, hatte Anrecht auf Lohn, die heidnischen Völker, die nicht darin lebten, mußten Gottes Strafe, die man auf sie herabflehen durfte, gewärtigen. Erst mit der Zeit (der Propheten vor allem) sollte Israel einsehen, daß es selber den Bund nicht wirklich hielt, daß deshalb Gottes gerechtes Gericht sich an ihm zuallererst auswirken mußte (Ez 16; 20, 32-38 usf.). Je näher ein Mensch in die Bundesgerechtigkeit einbezogen war, je mehr er um Gott wußte, desto verantwortlicher war er auch für das Halten der Bundessatzungen, wie sie sich in den sinaitischen zehn Weisungen und den sonstigen kultischen und sittlichen Verpflichtungen Israels ausdrückten. So lag es schon in der ursprünglichen Bundesurkunde: Wie Gott selber sich band, so mußte Israel in diese unerhörte Gnade hinein sich binden; fiel es vom Bund ab, so war Gott es seiner eigenen Bundestreue schuldig, das Volk zu strafen, und zwar heftiger als die unwissenden Heiden (Lev 26; Dt 28). So wird auch der endgültige Gerichtstag keineswegs ein bloßer Triumph Israels sein; seit Amos (5, 18ff.) wird dieser Tag ein solcher der Finsternis und nicht des Lichtes sein. Bei Daniel und in den Apokalypsen wird das Endgericht scheiden (sonst wäre es gar kein Gericht): Heil oder Verwerfung.
Im Neuen Bund
Das Neue Testament entfaltet organisch die schon vorhandenen Gerichtsvorstellungen. Der stets vorausgesetzte Hintergrund ist das allgemeine Gericht am Ende der Zeiten, die aber durch die Ankunft Jesu als des letzten Boten Gottes (vgl. die Verkündigung des Täufers) und Jesu eigene Predigt in drohende Nähe und Aktualität rückte. Jesus ist der danielische Menschensohn, kommend auf den Wolken des Himmels mit der Macht Gottes zum Gericht ausgerüstet; er wird, wie Gott es bei Ez 20 voraussagt, Schafe und Böcke scheiden, endgültig. Wie der Täufer, wie Jesus selbst, so predigen Petrus (Apg 2,16ff.) und Paulus Buße und Wachsamkeit.
Aber zwei Motive sind der evangelischen Gerichtsverkündigung eigen: das erste entspricht der Menschwerdung Gottes in Jesus, der als Mensch nicht mehr primär mit einem Volk als Partner zu tun hat, sondern mit je-Einzelnen, denen er begegnet und die ihn entweder anerkennen oder ablehnen. Vom bleibenden Hintergrund des allgemeinen Gerichts hebt sich daher der Aspekt einer für jeden persönlichen Begegnung mit dem richtenden Herrn ab. «Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes antreten … Also muß jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft ablegen» (Röm 14,10. 12). «Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi antreten, da soll jeder den Lohn empfangen für das, was er im irdischen Leben Gutes oder Böses getan hat» (2 Kor 5,10), «jeder, er sei Knecht oder Freier» (Eph 6,8). Das allgemeine Gericht wird also ein je-besonderes Gericht sein: dieser Aspekt wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; ihm werden wir nachzugehen haben.
Das zweite Motiv, das dem Neuen Bund eigen ist, ist in der aufgezeigten Spannung zwischen Gott als dem Begründer von Gerechtigkeit und der weltimmanenten Sädäq oder Maat grundgelegt, erhält aber jetzt – zumal bei Johannes – eine ganz neue, die Aufgabe Christi voraussetzende Ausprägung. Der allgemeine religionsgeschichtliche und alttestamentliche Gedanke erhält dadurch, daß in dieser Aufgabe Christi sich nicht nur die Gerechtigkeit Gottes, sondern in dieser Gerechtigkeit zugleich seine absolute Liebe offenbart, eine unerhörte Intensivierung. Wir beschränken uns im folgenden darauf, diese beiden spezifisch neutestamentlichen Motive in ihren existentiellen Voraussetzungen zu meditieren.
Die personale Dimension des Gerichts
Wir fragen hier nicht nach dem Bestehen oder Nichtbestehen eines (irgendwie zeitlichen) Abstands zwischen allgemeinem und besonderem Gericht (unmittelbar nach dem Tode); mit dieser Frage beschäftigt sich ein anderer Artikel dieses Heftes. Wir fragen nach der eminent personalen Dimension des Gerichts in christlicher Auffassung.
Jeder tritt als der Einzelne, der er ist, vor den Richterstuhl Gottes oder Christi (der an Gottes Statt richtet: Joh 5,22; vgl. Hen 51), und der Richter «wird einem jeden nach seinen Werken vergelten» (Röm 2,6). Jeder muß durch ein erprobendes Feuer hindurch, einsam; so einsam wie er bei seiner Geburt und seinem Tod war. In dieser Einsamkeit wird durch das Feuer kundwerden, ob einer auf dem Fundament Christi etwas durch die Gnade Kostbares aufgebaut hat, oder ob sein Dasein lauter «Heu und Stroh» war. Paulus fügt bei: «Hält jemandes Bauwerk stand, so wird er Lohn empfangen, verbrennt sein Werk, so wird er Schaden leiden. Er selbst wird zwar gerettet, aber nur wie durch Feuer hindurch» (1 Kor 3,10-15). Nicht alle Stellen sind bezüglich dieses «er selbst wird gerettet» so zuversichtlich; es gibt auch Stellen, in denen einer als Ganzer endgültig dem Feuer verfällt (vgl. Apk 20,15). Deshalb: «Ich will euch zeigen, wen ihr zu fürchten habt: Fürchtet den, der über den Tod hinaus die Vollmacht hat, in die Hölle zu stürzen. Wahrhaftig, ich sage euch: den müßt ihr fürchten» (Lk 12,5).
In dieser Gericht- und Feuersituation ist es vollkommen undenkbar, daß der Blick des Gerichteten sich vom Richter abwendet und sich umsieht, wie es etwa andern in der gleichen Situation ergehen mag – besser oder schlechter –, oder daß er zu seiner Rechtfertigung vor dem Richter auf das Verhalten anderer verweist, die ihm dies oder jenes angetan, ihn zu diesem oder jenem verführt hätten usf. Der Richter weiß das alles und bedarf keiner Aufklärungen. Die Pointe der Gerichtsparabel Jesu in Mt 25 liegt – zur großen Verwunderung sowohl der Gerechten wie der Ungerechten – darin, daß alle in ihren diversen Beziehungen zu den Mitmenschen es letztlich mit ihm, dem Menschensohn zu tun hatten: «Was ihr dem Geringsten meiner Brüder (und damit natürlich allen andern) getan habt, das habt ihr mir getan.» In diesem «mir getan» liegt verborgen oder offen auch ein «mir angetan», wie es das geheimnisvolle Weissagungswort bei Sacharja erklärt (12, 10), das die Apokalypse anläßlich des Gerichtes zitiert: «Jedes Auge wird auf ihn blicken, und alle, die ihn durchbohrt haben» (Apk 1,7). In diesem Hinblicken werden sie sehen, was sie in Wirklichkeit, wissend oder nur ahnend, angestellt haben. Man kann nicht sagen, wie «lange» (falls da von einem Zeitmaß die Rede sein kann) der Blick auf den Durchbohrten dauern muß, bis einer der Wahrheit seiner Existenz inne wird. Es könnte ja sein, daß ihm dieser Durchbohrte zunächst wie ein völliger Fremdling, der ihn nichts angeht, vorkommt, und daß er sehr lange hinblicken muß, bis ihm zu dämmern anfängt, wie sehr er immer mit ihm befaßt war, wie genau er in seinem Wesen den wahren Spiegel seiner selbst erkennt. Und dann fährt die Apokalypse, immer nach den mysteriösen Worten Sacharjas, fort: «und trauernd werden sich seinetwegen an die Brust schlagen alle Völker der Erde». Wieder sind neutestamentlich die «Völker» in die je-Einzelnen zu verwandeln. Das Auffallende ist, daß dieses einsichtige Schuldbekenntnis, das sich im Schlagen an die Brust äußert, als Klage nicht über sich selbst, sondern über ihn, den Durchbohrten, geschildert wird. Das ist das Ende und Ziel der ganzen Konfrontation: der Mensch, der sich anklagen und verurteilen muß für das, was er getan hat, klagt zuletzt nicht über sich selbst, sondern über den, dem er das alles – bis zur Durchbohrung – angetan hat. «Über den Durchbohrten werden sie eine Totenklage halten, so wie man sie über einen einzigen Sohn hält, man wird bitter über ihn weinen, wie man einen Erstgeborenen bitter beweint» (Sach 12,10). Die immer tiefere Einsicht in das Angestellte, das immer schmerzlichere Realisieren des wirksamen Widerhalls meiner Sünde in Gott selbst wird das Wirken des Feuers in mir sein, daß man das fegende oder läuternde nennt und dessen Aktion nichts anderes ist als der Vollzug des Gerichtes selbst.
Aber steht dieser Auffassung das Wort Pauli nicht entgegen, daß «die Heiligen die Welt richten werden», «sogar die Engel»? (1 Kor 6,2f.). Diese (vom Alten Bund her kommende) Vorstellung zeigt einen andern Aspekt des Gerichts, der aber erst aktuell werden kann, wenn jeder Einzelne, auch der erwähnte Heilige, durch seinen Blick auf den Durchbohrten so geläutert ist, daß sein Blick auf die Welt und die Engel sich dem des Menschensohns angeglichen hat. Alles, was auch nur einen Funken von Wohlgefallen, von Schadenfreude an der Verurteilung anderer verraten könnte, muß völlig ausgetilgt sein; Affekte, die im Alten Testament da und dort noch offensichtlich existieren. Dieser andere Aspekt des Gerichts ist als Ergänzung des ersten notwendig, weil die menschlichen Schicksale so ineinander verzahnt sind, daß sie eine zusammenhängende Geschichte bilden: wie das Böse fortzeugend Böses gebiert, so das Gute Gutes. Und vielleicht ist dieser abschließende Überblick über die Verzahnung der Geschicke weniger ein Gericht (so wird es in Fortwirkung der alttestamentlichen Vorstellung des «Tages des Herrn» und seiner öffentlichen Gerichtshandlung genannt) als eine Eröffnung des Blickes und Standpunktes Gottes angesichts der totalen Weltgeschichte, wobei «die Heiligen», die immer schon in dieser Sicht Gottes standen, nunmehr auch in ihrer Anschauung der Dinge gerechtfertigt werden. Erhellend kann hier Pauli Wort sein: «Der aus dem (Heiligen) Geist Lebende vermag alles zu beurteilen, während niemand über ihn ein Urteil abgeben kann» (1 Kor 2,15).
Das Gericht als Selbstgericht
Das Gesagte öffnet uns unmittelbar den Zugang zu der andern Eigentümlichkeit neutestamentlicher Gerichtsauffassung, die besonders bei Johannes hervortritt. Die Bilder, die Jesus bei den Synoptikern braucht und die auch sonst nachklingen, vom Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels mit seinen Engeln kommt, um zu richten, von den Engeln, die am Jüngsten Tag zwischen den guten und schlechten Fischen, zwischen dem Weizen und dem gleichzeitig aufgeschossenen Unkraut scheiden, von dem, der mit der Wurfschaufel Korn und Spreu sondert, von dem Hirten, der Schafe und Böcke trennt, sind den Hörern vertraute alttestamentliche Bilder, in denen natürlicherweise Gott als der souverän Handelnde erscheint.
Aber demgegenüber stehen nun bei Johannes die klaren Aussagen Jesu, daß er nicht gekommen sei, die Welt zu richten, sondern sie zu retten (Joh 12,47). «Ich richte niemanden» (8, 15) … «denn Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, nicht um sie zu richten, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde» (3, 17). Hinter diese Aussage geht der johanneische Christus nicht zurück. Dennoch gibt es für ihn ein Gericht, ja er selbst hat es vollständig in der Hand, der Vater hat es ihm übergeben (5, 20). Die Lösung liegt in Jesu Erklärung: «Wer mich verachtet und mein Wort nicht annimmt, der hat seinen Richter: das Wort, das ich verkündet habe, das wird ihn am Jüngsten Tag richten, denn ich habe nicht aus mir selbst geredet» (12, 48). Er selbst ist dieses Wort, das er durch sein ganzes Dasein spricht, und dieses sein Wort ist Licht und Leben der Menschen. «Das Gericht aber ist dieses: das Licht ist in die Welt gekommen, aber die Menschen hatten die Finsternis lieber als das Licht … Jeder, der das Böse tut, haßt das Licht und kommt nicht ans Licht, damit er nicht seiner Taten überführt werde. Wer aber nach der Wahrheit handelt, kommt zum Licht, auf daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott getan» (3, 19-21). Hier liegt die höchste Dramatik (fast möchte man von Tragik sprechen) des erlösenden Wirkens Gottes: indem er auf das Gericht verzichtet und nur das Zeichen seiner Liebe in der Welt aufrichtet, fördert er die Verschließung der Finsternis in sich selbst. «Wäre ich nicht gekommen und hätte zu ihnen geredet, so wären sie ohne Sünde. So aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde» (15, 22). Und in diesem Sinn: «Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehend und die Sehenden blind werden.» Darauf die Pharisäer: «Sind auch wir etwa blind?» Jesus: «Wärt ihr blind, so wärt ihr ohne Sünde. Nun sagt ihr aber: Wir sehen. Also bleibt eure Sünde» (9, 39f.). Der Richter braucht nichts zu tun, nur zu sein. Sein Wort (gleichsam die Ausstrahlung seines Wesens) tut alles für ihn. Es ist voller Leben und Kraft und schneidender als ein doppelschneidiges Schwert, durchdringend bis zum Zerhauen von Seele und Geist, Gelenk und Mark und richtend (kritikós) über die Gesinnungen und Gedanken des Herzens; nichts Geschaffenes ist vor seinen Augen verborgen, alles liegt nackt und entkleidet vor den Augen dessen, «dem wir Rechenschaft schulden» (Hebr 4,12f.).
Gott in Jesus richtet nicht, wohl aber richtet der Mensch sich selbst, wenn er das in Jesus erschienene reine Heil ausschlägt und nicht durch sein Licht sehend wird, sondern durch das eigene Licht zu sehen und urteilen zu können vorgibt. Ein solches Selbstgericht war, was sich zeigte, schon dem Alten Bund nicht unbekannt: die weltimmanente Gerechtigkeit sorgte dafür, daß in der bösen Tat ihre eigene Strafe schon lag: «Wo der Täter meinte, die Tat in seiner Macht zu haben, dort nimmt die Tat den Täter in ihren Machtbereich auf»4. Paulus in Kürze: «Was der Mensch sät, das wird er ernten» (Gal 6,7). Auch das Weisheitsbuch schildert ausführlich die Haltung der Bösen auf Erden und ihr Endgericht als ein bloßes Überführtwerden dessen, was sie getan haben und gewesen sind (Wh 2-3). Ferner gibt es schon bei den Synoptikern eine ähnliche Verlegung des Gerichts in das irdische Verhalten des Menschen wie bei Johannes: An der heutigen Einstellung eines jeden zu Jesus entscheidet sich im voraus sein jenseitiges Los (Mk 8,38 par). Schon jetzt, mitten in der Zeit, können endgültige Entscheidungen fallen, und niemand hat das Recht, sich auf eine allen gebotene letzte Chance im Tod, im Übergang in die Ewigkeit, zu verlassen, die ihm Gelegenheit einer Revision all seiner Lebensentscheidungen bieten wird. Das ist die dramatische Folge der Menschwerdung, durch die Gottes ewige Maat und Sädäq mitten in der Geschichte als eine Gestalt auftritt, der man begegnen, ja nicht einmal ausweichen kann.
Über Endgültigkeit menschlicher Entscheidung
«Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen» (Hebr 10,31), der «ein verzehrendes Feuer ist» (Dt 4,24 = Hebr 12,29). Wer kann ihn sehen und am Leben bleiben? Wer ihn als den von ihm Durchbohrten sehen, und sich selbst nicht verurteilen?
In Romanen könnte man ungezählte Stellen sammeln, in denen ein Mensch sich angesichts der Reinheit und Unschuld eines andern selber verurteilen muß. Ein einziges, ganz zufälliges Zeugnis sei angeführt. Ein als hochherzig geschilderter junger Mann bekennt einem Freund sein Verhältnis zu seiner Verlobten: «Sie ist so sanft, so zerbrechlich und zugleich so entrückt, daß es einen in Distanz hält. Ich schäme mich so, daß ich auf sie nicht so lauter zugehen kann, wie sie auf mich. Warum sollte das töricht sein? Wenn man jemanden so liebt, wie ich Luise, dann ist es gräßlich zu denken, daß man in fremden Armen gelegen und einen gekauften und geschminkten Mund geküßt hat. Ich hätte ihr wenigstens einen saubern, anständigen Leib bringen müssen.»5 Angesichts dessen, was ein Mensch dem Durchbohrten entgegenzubringen hat, kann er sich selber nur schlechthin verurteilen. Auf welche «Werke» könnte er als auf genügende, kompensierende verweisen?
Im Alten Bund und in allen umliegenden Kulturen gab es den Begriff der «unsühnbaren Schuld»6 gegenüber der weltimmanenten Ordnung und Gerechtigkeit, auf welche Schuld nur durch die Vertilgung des Verbrechers, durch die Kapitalstrafe reagiert werden konnte. Die restlose Kapitulation, die angesichts des Durchbohrten einzig noch möglich ist, läßt die paulinische Lehre vom Unzureichen der Werke, von der möglichen Rechtfertigung allein durch den sich ausliefernden Glauben auch dem letzten Skeptiker einleuchtend werden: «Blickst du auf die Sünden, Herr Gott, wer sollte bestehen? … Meine Seele hofft auf den Herrn mehr als der Wächter auf den Morgen» (Ps 130,3.6). Denn was wären meine Werke angesichts des ungeheuren Mankos in meiner Bilanz, der Unterlassungen, die ich gering eingeschätzt habe und die plötzlich viel schwerer wiegen als alles «Getane»: «Ihr habt mir nicht zu essen gegeben, nicht zu trinken gegeben, habt mich nicht beherbergt, nicht bekleidet, nicht besucht» (Mt 25,42f.). Die Abfälle vom Tisch des Reichen: niemand hat sie dem armen Lazarus gereicht (Lk 16,24).
Jeder, der auf die absolute Norm zu blicken hat, auf den durchbohrten Menschensohn, der in Wahrheit in allen Brüdern verborgen anwest, auf das «seit Ursprung der Welt erwählte» «erwürgte Lamm ohne Fehl und Makel» (1 Petr 1,20; Apk 13,8), wird so überwältigt sein von der Hoheit des Einen und der verächtlichen Niedrigkeit seiner selbst, daß er keinerlei Zeit hat, auf die Situation anderer Menschen zu reflektieren. Der bloße Anblick dieser Norm sagt ihm, daß er in keiner Weise entspricht und standhält, und endgültig unter der Schwelle des Erforderten zurückbleibt. Jeder kann sich für sich vorweg in diese Situation versetzen; mit andern Worten: die Erwägung eines möglichen ewigen Verlorengehens kann und darf nur eine je-meinige Betrachtung sein. So wird sie am Schluß der ersten Woche der ignatianischen Exerzitien angestellt: nicht als eine öffentliche Volkspredigt, sondern als die letzte Konsequenz meiner persönlichen, angesichts des Gekreuzigten durchgeführten Erwägung meiner Sünde (Exerz. Nr. 53 u. 61). Ich selber erkenne mich als der unfruchtbare Baum, der dem Herrn keine Frucht gab, als ihn hungerte, und deshalb den Fluch des endgültigen Verdorrens erhält.
Freilich, die Exerzitien gehen weiter; derselbe, der sich am Ende seiner Sündenbetrachtung selber verurteilen mußte, wird am nächsten Tag dem in die Nachfolge rufenden Herrn begegnen. Damit, daß keiner der Norm, vor die er gestellt wird, standhält, kann nicht alles gesagt sein. Denn wenn er auf den Durchbohrten schaut und dabei versteht, daß er, der Schuldige, ihn durchbohrt hat, dann sieht er auch, daß seine Schuld in jene Wunde aufgenommen und in ihr gesühnt ist. Er, der Sünder, ist im Lamm abgebildet, als das, was er für Gott ist – oder werden sollte. Und erst angesichts dieser für seinen Hochmut niederschmetternden Schau entscheidet sich das Letzte. Entweder stürzt er sich freiwillig und dankbar in die Flammen Gottes, die ihn zu dem läutern sollen, was er werden möchte, aber noch nicht ist, gleichgültig, wie weh es tun und wie lange es dauern wird – oder er haßt dieses verklärte Bild seiner selbst in Gott, er will nicht «sich selbst entfremdet» in Gott, sondern bei sich selber er selber sein, und dann kann die Flamme Gottes ihn erfassen, in einer Zeitlosigkeit, die ebenso dauert wie sein Wille, sich zu bewahren und nicht zu kapitulieren.
Daß das möglich ist, wird uns vielfach von der Schrift, von Jesus selbst bezeugt. Es ist möglich, dem Geist der Liebe Gottes ins Angesicht zu widerstehen, und dann ist es selbstverständlich, daß einem so Widerstehenden «weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden» kann (Mt 12,32). Es ist auch möglich, daß ein solches Nein sich als ein Leben bestimmend erst enthüllt, wenn der Mensch vor die ewige Norm gestellt wird (Mt 25,42ff.). Brauchen wir uns diese Möglichkeit vorzustellen, gar auszumalen? Sicher nur für uns selbst; allgemeine neutrale Theorien über die Hölle sollten weder in Theologie noch in Pastoral entworfen werden. Ebensowenig aber dürfen allgemeine Theorien verbreitet werden, daß wegen der Güte Gottes eine Hölle, in der jemand sich befindet, nicht existieren kann. Wir würden damit der Souveränität unseres Richters, der allein über unser Heil und Unheil befindet, zu nahe treten.
Das Letzte, was zu sagen ist, bleibt paradox: wahre Hoffnung und wahre Furcht Gottes wachsen miteinander. Warum? Weil gesteigerte Hoffnung, vermehrtes Vertrauen auf einen Richter, der ja unser Erlöser ist, unsere Kenntnis von ihm vertieft, und vertiefte Erkenntnis auch gesteigerte Verantwortung schafft. «Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert; wem viel anvertraut ist, von dem wird um so mehr verlangt» (Lk 12,48). Das ist nochmals das unheimlich Dramatische an der Offenbarung der Liebe Gottes in Jesus Christus: je mehr er sich als der Liebende, Hingegebene offenbart, um so verletzlicher wird er, um so mehr kann er verachtet und verleugnet werden. Den eigentlichen Judas gibt es nur, weil es den einzigen Menschensohn gibt. Und eigentlichen Atheismus gibt es nur, weil die Liebe des erhabenen Gottes sich bis zur Verächtlichkeit und Unwürdigkeit erniedrigt hat: «Keine Gestalt, keine Schönheit mehr, kein Anblick, an dem man sich erfreuen könnte, verachtet, von den Menschen gemieden …» (Jes 53,2f.). Dem Je-mehr angebotener Liebe entspricht ein Je-mehr an Verachtung und geballter Finsternis. So muß das Kreuz, das alles trägt, am letzten Rand der Hölle aufgepflanzt sein.
- Nachweise bei Hans Heinrich Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung. Tübingen 1968.↩
- In Mesopotamien ist Schamasch «der große Richter des Himmels und der Erde», im alten ägyptischen Reich ist der Sonnengott Re der Richter, zunächst des Pharao, im mittleren Reich dann auch der Großen des Reiches, ja der einfachen Leute.↩
- Vgl. J. Nelis, Art. Gericht. In: Bibellexik. (hrsg. Haag, 21968), 561: «Erst in der rabbinischen Literatur des 2. Jahrhunderts nach Christus wird ein besonderes Gericht erwähnt.»↩
- «Herrlichkeit» III/2, 1. Teil (1967), S. 152; vgl. K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament? In: «Zeitschr. f. Theol. und Kirche» 52 (1955), S. 1-42.↩
- Somerset Maugham, The narrow corner. 1977, S. 143. Das Beispiel ist angesichts der Sprache Alten und Neuen Bundes (Unzucht als Treulosigkeit gegen Gott) nicht unangebracht.↩
- V. Maag, Unsühnbare Schuld. In: «Kairos» 2 (1966), S. 90-106.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Gericht
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo