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Geheimnis Tod
Allem weltlich Seienden senkt der Mensch seine prüfende Sonde ein, um seine Tiefe zu eichen, und er mag es tun, aber eine in den Tod gesenkte Sonde hat dessen Grund nie erlotet. Der Tod bleibt das Geheimnis, das seine Insel der Endlichkeit umringt, ebenso unbetretbar wie die Herkunft seines Person- und Freiseins, das seinem ganzen Dasein eingebrannte Mal der Herrschaft Gottes über ihn. Ein gestrenges und zugleich barmherziges Geheimnis, das ihm wie sein erstes Woher so sein letztes Wohin entzieht, die beide ineins nichts anderes sein können als eine Unmittelbarkeit zum Ur-Geheimnis, zu Gott selbst. Man kann das Geheimnis Tod mit tausend angeblich erhellenden Namen zu deuten versuchen: Versinken ins Nichts, Reinkarnation, Auflösung des Leibes bei Unsterblichkeit der Seele, Rückkehr des aus dem Zentral-Feuer gesprungenen Seelenfünkleins in den ursprünglichen Herd, vielleicht nach Durchwanderung etlicher anderer Welten, oder Durchgang durch ein läuterndes Feuer, aber die endgültige Lösung wird nicht preisgegeben, weil als letzte Haltung die Selbstüberlassung in das Geheimnis verlangt wird. Auch nicht jener Selbstbetrug, bei dem der Mensch über seinen Tod zu verfügen sich anmaßt, der Freitod, sondern ausdrücklich ein Sich-nehmen-Lassen, wie kurz oder langwierig, leicht oder qualvoll der Weg dazuhin uns darin sich gestalten mag.
Man kann, wie viele es tun, diesen Schlußakt aus dem Lebensdrama durch Nichtbeachtung oder durch Tabuisierung auszuklammern versuchen und den ganzen durch Sinn erleuchteten Daseinsbezirk auf die Lebensjahre einschränken, in welchen etwas für die Gemeinschaft, für die dritte Welt, die Weltwirtschaft, die Wissenschaft Nutzvolles oder etwas meinen Nachruhm unter den Kommenden Erhaltendes geleistet werden kann. Vielleicht auch bloß etwas mein Glücksbedürfnis Befriedigendes wie ein bis zum Rande erfülltes Liebesverhältnis mit einem andern Menschen. Das monumentum aere perennius – darin liegt die aller Leistung innewohnende Tragik und verborgene Ironie – ist ein der Vergänglichkeit eingeschriebenes Pseudo-Endgültiges; aber was bleibt dem vom Geheimnis Tod umringten Menschen anderes übrig, als mit diesem Widerspruch im Mark seiner Existenz vorliebzunehmen?
Und noch haben wir nicht erkannt, wie grimmig sich dieser Widerspruch durch jeden unserer Tage und Augenblicke behauptet. Denn Zweierlei ist dem Menschen gesetzt: einmal sich für ein ihm aufgetragenes Werk einzusetzen – man denke hier an die Parabel von den Talenten, von denen erwartet wird, daß sie durch Einsatz verdoppelt werden, oder an das andere Gleichnis von den zwei Söhnen, die aufs Feld geschickt werden, deren einer sich weigert und dann dem Geheiß entspricht, während der andere bloß ja sagt, aber nichts tut. Leistung ist Auftrag, und zwar Auftrag in einem der Existenz selbst eingeschriebenen Wort des Existenzgebers. Einsatz bis zur Erschöpfung der Kräfte, nicht als nebenher betriebene Liebhaberei, Einsatz, der sich bewußt bleibt, trotz allem nie endgültig zu genügen: «Wenn ihr alles Aufgetragene getan habt, sagt: wir sind unnütze Knechte.» Aber genau dieser Einsatz, ganz abgesehen davon, mit wieviel Selbstlosigkeit oder im Gegenteil Ehrgeiz das Lebenswerk (groß oder klein) geleistet wird, enthält in sich ein Moment von Selbstpreisgabe. Ob ein Kanalreiniger am Werk ist oder eine Kindergärtnerin oder ein großer Künstler, der an etwas ganz Einmaligem arbeitet, das Werk gelingt nur, wenn er sich selber «hineinlegt», die Beliebigkeit seines Wählenkönnens aufgibt, genau dort seine Kräfte verliert, wo er sie für seine Leistung einsetzt. Sieht man, wie sehr das Moment Tod vorweg im Lebendigsten des Lebens am Wirken ist? Und daß der als «Bruder des Todes» seit alters bezeichnete Schlaf ihn nur ganz äußerlich abbildet, während er in Wahrheit vielmehr der Bruder des Lebens ist, das sich aus dem Tod des Leistens zurückgewinnen muß? Eben dieses dem Leistungsauftrag des Lebens immanente Prinzip des (vielleicht fast unbewußten) Sich-Aufgebens mußte durchgestanden werden ohne die lebensgefährdenden Evasionen nach links und nach rechts. Ein Wort über diese ist unerläßlich.
Man kann das «Leben in der Einheit von Leben und Tod» (Ferdinand Ulrich) nach zwei Seiten hin verpassen. Einmal, indem man den Tod an die letzte Grenze des Lebens verweist und im faustisch genossenen «Augenblick» die «Ewigkeit» sucht; nicht nur und vor allem erotisch, sondern im «Tatendrang» des Zweiten Faust, der symbolisch unser technisch-soziologisch «leistendes» Jahrhundert vorwegnimmt, einschließlich der pseudo-antiken Ruhmsucht unserer Gelehrtenwelt, die sich gegenseitig in hektischen Buchproduktionen überbietet. Die Rüstungsspirale ist dieser Seite des Zeitalters kräftigstes Symbol: mit höchstem Lebenseinsatz den Tod zu bereiten.
Die Gegenseite ist nicht weniger insidiös; man glaube nicht, daß der alte Weisheitsspruch, Philosophie sei nichts als lebenslängliche Einübung in den Tod, der Vergangenheit angehöre. Überall dort, wo die Distanznahme zum irdischen Leisten sich durchsetzt – extrem in den östlichen Lehren, alles Endlich-Begrenzte sei Schein und Trug, Maya und Illusion, wozu auch das eigene Ich gehöre, das als Sein- und Habenwollen verstanden wird, etwas gemäßigter im Stoizismus, der die vier Grundleidenschaften Unlust, Lust, Furcht und Begehren aus der Seele ausgerottet wissen will, damit der Mensch in apatheia (Apathie!) seinen innern Frieden genieße, schließlich im Platonismus, der bis in die Aufklärung und den Idealismus nachwirkt und für den der Tod nichts weiter ist als das beglückende Loswerden des belastenden Leibes, damit die unsterbliche Seele sich endlich frei bewegen kann – überall da wird der echte Einsatz des Lebens aufgrund einer falschen «Gelassenheit» versäumt.
Wo also das Modell für die Einheit des vollen (Lebens-)Einsatzes mit der vollen (Todes-)Distanz finden? Doch wohl allein in der christlichen Sphäre. Christus: bewußt auf seine «Stunde» hinlebend, setzt alle Kräfte ein für seine messianische Aufgabe: die Heimführung der «verlorenen Schafe Israels», wissend aber, daß gerade sein Tod (in der dunkelsten Verlassenheit) das irdisch unvollendbare Werk zur Vollendung führen wird. Pauli übermäßiger Einsatz für seine Gemeinden (impendam et superimpendar 2 Kor 12,15) ist immerfort innerlich durchwirkt vom Todesmoment (semper enim nos qui vivimus in mortem tradimur ebd. 4,11), die gleiche Gesetzlichkeit bestimmt das Dasein aller wahren Nachfolger Christi. Sie ist deren Grundregel: «Daran erkennen wir die Liebe, daß er (Jesus) sein Leben für uns dahingab; so müssen auch wir das Leben für die Brüder dahingeben» (1 Joh 3,16).
Angesichts dieser Regel, die mit Hingabe nicht das Lebensende, sondern die Lebensmitte meint, wird es zweitrangig, ob unsere Lebenshingabe mehr einem für die Brüder sinnvollen Werk (zum Beispiel einem Lehrbuch für Schulen) oder mehr einem direkten Einsatz für die gleichen Brüder (die Haushalts- und Erziehungsarbeit einer Mutter, die eines Lehrers, Arztes, Juristen, Priesters oder gewöhnlichen Erdarbeiters) gilt: wenn wir bloß die Arbeit des Todes in all unserem Leisten nicht zu unserem Selbstruhm, sondern – womöglich in Christi Gesinnung – für die Brüder sich auswirken lassen. Hiervon hängt dann ab, ob der physische Tod uns einst als ein Fremder und Feind überrascht oder als der aus dem täglichen Selbstverzicht längst vertraute, zuletzt sein Antlitz enthüllende Freund. Und vielleicht darf man sagen, daß sein abschließender Ernstfall seinen Segen schon rückwirkend auf unser Leben vorausgeschickt hat, weil doch immer schon wahr war: «Wenn das Weizenkorn nicht stirbt, bleibt es allein, stirbt es aber, trägt es reiche Frucht» (Joh 12,24). Im wahrhaft selbstlosen Einsatz liegt die rechte Bereitung zum Tod (quotidie morior 1 Kor 15,31), dessen gefürchtete Mühsal uns von den uns immer noch anhängenden Schlacken von Selbstsucht unerbittlich befreien wird, da er uns in Genommenwerden einweist, zu unserem Heil. Darin ist er Gottes bester Werkmann.
In dem großartigen Streitgespräch des Ackermanns, dem seine liebe Frau entrissen wurde, und dem Tod, spricht Gott zuletzt das Urteil: «Der Kläger klagt wegen des Verlustes, als ob es sich um sein Erbe handle; er bedenkt nicht, daß es ihm von Uns verliehen wurde. Der Tod rühmt sich seiner Herrschaft, die er aber allein von Uns zu Lehen empfangen hat. Jedoch ihr habt beide gut gefochten. Jenen zwingt das Leid zu klagen, diesen der Angriff des Klägers, die Wahrheit zu sagen. Darum: Kläger, habe Ehre, Tod, habe Sieg, da jeder Mensch verpflichtet ist, das Leben dem Tod, die Seele Uns zu geben.»1
- Johannes von Tepl, Der Ackermann und der Tod. Ins Neuhochdeutsche übertragen von Willy Krogmann, mit einem Nachwort von Reinhold Schneider. Wiesbaden 80. Tausend 1957.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Geheimnis Tod
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo