Der Verfasserin geht es in ihrer Selbstbiographie vor allem um den innern Werdegang, die Bedeutung, die gewisse schöne oder schwere Erfahrungen ihres Lebens für ihre späteren Entscheidungen gewonnen haben. Das ist geradezu das Leitmotiv des Ganzen, und von selber drängt sich auf, dass es unter diesem Gesichtspunkt gelesen sein will. Zwei Motive ziehen sich seit der allerfrühesten Jugend wie ein roter Faden durch das Labyrinth der Jahre hindurch: der unerschütterliche Wille, Ärztin zu werden und der ebenso beständige Wille, Gott allein zu gehören, ihm mit ihrem ganzen Dasein restlos zur Verfügung zu sein. Und nur als eine gleichsam negative Funktion dieses zweiten Motivs wird man ihre fast unbegreiflich ablehnende Einstellung zum bürgerlich-konventionellen, etwas leeren und sicher stark antikatholischen Protestantismus ihrer Umgebung zu begreifen haben.

Adrienne von Speyr hätte dieses Fragment einer Selbstbiographie nicht aus eigenem Antrieb zu schreiben begonnen; da sie aber gern aus ihrer Jugend erzählte und die Ereignisse aus der Zeit vor der Konversion für das Verständnis ihrer außergewöhnlichen Existenz als unerlässlich erschienen, bat ich sie – es wird um das Jahr 1945 gewesen sein – mir eine schriftliche Schilderung ihres Lebens zu geben, worin vor allem auch ihr innerer Werdegang fassbar würde. Wie lange sie an dem hier mitgeteilten Manuskript geschrieben hat, weiß ich nicht, vermutlich in Unterbrüchen bis zum Beginn der fünfziger Jahre; sie legte die großen Blätter, wenn sie vollgeschrieben waren, in eine Schublade ihres Schreibtisches und hat sie wohl nie im Zusammenhang durchgelesen. So blieben zuweilen kleine Wiederholungen und Unebenheiten in Stil und Inhalt stehen, solche auch, die erst beim Vergleich mit der später entstandenen zweiten Biographie («Geheimnis der Jugend», im 7. Band der nachgelassenen Werke, vgl. mein Buch «Erster Blick auf Adrienne von Speyr» 1968, S. 15 und 96) sichtbar werden, die aber am Gesamtbild, zu dem beide Schilderungen sich ergänzen, nichts ändern. Man wird zudem nur staunen können, mit welcher Frische und Exaktheit der Fünfzigjährigen die Erlebnisse ihrer Jugend vor Augen standen, mit welcher Gescheitheit sie ihnen zugleich den Sinn und Stellenwert abzugewinnen wusste, die sie innerhalb der großen Kurve ihres Lebens besaßen oder beim Rückblick gewannen.

Aus dem Vorwort von Hans Urs von Balthasar