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VOM SINN DER KRANKHEIT (AUFSATZ)
ADRIENNE VON SPEYR
Vom Sinn der Krankheit (Aufsatz)
Adrienne von Speyr
Titolo originale
Vom Sinn der Krankheit
Ottieni
Temi
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2023Tipo:
Articolo
Die meisten Wissenschaften haben ihre eigene Methodik, die im allgemeinen geringen Schwankungen unterliegt; der Apparat wird vielleicht schwerfälliger oder differenzierter, die Art der Forschung an sich bewegt sich aber innerhalb einer gewissen Konstante; die Untersuchung und ihre Ergebnisse bleiben in einem relativen Abhängigkeitsverhältnis. Tauchen in den Resultaten Überraschungen auf, so sind sie oft nicht auf die angewandten Methoden zurückzuführen. In all dem aber unterscheidet sich die Medizin wesentlich von den übrigen Wissenschaften; die ungeheuerlichsten Revolutionen sind in ihr nicht nur möglich, sondern geradezu an der Tagesordnung. Die Asepsis und die Antisepsis haben der Chirurgie ungeahnte Gebiete erschlossen und ihr stets sich mehrende Erfolge gesichert. Durch ihre Krankheit zum sicheren Tode Verurteilte haben durch die Sulfonamide ihre Rettung erlangt. Das Penicillin erlaubt auch im organisch völlig Entkräfteten den Bazillen keinen weiteren Raum zu gewinnen und schenkt damit eine Aussicht auf Heilung auch dort, wo keine Hoffnung am Platze mehr war. Aber wie es bei Revolutionen üblich ist, erwartet man von ihnen jeweils mehr als sie geben können; sie tragen ihre Grenzen in sich, und es gilt jeweils, sich mit diesen vertraut zu machen, sie möglichst genau abzustecken, damit nicht eventuelle Enttäuschungen das neue Gute unter sich begraben. Obwohl so die Medizin immer wieder durch tiefgreifende Umwälzungen erschüttert wird, gibt es auch in ihr Konstanten; nur liegen diese nicht in der Wissenschaft an sich, sondern im Verhältnis des Patienten zu seiner Krankheit, im Verständnis, im Aufnehmen und Tragenwollen seines Zustandes. Bei näherem Zusehen erweist sich aber diese Konstante als das Gegenteil eines Abgeschlossenen, Endgültigen, denn sie ist jeweils beeinflußbar, solange der Mensch, der sie verkörpert, im tiefsten Sinne des Wortes lebendig, und das heißt belehrbar bleibt.
Was von keiner Methodik erfaßt wird, von den Fortschritten der Medizin unberührt bleibt und doch eine der wichtigsten Tatsachen in der Behandlung der Krankheit bildet, ist das menschliche Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Patienten. Nicht etwa, daß aus diesem Verhältnis heraus ein chirurgischer Eingriff an sich einen anderen Charakter erhalten könnte, oder daß seine Indikation in Frage gestellt würde. Nein. Denn der Sinn der Krankheit kann nicht nur in der Intervention, ihrer Notwendigkeit oder Ablehnung bestehen. Er muß irgendwo anders liegen und vielleicht gar identisch sein mit dem Sinn des Leidens, was also heißen würde: Kranksein bedeutet nicht nur die meistens unerwünschte Verpflichtung zu irgendeiner Periode der Ruhe oder zum Übersichergehenlassen irgendeiner Prozedur, die die Heilung als Zweck hat. Wäre dies letztere der Fall, so hätte die Krankheit als einziges Ziel die Heilung und sie wäre somit eine überflüssige Erscheinung. Letztlich aber wird sie bestimmt, wie jedes persönliche Erlebnis, eine Bereicherung bedeuten müssen, nach einer oder sogar nach mehreren Richtungen hin. Dieser Bereicherung soll der Patient innewerden dürfen. Meistens wird ihm seine Umgebung zu dieser Erkenntnis helfen müssen, seine Umgebung, die von der Krankheit zu diesem Zweck mitbetroffen wird, d. h. durch die Krankheit eine neue Aufgabe erhält. Die Krankheit enthält demnach eine Aufgabe sowohl für den direkt, wie auch für den indirekt von ihr Betroffenen. Eine Aufgabe also auch für den Arzt, der sie ja als Aufgabe gewählt hat, sich «berufen» fühlt zu helfen, nicht nur durch seine Kenntnisse, durch seine allen möglichen Wandlungen preisgegebene Wissenschaft, sondern vor allem durch seine in diesen Dienst der Teilnahme und der Hilfe gestellte Persönlichkeit. Diese Aufgabe enthält aber in sich die Forderung, daß Patient und Arzt nicht mehr zwei polare Erscheinungen bilden, sondern zu einer lebendigen Einheit verschmelzen, die den Sinn des Leidens, jeder nach der ihm zugewiesenen Aufgabe, zu ermitteln hat. Der eine wird passiv eine Krankheit über sich ergehen lassen, die der andere aktiv bekämpft. Das gegenseitige Mitspielen, Harmonieren, Zueinanderpassen dieser Aktivität und Passivität bildet etwas Lebendiges, das wie jedes Leben fruchtbar ist.
Eine Betrachtung der Welt in liegender Haltung zeitigt ganz andere Resultate als eine solche in stehender; es ergibt sich eine Verschiebung vieler Werte, auch der vertrautesten. Der Sinn dieser Wendung liegt vor allem in dem Anderssein; sieht der Kranke das andere Gesicht der bekannten Dinge, so dämmert ihm oft, daß der gesunde Mensch nicht dauernde Maßstäbe anlegen kann, daß sie wohl zu subjektiv waren, da sie ja mit der Krankheit verschwunden sind, um durch neue ersetzt zu werden, oder auch nur, um nur eine Lücke zu hinterlassen. Die im Patienten entstehende Unsicherheit und das damit verknüpfte Suchen verlangen eine neue Fülle, ein Positives, das Schwankungen weniger unterworfen wäre als das Bisherige. Die Krankheit als solche hat also eine unerwartete Umwälzung mit sich gebracht, da sie nicht nur eine Entfremdung des bisher zuverlässig gewesenen Körpers, sondern auch eine Revision mancherlei Urteile, ein Fehlen gewisser Gewohnheiten in sich birgt. Es zeigt sich dabei, daß im gewandelten Dasein wesentlich Neues unternommen werden muß, wenn es künftig von Bestand sein sollte. Alles, was bisher vom «Ich» aus betrachtet wurde, das alte «Ich» zum Ausgangs- wie zum Mittelpunkt hatte, war vorläufig. Das Endgültige kann folglich kaum mehr vom Ich ausgehen. Diese neue Einstellung ist mit psychologischen Reflexionen weder zu entkräften noch besonders scharf zu beleuchten, denn ihr Sinn ist identisch mit dem Sinn des Leidens und hängt dem Wesen nach nicht vom Ich ab. Das Ich kann sich gewissermaßen nur dazu äußern, besser noch, sich zur Verfügung stellen.
Der Arzt kennt das Vorläufige seiner Wissenschaft und weiß, daß das heute verabfolgte Rezept in wenigen Jahren für den gleichen Krankheitsfall schon als veraltet, wenn nicht gar als kontraindiziert gelten wird. Und doch muß er dazu stehen, daß es, da es heute wahr, genau zu befolgen ist. Er muß gewissermaßen eine Kerbe in die Zeit schlagen und den heutigen Augenblick als mit der maßgebenden Wahrheit behaftet betrachten. Schwer ist es aber, der Wahrheit eine beschränkte, vielleicht schon im Schwinden begriffene Gültigkeit zu belassen, und sich dennoch auf sie zu stützen, gar aus ihr endgültige Anordnungen zu treffen, die dem Patienten die Zielsicherheit der eingeschlagenen Behandlung klar darstellen müssen, so daß er sich in ihr geborgen fühlt und zum Arzte Vertrauen behält. Dieses Vertrauen aber ist unerläßlich: es spielt die Rolle eines Wegbahners; es ebnet die sich einstellenden Schwierigkeiten, verringert den Widerstand gegen die Befolgung unangenehmer Vorschriften, und, was das Wichtigste ist: es bringt Patient und Arzt zu einem Verhältnis, in dem jedes dem andern etwas zu geben hat. Der Patient schenkt seine Bereitwilligkeit, seine Hingabe, und der Arzt gibt nicht nur sein Können und Wissen her, sondern fühlt im Zutrauen des Patienten die Verpflichtung, seinen Beruf wirklich zu erfüllen, zum Gerufenen, zum Helfer in einem höheren Sinne zu werden, die Krankheit seines Patienten nicht mehr als ein beinahe vom Menschen losgelöstes Problem zu erfassen, sondern ihr zu belassen, was ihr eignet, den ganzen Hintergrund des Persönlichen, Suchenden, der zu jedem lebenden Menschen gehört. Es stehen einander gegenüber nicht nur eine Krankheit und ein Wissender, sondern zwei vertrauend Suchende. Sobald es wirklich dazu kommt, eröffnen sich bisher ungeahnte Möglichkeiten einer fruchtbaren Zusammenarbeit, deren Frucht nicht nur zu einer persönlichen Heilung, einer Rückkehr zum alten, Gesundheit genannten Zustand führt, sondern darüber hinaus anderen Leidenden als Erfahrung zur Verfügung gestellt werden kann. Eine Entwicklung also, die keiner Methodik bedarf, um erfaßt zu werden, die neben den explosiven Fortschritten der Medizin einhergeht und ihnen den bisher vermißten Charakter der Stetigkeit verleiht.
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