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Das Selbstbewußtsein Jesu
Ein fürchtenswertes Problem. Denn einerseits müssen wir uns stets die wiederholte Warnung Guardinis vor Augen halten, eine Psychologie Jesu gebe es nicht, könne es gar nicht geben, wenn er wirklich das war, wofür der Glaube ihn hält. Psychologie hat es mit allgemeinen seelischen Gesetzen zu tun, nicht mit dem wesenhaft Einmaligen. Wir werden uns auch den Ausspruch des Anglikaners E. S. Mascall zu Herzen nehmen: «Es wäre ebenso lächerlich wie ehrfurchtslos, sich zu fragen, wie einem (Menschen) zumute sein mag, wenn er menschgewordener Gott ist.» Anderseits ist es eine aus theologischen Gründen unumgängliche Frage, ob etwa die großen johanneischen Selbstaussagen Jesu: «dazu bin ich gekommen … dazu bin ich gesendet … ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen», mythologisierende Interpretamente sind für eine Wirklichkeit, die, wenn sie überhaupt irgendwo existierte, jedenfalls keinen Platz in Jesu Bewußtsein besaß. Und wenn er, nachdem er lange genug gewirkt und gesprochen hatte, an seine Jünger die scharfe Frage stellt: «Für wen haltet ihr mich?», dann setzt dies voraus, daß er selber weiß, wer er ist, und daß auch andere es ahnend wissen und stammelnd aussagen können. Falls er aber wirklich als ein unwiederholbar Einmaliger von Gott her gekommen ist, dann versteht sich, daß Petrus dies nicht durch psychologische Überlegungen eingesehen haben kann («nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart»), sondern durch ein Licht aus derselben Region, aus der Jesu Person stammt und in der sie zuhause ist («sondern mein Vater, der im Himmel ist» Mt 16,17). Der Exeget N. A. Dahl drückt das für seine eigene Wissenschaft programmatisch so aus: «Was eigentlich geschah in dem, was hier geschehen ist: daß Gott seine Liebe zu uns gezeigt hat dadurch, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren, davon kann der Historiker als Historiker nichts sagen … Daß dieser Mensch der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort ist, läßt sich durch die Jesusforschung weder beweisen noch widerlegen.»1 Auch der Exeget (Fachmann oder nicht) braucht, um die wahre, die objektive Antwort auf Jesu Frage zu geben, das gleiche Licht, das Petrus erhalten hat.
Die Formel des Credo (nach Joh 1,14): «Fleisch (d. h. Mensch) geworden», schließt die Frage der Präexistenz Jesu ein; wir klammern sie hier als besondere aus2. Übrig bleibt dann die Frage nach seinem Bewußtsein einmaliger Zugehörigkeit zu Gott, im Gegensatz zu jeder Art Gottverbundenheit der Geschöpfe: «Ihr (alle) stammt von unten, ich (allein) stamme von oben» (Joh 8,23). Läßt sich das «geworden» in diesem Sinn halten, oder werden damit die Fakten überzogen? Das soll die Frage unseres ersten Abschnittes sein. Das «Fleisch geworden» kann vertretend für das stehen, was man (vielleicht allzurasch) als «späte Christologien»3 bezeichnet hat, vorwiegend Deszendenzchristologien: enthalten sie die rechte Deutung des im vorösterlichen Geschehen zumindest angelegten, begonnenen Ereignis? In einem zweiten Abschnitt soll die Fragestellung auf das Bewußtsein Jesu eingeengt werden: in welchem Maß und in welcher Art hat sich in diesem Bewußtsein widergespiegelt, was nachösterlich von seiner einzigartigen Bedeutung und Wirkung ausgesagt worden ist?
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Die einigermaßen sicheren Ergebnisse der Exegese, unsere erste Frage betreffend, sind die, daß Jesus vermutlich alle Hoheitstitel (gerade auch den des Messias) für seine Person abgelehnt hat – sie waren für seine Zeit alle mißverständlich –‚ daß aber durch sein ganzes Sprechen, Handeln und Verhalten hindurch eine «implizite Christologie» sich kundgetan haben muß, die die notwendige Voraussetzung für alle späteren Konzeptualisierungen und Verbalisierungen gewesen ist. Sehr plausibel ist die These Jacques Guillets (in seinem Werk «Jesus vor seinem Leben und Tod»4), daß Jesus erst in seinen Jüngern einen gelebten Glauben an die Einmaligkeit seiner Person erwecken mußte, ehe er sinnvollerweise Selbstaussagen über sich machen konnte (etwa auch über seinen bevorstehenden Tod). Ebenso plausibel ist die Aussage, daß in der «impliziten Christologie», wie Jesus sie darlebte, mehr und Stärkeres vorhanden gewesen sein muß, als was alle explizite nachösterliche und kirchengeschichtliche Christologie ins Wort bringen kann (Marxsen), was schlicht heißt, daß das, was sich durch die Worte der Schrift und die Glaubensformeln der Kirche ausdrückt, die gemeinte Wirklichkeit nie zu erschöpfen vermag. Man wird aber diesen Satz nicht dahin auslegen dürfen, daß alle nachösterlichen Verbalisierungsversuche gleich ohnmächtig angesichts der geheimnisvollen «Persönlichkeit» Jesu verharren, daß sie Ansätze sind, die einander nicht nur ablösen, sondern auch weitgehend gegenseitig ausschließen, und daß das Beste an ihnen bleibt, daß sie auf verschiedene Art einen Eindruck von der allen Kategorien entgleitenden Erscheinung Jesu vermitteln5. Einerseits und einseitige nachösterliche Formeln sehr bald in befriedigendere Synthesen aufgenommen worden, anderseits sind Worte, die Jesus vielleicht nicht ausdrücklich verwendet hat, ihm mit Recht (als genaue Explizierung seines Redens und Seins) in den Mund gelegt worden: völlig sicher ist, daß er sein persönliches und einmaliges Gottverhältnis durch das intime «Abba» ausgedrückt hat, deshalb war er eindeutig «der Sohn», ob er sich ausdrücklich so genannt haben mag oder nicht.
Dies läßt sich präzisieren. Es ist ohne Zweifel historische Tatsache, daß Jesus Jünger angeworben, sie in eine ganz persönliche Nachfolge seines Lebens eingewiesen und damit sein eigenes Sein bewußt als Modell dafür aufgestellt hat, wie man in das rechte Verhältnis zu Gott gelangt. Objektive Weisung und subjektives Vorbild sind in den Evangeliumsberichten so eng verflochten, daß sie in keiner noch so früh angesetzten oder erschlossenen Überlieferungsschicht getrennt werden können. Wäre die Synthese zwischen Lehre und Person erst nachösterlich geschaffen worden, so hätte sie entweder nach dem Modell eines hellenistischen Weisen (wie Sokrates, der dann auch für seine Lehre stirbt) oder eines alttestamentlichen Propheten (deren mehrere Blutzeugen wurden) ausfallen müssen: beide weisen auf den Weg der Wahrheit, mit dem sie selber in keiner Weise identisch sein wollen («so spricht der Herr!», sagen die Propheten); das Modell für einen, der sich als der Herr der Wahrheit benimmt («Ich aber sage euch») existiert in der Menschheitsgeschichte nicht. W. Grundmann sagt deshalb mit Recht: Es ist «schlechthin ausgeschlossen, einen Prozeß einsichtig zu machen, durch den aus einer Geschichte Jesu ohne eigene Heilsbedeutung seiner Person eine Verkündigung entstanden sein soll, die seine Heilsbedeutung zum einzigen Inhalt hat»6.
Gilt das, dann ist für das Selbstbewußtsein Jesu das Wesentliche bereits gewonnen: Falls er selber, was nicht zu bezweifeln ist, die Synthese zwischen seiner Heilslehre – der nahegekommenen Königsherrschaft Gottes – und seiner Person gemacht hat, dann wird die heiß umstrittene Frage, ob er seinem eigenen Tod die Heilsbedeutung hat zuschreiben können, die ihm die gesamte nachösterliche Theologie zuspricht, sekundär7. Er ist in jedem Fall der Ganz-Andere, der nicht nur aus der Geschichte der Menschheit, sondern auch aus der besonderen Geschichte Israels herausfällt, trotz der vielfachen Versuche des modernen Judentums, ihn für sich zu vereinnahmen. Sehr kennzeichnend in dieser Hinsicht ist, daß man das ungeheuer Drängende seiner Verkündigung immer wieder mit der zeitgenössischen Apokalyptik und ihrer Naherwartung der Endzeit und eines Umbruchs der Äonen in Zusammenhang zu bringen versucht hat (seit Joh. Weiß und Albert Schweitzer) und man nun steigend einsieht, daß die Unterschiede größer sind als die Ähnlichkeiten. Es ist, als habe Jesu seine ganz persönliche Naherwartung der Reichsankunft gehabt und sie – nochmals – mit seiner Person und deren Schicksal identifiziert. Will man nicht sagen, daß er sich gründlich getäuscht hat, so muß man annehmen, daß er das Bewußtsein hatte, in seinem eigenen, unvergleichbaren Weg bis ans Ende der Geschichte in ganzen zu gelangen, bis dorthin, wo die Entscheidung über den Gesamtsinn des Weltgeschehens gefallen ist.
Das Beispiel vom apokalyptischen Zeithintergrund und dem, was Jesus darüber gedacht hat, steht in einem größeren Zusammenhang. Wenn das von J. Guillet aufgestellte Prinzip gelten soll, dann ist es unmöglich, daß die ersten Christen aus einem Nichts an Begrifflichkeit und Worten ein Ausdruckssystem für das Phänomen Jesus erfinden konnten, es muß so etwas wie ein vielfaches Geflecht von Vorverständnissen vorgelegen haben, auch wenn das Heilsereignis Jesu das Niveau dieser Vorverständnisse noch einmal inkommensurabel überstieg. Man pflegt in diesem Zusammenhang vor allem auf die spätjüdische quasi-personalen Potenzen der «Weisheit», des «Wortes», der «Schekinah» hinzuweisen, die, ohne den Monotheismus zu sprengen, eine gewisse Unterlage für die christliche Lehre der trinitarischen Hypostasen bot. Aber mit ebensoviel Recht kann man auf das (von Ezechiel 37 hergeleitete) Vorverständnis für eine «Auferstehung von den Toten» hinweisen. Der Begriff steht klar, wenn auch umstritten, im zeitgenössischen Raum; wenn Jesus ihn für sich verwendet, können sich die Jünger an etwas erinnern, das freilich mit dem, was sie erwartet, in keiner Weise identisch ist, was sie deshalb niemals verstehen (Lk 18,34), sogar nach der Auferstehung nicht zu glauben vermögen (Mk 16,21.23). Beide Verstehenshorizonte begegnen einander in der Szene zwischen Jesus und Marta: «‹Dein Bruder wird auferstehen.› ‹Ich weiß, daß er auferstehen wird bei der Auferstehung am jüngsten Tag.› ‹Ich bin die Auferstehung und das Leben›» (Joh 11,23-25). Für die Zeitgenossen ist Auferstehung mit Weltende verbunden, eine Auferstehung mitten in der Geschichte (die für Jesus zu Ende ist) übersteigt ihren Verständnishorizont und fordert reinen Glauben.
Etwas Analoges ist zu sagen über das Auftreten einer Vorstellung von quasi-personalen widergöttlichen Mächten (Satan, Beelzebub, Beliar, Dämonen, «unreine Geister») in spätjüdischer Zeit. Jesus selbst bestätigt die Praxis von Exorzismen im jüdischen Raum (Mt 12,27). Für die Begegnung Jesu, ausgestattet mit der unbeschränkten Fülle des Heiligen Geistes (Joh 3,34) und des widergöttlichen Geistes in seiner Gesamtheit hätte die altisraelische Vorstellung eines Anklageengels (bei Ijob und Sacharja) oder eines «von Gott gesandten bösen Geistes» (auf Saul) nicht genügt. Mit der Theorie eines Importes aus Iran wird man vorsichtig sein; Israel übernimmt Anregungen fremder Religionen stets nur soweit, als sie zur Klärung eigener Vertiefungsversuche dienlich sind, und vertieft wird in dieser Zeit das Bewußtsein einer abgründigen Sündigkeit vor Gott; der Dualismus ist nicht von außen importiert. Und doch überbietet die Konfrontation Jesu mit dem Versucher und die aus seinem Leben berichteten Szenen bei weitem alles bisher Vorhandene, und von hier aus wird verständlich, was in der Urkirche und seit ihr durch die Kirchenzeit an Vorstellungen des Widergöttlichen sich durchgehalten hat. Ein Blick auf die Weltgeschichte genügt, um zu verstehen, weshalb in der Apokalypse die «Mächte» in der Gestalt von die Menschheit faszinierenden Tieren erst nach der Geburt des Messias (Kp 12) ihr Wesen auf Erden zu treiben anfangen. Eine weitere Analogie bietet die – zumal seit den Makkabäerkriegen – nachweisbare Meinung, das Leiden und der gewaltsame Tod eines Gerechten enthielten eine sühnende Wirkung. Man kann auch an die Gegenwart eines Gedankens der Stellvertretung schon in früherer Zeit denken (etwa an das sühnende Beten und Fasten Moses’ für das sündige Volk vor dem Angesicht Gottes). Weit verbreitet war der Gedanke einer Sühnewirkung des Todes des Gerechten sicher nicht; anderseits hat der für den Tod Jesu von der neutestamentlichen Theologie in Anspruch genommene Erlösungswert solche Ausmaße, daß die qualitative Differenz sogleich evident ist, und nur ein schwacher Anknüpfungspunkt dafür festgestellt werden kann.
Diese drei, vier Beispiele dafür, daß eine vorbereitende Analogie bestehen muß, damit die entscheidende Transzendenz Jesu überhaupt wahrgenommen werden kann, sind, vielleicht im Gegensatz zu dem, was manche Forscher möchten, Bestärkungen für unsere These von der Einzigartigkeit des Wirkens und damit auch des Selbstbewußtseins Jesu.
2
Aber, so lautet ein heute vielfach vernommener Einwand, ist es denn wirklich notwendig, daß Jesus von alldem ausdrücklich Kenntnis gehabt hat, was ihm von der späteren Christologie zugeschrieben worden ist? Und vorab von der Notwendigkeit seines Leidens, dessen Ankündigungen bei den Synoptikern erst in einer vorgerückten Phase auftreten, wobei nochmals zu fragen ist, ob Jesus, da er einmal die Unausweichlichkeit seines gewaltsamen Todes aus den Zeitumständen ersehen hat, diesen Tod als ein Heilsereignis nicht nur für Israel, sondern für die Welt im ganzen verstanden haben muß? Warum steht das Wort vom «lytron», vom Lösegeld, als das Jesus sein Leben für alle dahingeben wird (Mk 10,45; Mt 20,28; bei Lk fehlt es), so vereinzelt da? Soll man darin ein Interpretament für das sehen, was Jesus zwar getan, aber nicht gesagt hat, weil es ihm nie daran lag, eine Theorie über sein Wirken zu äußern?8 Soll man mit Bultmann weitergehen und behaupten, wir könnten überhaupt nicht wissen, welchen Sinn Jesus seinem Tod zugeschrieben hat?9 Soll man sich, wenn man nicht soweit gehen will, mit der heute beliebten Formel begnügen, Jesus habe ein ganz für seine Mitmenschen bereites Leben geführt – die Reichsverkündigung sei zentral diejenige der Mitmenschlichkeit –‚ so daß sich von selber ergäbe, daß er sich für seine Lehre und Tat bis zum Tod eingesetzt habe, somit am Kreuz den höchsten Beweis seines «Für-uns-Seins» geliefert habe? Aber wer sieht nicht die Zweideutigkeit dieser letzten Formel – einer rein humanistischen Bedeutung – unter dem Deckmantel einer orthodoxen?
Hinter dieser an der Deutung des Kreuzes sich entzündenden Frage steht eine radikalere: Wofür hat sich Jesus überhaupt gehalten? Vielleicht anfänglich doch nur für einen besonders erleuchteten und von Gott beglaubigten Propheten (oder, wie Hans Küng sagt: «Sachwalter Gottes»), den letzten und abschließenden Propheten etwa, bis ihn die immer näherrückende Unausweichlichkeit seines Leidens und Sterbens – vielleicht – seine Sendung neu überdenken und auslegen ließ, und sich nochmals die Frage erhob (für ihn selbst?, oder erst für die Urkirche?), ob dieser Tod einen besondern Heilssinn haben sollte? Das letztere anzunehmen, erscheint manchen als ein bloßes Postulat10. Dann hätte, falls man die ausgebildete paulinische und johanneische Christologie für verbindlich hält, Jesus zumindest nicht gewußt, was er mit seinem Leiden und Sterben «angestellt» hat, dann hätte nämlich – und darauf läuft die Lehre Bultmanns hinaus – Gott dieses Leiden und Sterben zum Anlaß genommen, um sein Versöhntsein mit der Welt kundzutun.
Anton Vögtle vor allem hat in immer neuen Ansätzen zu zeigen versucht, daß Jesus in der ersten Periode seines Wirkens, da er Israel das Nahen des Reiches Gottes verkündete und seine ganze Kraft auf dessen Bekehrung und Sammlung konzentrierte, noch nicht mit einem für die Ausführung seiner Sendung erheblichen (Heils-)Tod rechnen konnte. Denn es erscheint als psychologisch widersinnig – wir stehen hier wieder bei der Psychologie, vor der Guardini gewarnt hat – in Jesu Bewußtsein gleichsam einen doppelten Horizont anzunehmen, den Vögtle wie folgt beschreibt: «Ich bemühe mich aus ganzer Kraft und Dringlichkeit darum, euch, den Söhnen des Reiches, den von mir verkündeten Heils- und Heiligkeitswillen Gottes zu erschließen. Aber ich weiß ja selbst, daß dieses Bemühen nicht nur keinen Erfolg hat, sondern rein objektiv auch gar nicht genügt … Denn in Gottes Heilsplan ist eine weitere, und zwar entscheidende Bedingung für eure Heilserlangung vorgesehen, nämlich mein stellvertretendes Sühnesterben, dessen entsündigende und heiligende Kraft ihr euch aneignen müßt, und das zugleich die Voraussetzung für einen völlig neuen Ansatz der Heilsverkündigung begründet, nämlich unter Einbeziehung der Heidenvölker.»11 In dieser (bewußt karikierenden) Überlegung wird, wenn wir zunächst auf der gleichen psychologischen Ebene argumentieren wollen, vergessen, daß Jesus seinen Auftrag als Abschluß der Propheten-Aufträge versteht, da er wie die Propheten wird in Jerusalem umgebracht werden müssen, und daß die größten unter diesen mit ihrem Bekehrungsauftrag an Israel gleichzeitig die Zusicherung erhielten, sie würden vergeblich wirken, tauben Ohren und verstockten Herzen predigen (Jes 6; Jer 1; Ez 23), so daß sie, wie Elija, allein übrigbleiben. Und wie mancher Christ hat eine Aufgabe übernehmen müssen, von der er wußte, daß sie zuletzt unbewältigbar blieb. Jesus aber, der in Gottes gesamten Heilsplan eintrat, um ihn zu vollenden, konnte unmöglich anders beginnen als mit dem Versuch einer Wiederherstellung jenes Bundesvolkes, das von jeher die Mitte für das Heilsangebot an alle Völker bildete, und schließlich war es ja doch aus dem «Rest Israels» (Röm 11,5), aus dem er den Grundstock für seine Weltkirche schuf.
Eine ganze andere Frage, die nun das Feld der Psychologie übersteigt, ist die, ob Jesus von seinem künftigen Weg mehr zu wissen brauchte, als daß er durch einen absoluten Gehorsam an den Vater mit dem Auftrag fertig werden mußte und konnte, durch sich die Welt mit Gott zu versöhnen (2 Kor 5,18), und daß dazu in der Entscheidungsstunde, deren Inhalt dem Vater vorbehalten blieb, die vollkommene Hingabe an den göttlichen Willen genügen würde. Mit dem Wort «Gehorsam» treffen wir ohne Zweifel die innerste Disposition Jesu, und es kann dem vollkommenen Gehorsam wichtiger und zuträglicher sein, Zukünftiges nicht vorweg wissen zu wollen, um es, wenn es kommt, in vollkommener Frische aus der Hand Gottes entgegenzunehmen. So kann es richtig sein zu sagen, daß Jesus, um besser gehorchen zu können, vieles von dem, was er wissen konnte, beim Vater «hinterlegte»12, bis es spruchreif und zum geforderten Thema wurde. Das kann nun aber gerade nicht heißen, daß Jesus in der ersten Periode seines Wirkens nichts von der «Stunde» gewußt hat, sondern nur, daß er ihr nicht vorgreifen wollte; ersichtlich ist ja von Anfang an das gleiche Selbstbewußtsein, das er später bekundet, und der gleiche Mut, mit dem er Ansprüche erhebt, die ihm normalerweise den Kopf kosten mußten. Die Bergpredigt bei Matthäus, die Synagogenpredigt bei Lukas sind von Anfang an so provokativ, daß Markus (3,6) recht haben wird, den Todesbeschluß der Volksführer in die Anfänge zu verlegen.
Ist dem so, dann wird die Vermutung vollends lächerlich, Jesus habe sich zunächst als ein reiner Mensch gefühlt und sei erst gegen Ende seines Lebens (zu Recht oder zu Unrecht) auf den Gedanken gekommen, er sei in einer von den übrigen Menschen abgehobenen Weise der Gesendete, der Sohn Gottes. Nichts in den Evangelien läßt einen solchen Sprung in seinem Bewußtsein vermuten, der ihn schließlich nur als einen geistig Schwerkranken enthüllt hätte. Hätte Jesus nicht als Kind schon um seine wahre Identität gewußt, «dann hätten sich bei ihm auch schon bei den ersten bewußtwerdenden Sinneseindrücken ein rein menschliches Ichbewußtsein … zu entwickeln begonnen, in dem er sich zwangsläufig, wie jeder von uns, für einen ‹autonom› existierenden Menschen gehalten hätte. Solche rein menschliche Selbsterfahrung hätte ihn also irregeführt und der Tatsache seiner Einheit mit dem Vater widersprochen. In dem Augenblick aber, da sein Seelenleben seiner göttlichen Personalität innegeworden wäre, hätte das nicht nur eine Aufwärtsentwicklung, sondern einen Bruch in seinem Bewußtsein bedeutet.»13 Über eine solche Hypothese länger zu reden, lohnt sich nicht.
Aber abschließend muß nun doch die Frage gestellt werden, was in des irdischen Jesus Bewußtsein gestanden haben muß. Vielleicht können wir es in die einzige Formel kleiden14, daß Jesus sich identisch wußte mit einer den Heilsratschluß des dreieinigen Gottes abrundenden Sendung: die Schuld der Welt hinwegzutragen (Joh 1,29), die Welt mit Gott zu versöhnen. Kein anderer Mensch weiß sich mit seiner übernatürlichen Sendung identisch, die immer eine partielle bleibt und ihm immer erst im Lauf seines natürlichen Daseins kund wird. Aber sein menschliches Ich (mit allen seinen menschlichen. Fakultäten) als identisch wissen mit einem im vollen Sinn göttlichen Auftrag: dies wäre eine Auslegung der christologischen Formel des Aquinaten, daß die Sendung (missio) des Sohnes nur die in die Welt hinein erfolgte Verlängerung seines ewigen Ausgangs (processio) aus dem Vater ist. Die immer wiederholten «Sendungsformeln» der Evangelien – schon der Synoptiker, nicht erst des Johannes – deuten darauf, daß wir damit dem Mysterium des Selbstbewußtseins Jesu am nächsten kommen.
Um den Modus dieses Selbstbewußtseins besser zu erfassen, ist es unumgänglich, die Stellung des Heiligen Geistes in der Lebenszeit Jesu zu erwägen. Er ist es, der aktiv die Menschwerdung wirkt (Lk 1,35) – der Sohn läßt sich durch ihn Mensch werden –‚ er ist es, der ihn «treibt» (Mk 1,12), im Geist wirkt er die Wunder des Vaters (Mt 12,28), aus ihm werden zur gegebenen Stunde die Ströme des Geistes fließen (Joh 7,38f.), dieser bleibt eifrig, auch wenn das Fleisch schwach ist (Mt 26,4), ihn haucht er am Kreuz zum Vater zurück und an Ostern in die Kirche ein. Der Geist ist in Jesus, aber zugleich, als der Künder des Willens des Vaters, als die Regel, der er gehorcht, über ihm. Der Geist ist auch in dieser «ökonomischen» Gestalt der Trinität, wo alles auf den Gehorsam des Sohnes ankommt, das Einigende zwischen Vater und Sohn, die je-jetzt lebendige Vermittlung der Sendung vom Vater an den Sohn. Der Geist aber ist so lebendig und vielfältig, daß er diese Sendung in vielen Weisen erscheinen lassen kann: als so durchsichtig zum Vater, daß der Sohn in ihr den sendenden Vater «sieht», aber auch, wenn es im Leiden notwendig wird, als einen so harten Auftrag, daß hinter dem eisernen Müssen (das griechische heilsgeschichtliche «dei») das väterliche Antlitz wie entschwindet. Das unmittelbare Verhältnis zwischen Vater und Sohn nimmt den Aspekt der Abwesenheit an, der eine ebenso intensive Form der Kommunikation sein kann wie die Anwesenheit. Es wäre also falsch, sich das Verhältnis Jesu zum Vater im Geist als etwas Uniformes (etwa eine immerwährende «visio beatifica» in den sogenannten «oberen Seelenteilen») vorzustellen. Unverbrüchlich jedoch ist sein Wissen, die Sendung des Vaters nicht nur zu haben, sondern sie zu sein.
Die Verlassenheitserfahrungen im Leiden aber kommen daher, daß Jesus in dem, was die Väter «admirabile commercium» nannten (Proklus von Konstantinopel sagt: «der Schaudern einflößende Tauschhandel»), die Sünde der Welt zu erfahren und durchzuleiden bekommt. Dieser Aspekt gehört nicht mehr zentral zu unserem Thema, aber am Rande wohl. Die Aussagen Pauli, daß Jesus «zur Sünde» und «zum Fluch» gemacht worden ist, stimmen überein mit dem Verlassenheitsschrei am Kreuz und der Bitte am Ölberg durch den maßlos Überforderten. Kein Begriffsschema – weder «Verdienst» noch «Genugtuung» noch «Opfer» noch «Loskauf» – reicht hin, um das Mysterium dieses «Tausches», das ja seine Kehrseite und Ergänzung in der Eucharistie hat, auszuschöpfen15. Noch viel weniger aber geht es an, dieses Geheimnis dadurch zu verharmlosen, daß man erklärt, Jesus habe durch sein Kreuz nur seine «Solidarität» mit den Leidenden, zumal den zu Unrecht Verfolgten usw. manifestieren wollen. Gewiß ist Solidarität ein Aspekt des Kreuzesmysteriums, aber wo das Wort als letzte und einzige Auskunft auftaucht, ist für den glaubenden Christen höchstes Mißtrauen am Platz16.
Abschließend: Im Bewußtsein seiner Sendung liegt für Jesus mehr als das des Erhaltenhabens eines bestimmten göttlichen Auftrags; es liegt darin, daß er mit diesem Auftrag in seinem innersten Ich identisch ist. Dies ist die Quelle des wahren Begriffs der Person, der in der Christologie ein primär theologischer (und nicht für jedermann zuhandener philosophischer) Begriff ist. Weil Jesus mit seiner Sendung, in der seine göttliche Sohnschaft liegt, identisch ist, ist er die Urperson. Und am Personsein hat jedes menschliche Geistsubjekt (nur) insofern teil, als es in seiner Begnadung in Christus Anteil bekommt an einem Aspekt und Fragment seiner allerlösenden Sendung. In Gnade liegt immer auch Sendung, und diese wird, wie die Gnade, vom erhöhten Haupt des Leibes, der Kirche17, an alle Glieder, die wir sind, verteilt.
- Der historische Jesus als geschichtswissenschaftliches und theologisches Problem. In: «Kerygma und Dogma» (1955), S. 122f.↩
- Vgl. diese Zeitschrift 1/77 S. 1-45. Zweifellos schreibt Johannes Jesus ein Bewußtsein seiner Präexistenz zu: «Ehe Abraham war, bin ich» (8,58). Aber man beachte, daß Jesus an dieser Stelle (die für die übrigen stehen kann) «bin ich» und nicht «war ich» sagt, denn Ewigkeit ist nicht zeitlich vor (prae) der Zeit, sondern ihr zeitlos überlegen. Es genügt demnach auch johanneisch, ihm ein Bewußtsein solcher (freilich schlechthinnigen) Zeitüberlegenheit zuzusprechen.↩
- Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Freiburg i. Br. 1977, S. 276. Aber die paulinische Theologie ist ja nicht «spät», sondern als die erste auf dem Plan. M. Hengel hat in einem denkwürdigen Artikel («Christologie und neutestamentliche Chronologie». In: Neues Testament und Geschichte, Festschrift für O. Cullmann. Zürich/Tübingen 1972, S. 43-67) gezeigt, wie wenig Raum für die Entfaltung der Christologie der Urgemeinde gegeben ist; nach seiner Meinung hat sich in den wenigen ersten Jahren christologisch mehr ereignet als in den langen Jahrhunderten bis zur voll ausgebildeten Lehre der Konzilien (bis Nikaia II).↩
- Deutsch im Johannesverlag Einsiedeln 1973, S. 7ff., 20ff. «Die Worte der Offenbarung müssen vom Menschen gefunden und nicht von Christus diktiert werden, denn wir müssen sicher sein, daß es nicht um ein auswendig gelerntes Lehrstück geht, wir müssen begreifen, daß der Mensch angesichts Jesu ein richtiges, die Wahrheit ausdrückendes Urteil fällen kann. Und doch müssen anderseits diese Worte, von Menschen gefunden und in ihrer Sprache formuliert, das bedeuten, was Jesus allein aussagen kann, weil nur er weiß, wer er ist» (17). Aber konnte Jesus nicht, wie manche annehmen, sich selbst von dem auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohn unterschieden haben? (vgl. Mk 8,38; Lk 12,8). Hierzu sagt A. Strobel treffend: «Es ist ganz abwegig, ja phantastisch anzunehmen, der Verkünder eines anderen sei im theologischen Denken der ältesten Jüngergemeinde dieser selbst geworden». In: Kerygma und Apokalyptik. Göttingen 1967, S. 149.↩
- Auf dieser Linie (neben vielen andern) Eduard Schweizers «Jesus Christus» (Siebenstern-Taschenbuch 126, 1968) und Hans Küngs «Christ sein». 1974.↩
- In: «Theologische Literatur-Zeitung» 84 (1959), S. 104.↩
- Heinz Schürmann warnt uns vor dem, was viele Exegeten heute versuchen: die älteste Christologie aus der Redequelle (Q) zu erschließen, in der die «Lebenshingabe» Jesu «für die Vielen» noch nicht bezeugt ist, sondern nur die Analogie des Schicksals Jesu zum Prophetengeschick. Aber Q enthält nichts anderes als eine Sammlung von Jesus-Logien, keine Passionsgeschichte, kein Osterkerygma, keine Credoformel jener Gemeinden, die diese Logien gesammelt haben. «Jesu ureigener Tod». Freiburg i. Br. 1975, S. 52-53.↩
- «Le mot … dit objectivement ce que vit Jésus … Jésus n’a jamais fait la théorie sur lui-même.» X. Léon-Dufour, La mort rédemptrice du Christ selon le N. T. In: Mort pour nos péchés. (Publication des Facultés universitaires St. Louis, Bruxelles 1976), S. 36-37.↩
- Exegetica (1967), S. 452f.↩
- «Es wäre ein bloßes Postulat zu behaupten, bereits Jesus habe seinen möglichen oder gewissen Tod mit Sühne- und Opfergedanken in Verbindung bringen und ihn als einen Heilstod betrachten müssen.» H. Keßler, Die theologische Bedeutung des Todes Jesu. Düsseldorf 1970, S. 234.↩
- Exegetische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewußtsein Christi. In: Gott und Welt, Festschrift für K. Rahner, Bd. I, Freiburg i. Br. 1964, S. 626.↩
- K. Rahner empfiehlt uns, «darüber nachzudenken, ob in bestimmten Umständen eine bestimmte Art von Nichtwissen nicht das Vollkommenere sein kann.» Exegese und Dogmatik (im gleichnamigen Werk hrsg. von H. Vorgrimler. Mainz 1962), S. 40.↩
- R. Haubst, Über das Seelenleben des Kindes Jesus. In: «Geist und Leben» 33 (1960), S. 411.↩
- Die nähere Durchführung des hier kurz Angedeuteten findet man im dritten Band meiner «Theodramatik» («Die Personen in Christus»). Einsiedeln 1978.↩
- Das hat Thomas von Aquin deutlich gesehen: S. Th. III q 48.↩
- Wir können J. Moingt in seinen Ausführungen «La Révélation du salut dans la mort du Christ» (cf. Anm. 8, S. 117–165) weitgehend folgen, auch dort, wo er vom Wissen Jesu um den Sinn seines Kreuzesleidens handelt (155). Doch scheint es uns nicht zu genügen, wenn er folgert: «Grâce à sa solidarité avec nous, nous devenons tous solidaires de sa foi. Ce qui était auparavant radicalement impossible à nos propres forces, devient possible grâce à la foi du Christ, par la grâce de sa foi». Hier fehlt eindeutig das Moment des stellvertretenden Tragens der Sünde, auch wenn man damit keine Theorie über den Zorn Gottes oder über ein «Strafen» des Sohnes verbindet.↩
- Die hier nicht auf die sichtbar organisierte Kirche eingeschränkt zu werden braucht.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Das Selbstbewußtsein Jesu
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo