menu
«Erhaben über alle Mächte»
Gott «setzte Christus zu seiner Rechten in der Himmelswelt, erhaben über alle Herrschaften und Mächte, Kräfte und Hoheiten, … alles hat er seinen Füßen unterworfen und ihn zum Haupt über alles der Kirche gegeben» (Eph 1,20-22). Was sind diese «Mächte», von denen Paulus, aber auch Petrus und die Apokalypse oft sprechen?1 Pauli Vorstellungen stammen vorab aus der «zwischentestamentlichen» apokryphen Literatur, und die christlich beeinflußten Gnostiker haben sie ebenfalls übernommen. Den Begriff als «zeitbedingt», «mythologisch» und damit als überholt abzutun, geht aber nicht an; der beste Beweis dafür ist, wie aktuell er heute in vielfacher Weise ist. Was er neutestamentlich bedeutet, kann nur umschrieben, nicht exakt definiert werden, diese «Mächte und Gewalten» sind übrigens für uns genauso geheimnisumwoben wie für Paulus. Sie sind jene Natur- und Geisteskräfte, die das Dasein des Einzelmenschen wie der Gesellschaft, beide überragend, mitbestimmen, die ursprünglich zur von Gott geschaffenen Welt gehören, aber dann durch ihre (wie immer entstandene) Entfremdung von Gott stärkstens affiziert sind. Daß sie zur (guten) Schöpfung gehören, wird ausdrücklich gesagt: In Christus «wurde alles im Himmel und auf Erden geschaffen, Sichtbares und Unsichtbares, seien es Throne oder Hoheiten oder Gewalten oder Mächte: alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen» (Kol 1,16f.) Deshalb kann er, wie das erste Zitat zeigte, zu Recht auch über alle diese Wesenheiten erhoben werden. Aus der Schrift ist nicht feststellbar, ob ein primärer Abfall der Mächte von Gott («Engelsfall») die Sünde auch in die Menschenwelt eingeführt hat, oder ob vielmehr die Entfremdung des Menschen von Gott die Schöpfungsmächte «dämonisiert» hat; beim zweiten denkt man an die nachträgliche, zwangsweise Unterwerfung der Schöpfung unter die «Eitelkeit», von der befreit zu werden sie sich als ganze sehnt (Röm 8,20). Daß die Macht- und Verständnisbereiche dieser Weltkräfte auf das Naturhaft-Geschöpfliche eingeschränkt bleiben, zeigt eine Aussage wie die, daß «keiner der Weltherrscher» die «geheimnisvolle verborgene Weisheit Gottes erkannt habe, sonst würden sie den Herrn der Herrlichkeit nicht ans Kreuz geschlagen haben» (1 Kor 2,7f.).
Was sind diese Mächte? Wenn wir so fragen, können wir jeweils auch mit ihrem heutigen Machtanspruch antworten. Im Kolosserbrief wird von «Weltelementen» gesprochen, denen scheue Verehrung gezollt wird, es werden vor allem die Gestirne gewesen sein, die damals wie heute (in den «Horoskopen») das Geschichts- und Menschenleben beherrschen. Anderswo sind sie die «Staats»-Mächte mit den sie beherrschenden und von ihnen gepflegten Ideologien, wobei der Staat (etwa Röm 13) durchaus zu den gottgewollten Mächten zählt, aber (in der Apokalypse vor allem) in dämonische Bahnen abgelenkt werden kann. Sie sind alles, was die Menschen – ob sie an Gott glauben oder nicht – «vergöttern», dem sie bleibende oder modisch wechselnde Einflüsse über das Weltgeschehen zuschreiben. Paulus redet von «vielen angeblichen Göttern» (1 Kor 8,6), er redet auch von «Herrschaften, Gewalten, Beherrschern dieser finsteren Welt,… die die Lüfte durchwohnen» (Eph 6,12), was H. Schlier sehr richtig auf das «Atmosphärische» der Mächte auslegt: «Es ist, wenn wir die Aussage formalisieren, die allgemeine geistige Luft, die auf die Menschen Einfluß hat. Es ist die geistige Atmosphäre, die sie einatmen, von der sie ihr Denken und Wollen und Handeln bestimmen lassen. Dieser Geist ist kein freischwebender Geist. Er wird durch die Menschen in ihre Institutionen aufgenommen, man empfindet ihn als selbstverständlich.»2 Es wäre wohl nicht abwegig, hier an die unzähligen Wellen zu erinnern, die unsere Luft durchqueren und die durch die Massenmedien (was für ein Wort!) als normale Geistesnahrung eingenommen werden, wobei diese Medien keineswegs von vornherein dämonisiert werden sollen. Sie sind ja auch nur ein Teil jener Kräfte, von denen der moderne Mensch sich weitgehend determiniert weiß, so sehr, daß für ihn das Problem seiner persönlichen Freiheit viel akuter geworden ist als früheren Generationen. Welcher Laie durchschaut etwa die Großmacht «Weltwirtschaft», in der er nur ein treibendes, getriebenes Staubkorn ist? Hat der Mensch die «Atomkraft» noch in der Hand, oder ist er schon in die ihrige übergegangen?
Man kann über Jacob Burckhardts Ausspruch, Macht sei böse, streiten. Er hat sicherlich recht: Wenn Macht isoliert von anderen Werten (wie Güte, Gerechtigkeit) auftritt, dann wird sie versucherisch, wie in der Versuchungsgeschichte Jesu oder im «Großinquisitor» überdeutlich wird. Menschen, die dieser Versuchung erliegen, geraten in einen Sog, der sie lähmt wie das Tier vor der Klapperschlange. Deshalb gilt es, vor den Mächten, ob solchen der Natur oder des Geistes, der Geschichte immer «nüchtern und wachsam» (1 Petr 5,8) zu bleiben, auch und gerade die Getauften, die zwar grundsätzlich dem Bereich der Weltmächte «abgestorben» sind und «hinübergepflanzt» in den Christi, aber eben deshalb «wütender» angefochten werden können. «Wut (ist) ein seltsames Charakteristikum der Geschichte nach Christus. Die mit Wut geladene Atmosphäre entladet sich aber in jenen ungeheuren und sich steigernden Ausbrüchen dieser Geschichte.»3
Dennoch gehört es zu den zentralen Wahrheiten des Neuen Testaments, daß Jesus die Weltmächte «besiegt» hat (Joh 16,33) und daß in ihm auch die Christen sie besiegen können (1 Joh 5,4; Apk 2,20). Dies um so mehr als von den «Mächten» gesagt wird, sie seien nach Christi Sieg «schon im Schwinden (oder Untergehen) begriffen» (1 Kor 2,6), er habe sie bereits entwaffnet vor seinen Triumphwagen gespannt (Kol 2,15). So erhebt sich für die Christen die Frage, wie sie sich zu diesen immer noch wirklichen, aber von Christus übermächtigten Mächten zu stellen haben. Zwei grundsätzliche Antworten seien hier angedeutet. Die eine ist die Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie, in welcher «der Christus» immerfort als die alle weltliche Evolution beherrschende Grundmacht verstanden wird, die jedoch inmitten anderer Mächte – vor allem denen des Karma und der Reinkarnation, aber auch des ganzen vielfältig gegliederten Evolutionsgeschehens4 – sich erst durchkämpfen muß und praktisch zu einer Macht unter andern herabsinkt, so daß Steiner «die Mitte des biblischen Christentums verfehlt»; «an keiner Stelle können Erkenntnisse der Anthroposophie als solche eine Bereicherung und Erneuerung des Christentums sein».5 Nun hat ein bedeutender Konvertit von der Anthroposophie zur katholischen Religion, Valentin Tomberg, dessen Hauptwerk (leider anonym) kürzlich in verbesserter Fassung neu aufgelegt wurde,6 eine sehr beachtliche Synthese versucht zwischen den «Mächten und Gewalten» (denn nichts anderes sind die «Großen Arcana des Tarot») und ihre Beherrschung durch Christus. Hier wird vor allem gezeigt, daß diese Mächte durch Christus und die Kirche ihre von der Schöpfung her gewollte, aber nunmehr «erlöste» Bedeutung zurückerhalten können, womit schon zur zweiten Form der Antwort hinübergeleitet ist, die uns vor allem von jener Gruppe englischer Dichter und Denker gegeben wird, die sich The Inklings nannten7 und in deren Mitte Charles Williams, C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien stehen. Alle drei haben sich intensiv mit dem Problem der «Mächte» befaßt, Tolkien zumal im Schlußteil seines weltberühmten Märchenromans, Lewis vorab in seinem Roman «Die böse Macht»8, Williams in mehreren Romanen, am ausdrücklichsten in «The Greater Trumps»9, wo die verschiedenen Einstellungen zu den Mächten geschildert werden: Angst vor ihnen, Erliegen ihren Versuchungen, überhebliche Vorstellung, sie zähmen zu können, schließlich die christliche Überlegenheit durch Demut und Gebet. Anderswo zieht Williams eine bemerkenswerte Parallele zwischen den biblischen «Mächten» und den platonischen «Ideen» («The place of the Lion»). Hier wird in dichterischer Form eine christliche Antwort erteilt, die den verschiedenen Aspekten der Mächte gerecht wird: ihrer Gefährlichkeit (bis an den Rand der Menschheitsvernichtung), aber auch ihrer Überwindbarkeit, ja ihrem Schon-überwunden-Sein in der Herrscherstellung Christi, die ja schon zu Beginn seines Erdenlebens die Menschen in Staunen gesetzt hat: «Was ist das für ein Wort, daß er mit Macht und Kraft (en exousia kai dynamei) den unreinen Geistern gebietet, und sie fahren aus?» (Lk 4,36), und das ihn selbst, vorblickend auf sein Kreuz, sagen läßt: «Jetzt ergeht Gericht über diese Welt, jetzt wird der Beherrscher dieser Welt hinausgeworfen werden» (Joh 12,31).
- Dazu W. Foerster, Art. Exousia, In: ThWNT II,559-571 (Lit.). Hervorzuheben ist: H. Schlier, Mächte und Gewalten im Neuen Testament. Freiburg i. Br. 1958, der alle Schattierungen des Begriffs berücksichtigt, aber vielleicht die «Mächte» doch zu sehr dämonisiert, indem er die zunächst neutralen Größen nicht hinreichend von den apokalyptischen «Tieren» abhebt.↩
- H. Schlier, ebd., 5. 28-29 (gekürzt).↩
- Ebd., S. 48.↩
- Vgl. aus den zahllosen Schriften Steiners etwa. «Aus der Akasha-Chronik» (1973), «Die Geheime Wissenschaft im Umriß» (1968). Dreierlei bedingt den Lebenslauf des Menschen: «Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Man nennt dieses von dem Menschen geschaffene Schicksal mit einem alten Ausdrucke sein Karma. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben.» Theosophie (1973), S. 88.↩
- K. v. Stieglitz, Art. Anthroposophie. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (3. Aufl. 1957), 429f.↩
- Die Großen Arcana des Tarot. Hrsg. von M. Kriele und Robert Spaemann. Herder Basel 1983.↩
- Humphrey Carpenter, The Inklings. G. Allen and Unwin. London 1978. Gisbert Kranz beginnt eine gleichnamige Zeitschrift in Deutschland, um die Weltanschauungen dieser Gruppe zu erforschen.↩
- That Hideous Strength 1945, deutsch bei J. Hegner. Olten 1954.↩
- Erstmals bei V. Gollancz. London 1932; dann Faber and Faber. London 1954; in USA bei Pellegrini and Cudahy, 1950, dann Bard Books. Avon N. Y. 1969, jetzt Will. B. Eerdmans. Grand Rapids, Mich. 1976.↩

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
“Erhaben über alle Mächte”
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo