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Die Jugendlichkeit Jesu
Die Weisheit aller Völker schreibt den verschiedenen Lebensaltern des Menschen verschiedene Tugenden zu, entsprechend seiner jeweiligen leib-seelischen Beschaffenheit. Der junge Mensch ist voll Spannkraft und erwartet Großes vom Leben, der Erwachsene leistet sein Werk, der Alternde, dessen Kräfte schwinden, hat den Abstand gewonnen, der Übersicht und religiöse Weisheit erlaubt. Buddha stirbt mit achtzig Jahren, Sokrates mit etwa siebzig, Platon mit ungefähr vierundsiebzig. Dichter können jung sterben, denn die Erfassung der Wirklichkeit im Bild und die Prägekraft des Symbols zeichnen die Jugend aus (wer dichtet nicht in ihren Jahren). Nun ist es aber bezeichnend, daß Augustin in einer Predigt an Taufanwärter diesen die Tugenden aller Lebensalter zugleich wünscht: «Euer Säuglingsalter sei die Unschuld, euer Kindesalter die Ehrfurcht, die Pubertät Geduld, das Jungmannsalter Tucht (virtus), das Altern Verdienst, das Greisentum nichts anderes als gereifte, weise Einsicht. Durch diese Lebensalter hindurch entwickelst du dich nicht, sondern bleibst du, dich stetsfort erneuernd, der gleiche. Während die Lebensstufen sich abfolgen, bleiben sie in der christlichen Seele gleichzeitig und einhellig bestehen.»1 Noch deutlicher werden die Extreme – Kind und Greis – zusammengebunden: «Nicht so wollen wir vorankommen, daß wir aus Neuen Alte werden, die Neuheit selber soll wachsen.»2 Wenn der Psalm verlangt: «Lobt den Herrn, ihr Knaben, von nun an bis in Ewigkeit», «dann sagt nicht: ‹Wir beginnen den Herrn zu loben, weil wir Knaben sind, wenn wir einmal groß sind, dann werden wir uns selber loben!› Nicht so, ihr Knaben. Euer Greisentum soll knabenhaft sein, eure Jugend wie die eines Greises; ich meine: eure Weisheit sei ohne Hochmut, eure Demut aber nicht ohne Weisheit, dann könnt ihr den Herrn ‹von nun an bis in Ewigkeit› loben.»3 Woher kommt dieses Spiel mit den Lebensaltern im christlichen Bereich?
Jesus von Nazaret starb in dem Alter, das die Römer als juventus bezeichnen. Warum so früh? Für die Griechen wäre die Antwort der Neid oder auch die Liebe der Götter gewesen (Ganymed), das spätjüdische Weisheitsbuch gibt die schöne und doch ungenügende Antwort: «Das wahre Silberhaar besteht nicht in alten Tagen, sondern in Weisheit; die wahre Reife ist ein fleckenloses Leben. Er wurde hinweggerafft, damit nicht Bosheit seine Einsicht trübe, denn die Faszination der Nichtigkeit verfremdet das Gute» (Wh 4,9ff.). Aber Gott der Vater brauchte bei seinem Sohn diese Sorge nicht zu haben; er hatte ihn endgültig und ohne Bedenken der Welt ausgeliefert.
Doch wenn sich in Jesus, in seinen Worten wie in seinem Verhalten, eine Weisheit offenbart, die über alles durch Lebensreife Erreichbare hinausliegt, ja alles Wachsen und Vergehen überdauert – «Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen» (Mk 13,31) –, so gipfelt doch diese Weisheit in dem Schrei, der aller menschlichen Reife Hohn spricht: «Mein Gott, warum hast du mich verlassen!» (Mk 15,34), und riskiert, all seine weisen Worte und Taten als Illusion zu entlarven (A. Schweitzer). War es jugendliche Phantasie, die ihm eine weltumfassende Sendung vorgaukelte und in der zerreißenden Tortur der Kreuzigung von oben bis unten zerriß? Oder war das grauenhafte Ende die notwendige, sicher vorausgeahnte Krönung seiner jugendlichen Weisheit? Die alten Weisen – ein Laotse, ein Sokrates – rücken milde und nachsichtig ab von den Illusionen der irdischen Welt, hier aber wird einer in das blutige Dorngestrüpp der Leiblichkeit hineingestoßen, darin umzukommen. Er kennt nicht die «Faszination des Nichtigen», eben deshalb muß er dessen ganze Abgründigkeit erfahren. Nicht von außen, wie die Weisen, sondern von innen. «Denn das Törichte von seiten Gottes ist weiser als die Menschen, Gott hat es erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen» (1 Kor 1,25.27). So ist die Frage, ob nicht schon das ganze jugendliche Leben Jesu innerlich ein Gang auf dieses von ihm selbst irgendwie vorgewußte oder vorgeahnte Ende – einer totalen Ein-Fleischung – war. Resignation und Distanzierung vom Irdischen ist nicht schwer; das Alter empfiehlt es auf seine milde Art als Einübung auf den Tod. Aber das Irdische, so wie es ist, umarmen bis zur Annagelung daran, bis zur innern Erfahrung seiner Entfremdung vom Schöpfer: das ist eine andere Weisheit.
In Jesu Auftreten und Künden offenbart sich eine Jugendlichkeit, die das Selbstbewußtsein der Reife und den Weisheitsanspruch des Alters in sich einbirgt. «Feuer kam ich auf die Erde zu werfen»: das kann nur ein Junger sagen. Das Feuer ist er selbst: «Wer mir naht, naht dem Feuer», sagt ein apokryphes Jesuswort. Nicht irgendein Feuer, sondern das zentrale. Daher der ungeheuerliche Anspruch, der nicht duldet, daß seiner Person etwas vorgezogen wird. Wer etwas, und sei es Vater, Mutter, Sohn, Tochter, sich selbst «mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert» (Mt 10,37f.). Wie sollten seine Hörer nicht entsetzt fragen: «Zu wem machst du dich?» (Joh 8,53). Kein Weiser hat Menschen an sich selber gebunden; er zeigt nur einen Weg, der mit ihm nicht identisch ist. Die Weisheit des Täufers besteht im dauernden Wegzeigen von sich selbst. Aber dieser Jüngling zeigt mit Beharrlichkeit auf sich als Weg, Wahrheit, Leben, Licht, Wasserquell aus dem ewigen Leben und zurück in dasselbe, ja – fast wahnsinnigerweise – als Leben in und trotz der Evidenz des Todes (Joh 8,52; 11,26). Und wenn man den johanneischen Worten nicht trauen wollte: das Gehaben und die Taten, sogar die Worte des synoptischen Jesus sagen grundsätzlich dasselbe. Das Reich Gottes, das er verkündet, ist unweigerlich mit seiner Person verbunden; wie einer sich zu ihm einstellt, so wird er in Ewigkeit zu liegen kommen.
Er – und doch nicht er. Auf die Frage: «Was machst du aus dir selbst?» lautet die Antwort: «Wenn ich mich selbst ehre, ist meine Ehre nichtig. Mein Vater ist es, der mich ehrt, den ihr euren Gott nennt und doch nicht kennt» (Joh 8,54). Was er ist, das ist er durch seinen Vater. Er ist und bleibt dessen Kind. Ein Kind, das nicht entwachsen kann, weil es je-jetzt, immer, ewig am Gezeugt- und Geborenwerden ist. Er ist seit immer («ehe Abraham ward, bin ich» Joh 8,58), aber sein Sein ist ein ewiges Eben-jetzt-Werden. (Das Wort «bin» stammt aus einer Wurzel, die ebensosehr Werden wie Sein besagen kann: lat. fio, griech. phyō, altind. bhū: werden.) Das menschliche Kind löst sich von den Eltern, um zu wachsen, zu fruchten, zu altern. Aber das göttliche Kind ist die immer – auch in der Entsendung in die Welt – entspringende Frucht der väterlichen Zeugung. Hier gibt es keine Gewöhnung, nur immerwährendes Staunen, ewige Dankbarkeit und ewigen Gehorsam. Denn der Zeugungsakt des Vaters ist grundlose Liebe, deshalb nicht auszuloten oder zu hinterfragen. Gehorsam des Sohnes ist die Weise, wie er an der göttlichen Weisheit und Allwissenheit teilnimmt. Und die Finsternis des Kreuzes ist nichts als der Gang in den Grund dieses Gehorsams hinein, wobei der Sohn die Entfremdung der Welt in seinen reinen Gehorsam hineinnimmt.
Deshalb kann Jesus das Kind in die Mitte der Jünger stellen: «Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie dieses Kind, wird nicht hineinkommen» (Mk 10,15; Lk 18,17): in derselben unreflektierten, vertrauenden Offenheit und Exponiertheit, die nur im Himmel durch den Gott schauenden Engel geschützt (Mt 18,10), auf Erden der Verführung ausgesetzt ist (ebd. 6). Es wird gefordert, daß man aus der falschen Erwachsenheit «umkehrt» und «wie die Kinder» wird, um in das Reich des Vaters, der im Sohn ist, eingehen zu können (ebd. 3).
Wäre Jesus «aus dem Blute, aus dem Willen des Fleisches, aus dem Willen des Mannes» geboren (Joh 1,13), so könnte er diese Exponiertheit des Glaubens, Liebens, Sich-Anvertrauens nicht zum bleibenden Vorbild der Existenz in seiner Nachfolge erheben; aber weil er die ewige Begeisterung des aus dem Vater Geborenwerdens hat, kann er diese seine Jugendlichkeit im Verschenken seines Geistes denen weitergeben, die von seiner Daseinsweise leben wollen.
Jesu Jugendlichkeit hindert nicht seine Männlichkeit. Das Geheimnis seines Ursprungs ist das der Freigabe als eines bleibenden Aktes. Gott Vater läßt Gott Sohn Gott sein, nicht untergeordneter, sondern gleichrangiger Gott. Und beide lassen den Heiligen Geist den gleichrangigen Ausdruck ihrer Liebe sein. Das Zeugen und Sich-zeugen-Lassen, Aushauchen und Sich-hauchen-Lassen ist ewiger Akt und ewig vollkommenes Ergebnis, das nie vom Akt Abstand nehmen kann. Darum ist Gottes Ewigkeit ewig jung und überraschend, ein Abgrund von Neuheit. Alle Begriffe, die dem zu nahen versuchen, sind endlich und geschlossen und insofern «alt», sie können nur, wie die alttestamentlichen Weissagungen des Messias, auf etwas verweisen, das mehr ist als sie. Haben diese Weissagungen nicht schon alles gesagt, was konnte Jesus noch Neues bringen? «Alle Neuheit hat er gebracht, indem er sich selber brachte» (Irenaus, Adv. Haer. IV 34,1).
Das Unbegreifliche ist, daß Jesus diese seine Jugendlichkeit seiner Kirche, seinen lebendigen Gläubigen weiterzugeben vermocht hat. Durch seine restlose Hingabe an die Menschheit hat er den Ort seines Entspringens aus dem Vater freigelegt für unser Geborenwerden aus Gott (Joh 3,4ff.). Wir können mit einer vollkommenen Kindlichkeit beginnen; quasi modo geniti infantes (1 Petr 2,2), was diese «Kinder» nicht hindert, «an Urteilskraft reife Menschen» zu sein (1 Kor 14,20). Die Er-wachsenheit des Christen ist sein Bleiben im Hervorwachsen aus Gott. Die Reife des Märtyrers Ignatius ist, daß er nicht aufhört, die «innen in ihm lebendige, murmelnde Quelle» zu hören, «die sagt: Hin zum Vater!» (Röm 7,2).
Es gibt keine «alten» Heiligen; sie sind alle bis ins Greisentum jugendlich. Petri erste Rede ließ ihn der Trunkenheit verdächtig werden, Pauli Rede vor Festus der Verrücktheit (Apg 26,24). Wie juvenil wirken Augustins Confessionen verglichen mit Plotin, oder Anselms Gebete oder Bonaventuras Aufschwünge; ist nicht noch das Suscipe des klugen Inigo von Loyola überschwenglich? Das haben die Heiligen von der Kirche, deren Glieder sie sind, denn ihr «ist die Gabe Gottes anvertraut worden, damit alle Glieder daran teilnehmen und davon verlebendigt werden konnten; in ihr ist die Kommunion mit Christus, nämlich der Heilige Geist hinterlegt worden. Von der Kirche haben wir den Glauben erhalten und hüten ihn sorgfältig, denn immerfort wird er vom Heiligen Geist wie ein in einem kostbaren Gefäß Hinterlegtes verjugendlicht und läßt auch das Gefäß, das ihn enthält, verjugendlichen» (Irenaus, Adv. Haer. III 24,1). Von der Märtyrin Blandina heißt es: «Wie ein edler Kämpfer verjugendlichte sie sich (anenéazen) im Bekenntnis» (Euseb, Kirchengesch. V 1,19).
Zwei französische Dichter haben die Jugendlichkeit des Christentums bestens begriffen, Péguy und Bernanos. Für den ersten ist das «Altern» (le vieillissement) in einem geistig-sittlichen Sinn der Zerfall der christlichen Spannkraft, die Verleugnung der «kleinen Hoffnung», die ihre «altern Schwestern» Glaube und Liebe voranzieht. «Altern» ist das Stigma der Erbsünde, die Fallbewegung der Existenz; der christliche Sinn ist die erhebende Gegenkraft. Für den zweiten «gibt es den reifen Menschen gar nicht, denn es gibt keinen neutralen Zustand zwischen Jugend und Alter. Wer nicht mehr zu schenken vermag, als er empfängt, der beginnt bereits in Fäulnis überzugehen. Sogar ein stumpfer Betrachter begreift, daß ein Geizkragen schon mit zwanzig Jahren ein Greis ist.»4 «Das Evangelium ist ewig jung, bloß ihr seid so alt», ruft er den Christen zu, «eure Alten sind sogar noch greisenhafter als andere Alte.»5
Die Jugendlichkeit Jesu und derer, die ihm ernstlich zu folgen versuchen, ist ein Mysterium, das die Psychologie weit übersteigt. Denn sie stammt aus den verborgensten Gründen der Theologie, aus dem Geheimnis der göttlichen Trinität. Immerfort entsteigt das ewige Kind aus dem ewig zeugenden und entlassenden väterlichen Schoß. Der Logos und seine Logik sind Frucht der unauslotbaren, grundlosen Liebe jenseits von Notwendigkeit und Freiheit. Löst man den Sohn vom Vater, so verfällt man dem ausdörrenden Rationalismus. Aber der Sohn löst sich nie von seiner Herkunft. «Ich weiß, daß die Weisung des Vaters das ewige Leben ist; was immer ich sage, ich sage es so, wie der Vater es mir zugesprochen hat» (Joh 12,50). Dieser Sohnesgehorsam ist das Fundament aller Logik.
Man versteht nun, warum Jesus von Nazaret als juvenis gestorben ist.

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Die Jugendlichkeit Jesu
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo