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Adrienne von Speyr als Ärztin
Hans Urs von Balthasar
Originaltitel
Adrienne von Speyr als Ärztin
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Themen
Technische Daten
Sprache:
Deutsch
Sprache des Originals:
DeutschImpressum:
Saint John PublicationsJahr:
2023Typ:
Artikel
In den zahlreichen Werken Adriennes von Speyr, die bisher veröffentlicht worden sind (zumeist im Johannes-Verlag Einsiedeln), zeigt sie sich vorwiegend als die große, charismatisch begabte Theologin und Mystikerin. Alle aber, die sie persönlich gekannt haben, sahen in ihr vor allem die unermüdlich praktizierende, sich für ihre Patienten bis ins Letzte einsetzende Ärztin. In ihrer leider Fragment gebliebenen Selbstbiographie («Aus meinem Leben» 1968) erzählt sie schlicht und eindringlich, wie von frühester Jugend an der Gedanke an Gott – an den wahren christlichen Gott, den sie in ihrem liberal-protestantischen Milieu leidenschaftlich und einstweilen vergeblich suchte –und der Gedanke an die Menschen, an die Hilfe, die sie ihnen durch ihren Lebenseinsatz bringen könnte, unlöslich verbunden waren. In diesem Doppelgedanken, sich ganz Gott hinzugeben und sich ganz in den Dienst der Menschen zu stellen, lag nicht die geringste Spannung. Ihr Vater war Augenarzt, und sie durfte ihn schon als kleines Mädchen auf seinen Arztvisiten bei kranken Kindern begleiten. Als sie ein blindes Kind sah, fragte sie den Vater, ob sie nicht dessen Blindheit für einige Zeit übernehmen könnte, damit das Kind unterdessen sähe. Der Kampf um ihren Arztberuf sollte für sie nicht minder hart werden als ihr Kampf um Gott. Sie erkrankte an Tuberkulose, schien auch nach den Jahren im Sanatorium den Strapazen des Medizinstudiums und ärztlichen Wirkens nicht gewachsen, man verweigerte ihr das Geld zum Studium, mit beispielloser Zähigkeit verdiente sie es sich durch Nachtarbeit selbst, rackerte sich von Semester zu Semester durch, wurde kurz vor dem Staatsexamen die Gattin eines Basler Universitätsprofessors; nach einigen Vertretungen auf dem Land übernahm sie eine rasch aufblühende Stadtpraxis, in der sie eine Unzahl von Frauen, vorwiegend arme und einfache, behandelte, und in der sie nun endlich das Ideal des christlichen Arztes, das ihr immer schon vorgeschwebt hatte, verwirklichen konnte. Was sie erstrebte, war eine möglichst vollständige gegenseitige Durchdringung von beruflichem Können und Mitmenschlichkeit; durch fachliche Tüchtigkeit wollte sie für ihre Patienten der Mensch sein, auf den sie volles Vertrauen setzen konnten, durch ihre mitmenschliche Nähe aber der Ort, an dem sie ihre Nöte und Sorgen abladen und sich freundschaftlichen Rat in schwierigen Situationen holen durften; ja sie war bestrebt, auch dort, ja besonders dort noch dabei zu sein und mitzugehen, wo kein Mensch mehr dem andern äußerlich helfen kann: wo es ans Tragen unvermeidlichen Leidens, schließlich ans Sterben geht. Gerade diese «Grenzsituationen» hatte Adrienne von vornherein im Auge gehabt, als sie ihren Arztberuf wählte: den Menschen nicht nur solange helfen, als der «Fachmann» mit seinem Können etwas vermag, um sie nachher, wo er machtlos ist, irgendwelchen Krankenschwestern (wenn man noch solche findet) oder Spezialisten des Endstadiums zu überlassen, sondern im Gegenteil ihnen bis ans Ende beistehen. Zunächst geht es darum, durch fachliches Können ihr Vertrauen zu gewinnen, ihnen medizinisch und zugleich auch ethisch und sozial behilflich zu sein, um dann den Kranken weiterhin zu begleiten, wo auch der beste Arzt nichts mehr vermag, wo aber das Dabeisein, das Nicht-fallen-lassen, das Solidarisch-sein die größte noch mögliche Hilfe bedeutet. Dies also stand dem jungen Mädchen vor Augen, als es, gegen den Willen ihrer Mutter und ihres Onkels, des Direktors der Berner Irrenanstalt, eines vornehmen Charakters, der aber hier unerbittlich bei seiner Weigerung blieb, das Medizinstudium durchzwängte. Es stand Adrienne zu einer Zeit vor Augen, da ihr (in einer kaum zu lüftenden Verhülltheit) irgendetwas von ihren späteren mystischen Gnaden – die Konversion zur katholischen Kirche erfolgte 1940, als Adrienne im achtunddreißigsten Jahr stand – vorweg schon erahnbar war: innere Leiden anderer Menschen, Sterbender, Gestorbener auf sich zu nehmen und sie an ihrer Statt sühnend zu tragen. Dies muß hier angemerkt werden, weil jene Einheit von Hingabe an Gott und an die Menschen, von der alles ausging, bei Adrienne diesen einzigartigen Radikalismus besaß, der sich ihr später als eine besonders prägnante Form der Nachfolge Christi enthüllen sollte.
Im Lauf ihres schweren Lebens hat dies Tragen fremden Leides immer mehr das Übergewicht erhalten; die Praxis, die sie 1931 eröffnete, konnte sie wegen eigener Erkrankung (Herzleiden, Arthritis deformans, Diabetes, schließlich Erblindung und Krebs) in den letzten Vierzigerjahren nur noch mit großer Mühe weiterführen; zu Beginn der Fünfzigerjahre suchte sie die in der Stadt gelegenen Praxisräume in ihre eigene Wohnung zu übertragen, um dort noch Patienten zu empfangen; doch gelang dies nicht mehr, und so vergingen die letzten stillen Lebensjahre, bis endlich 1967 der Tod sie von ihren Qualen erlöste, unter Gebet, Diktat ihrer Schriften, Handarbeit und Schmerzen.
Adrienne war realistisch, temperamentvoll, kräftig zupackend, humorvoll, gesellig, dabei kritisch; Verstellung, Lüge, Übertreibung von Schmerzen durchschaute sie leicht, jedes Tragischnehmen von überwindbarem Leid war ihr zuwider. Wo aber leibliches oder seelisches Leiden wirklich ernst wurde, war sie sogleich gewillt, es völlig ernstzunehmen. In ihren zahlreichen Skizzen zu einem Buch über den Arztberuf, ärztliche Ethik und Medizinstudium ringt sie um die Probleme der ärztlichen Wahrheit – immer im Zusammenhang mit der gesamtmenschlichen. Sie befaßt sich eingehend mit dem so häufigen Phänomen der Lüge oder wenigstens Wahrheitsverdrehung im Sprechzimmer; es gibt die ganz gewöhnlichen Fälle, da Frauen mit irgendeinem eingebildeten oder geringen Leiden kommen, aber in Wirklichkeit über etwas ganz anderes, häusliche, seelische, religiöse Probleme reden wollen. Der Arzt soll, soweit er es vermag, den eigentlichen Herd des Leidens aufdecken helfen, vielleicht kann ein psychologisch kluges Gespräch, gestützt auf ärztliche Autorität, schon vieles bereinigen. In Fällen, wo die Zusammenarbeit mit dem eigentlich zuständigen Priester unmöglich ist, und wo der Patient nicht eindeutig an den Psychiater oder an eine soziale Fürsorgestelle weitergeleitet werden muß, hat der Christ im Arzt die Führung zu übernehmen. So ist es folgerichtig, daß Adrienne (die schon während des Studiums bei ihren Professoren für ihre intuitiven «Blitzdiagnosen» bekannt war) wenigstens beim christlichen Arzt eine innere Kontinuität zwischen religiöser Kontemplation und psychologisch-ärztlicher Kunst und Technik der Diagnostik verlangt. «Sehr oft», schreibt sie, «sprießt der geniale Gedanke aus der Betrachtung; die christliche kontemplative Eingebung hat ihr Gegenstück in der ärztlichen Intuition, die aus einer Gewohnheit der wissenschaftlichen Meditation entspringt, wobei das Wissen in etwa dem Glauben entspricht (unumstößlich, unwiderlegbar).» Und gleich anschließend: «Die Geschichten, die die Leute in der Sprechstunde erzählen, sind vielleicht alle irgendwie wahr, aber welche Arbeit muß der Arzt leisten, um die Wahrheit, auf die es ihm allein ankommt, daraus zu erfahren.» Für Adrienne war das Geheimnis der katholischen Beichte von jeher zentral; so erblickt sie tiefe Zusammenhänge zwischen leiblicher Enthüllung für die ärztliche Untersuchung und seelischer Enthüllung; Sachlichkeit und Nüchternheit in der selbstlosen Liebe bilden für beides die gemeinsame Atmosphäre.
Aber nicht bloß die Extreme: Religion und ärztliche Technik sollen zusammenkommen, sie sollten nach Adrienne beim Arzt durch echte Bildung vermittelt sein. Sie selbst hat unermüdlich gelesen: bedeutende Romane, die uns das Denken und das Leben des heutigen Menschen nahebringen, Dramen, Bücher über andere Wissensgebiete, um auf dem Laufenden zu sein. Sie schrieb einen Aufsatz «Vom lesenden Arzt». Der Arzt soll in jeder Weise human, für alle menschlichen Werte feinfühlig sein. Mit loderndem Zorn brandmarkt sie jene ihrer Lehrer, die in den Hörsälen Patienten wie bloße «Fälle» und bloßes «Material» behandelten und damit den Studenten das schlimmste aller üblen Beispiele gaben. In ihren klinischen Semestern lernte sie die Schwerkranken kennen, und deren Wahrheitsfrage, schwieriger als die der Sprechstundepatienten, hat sie noch tiefer beschäftigt. Sie erkennt den entfremdenden Charakter der schweren Krankheit, erwägt dessen Chancen für einen Durchbruch in tiefere Lebenswahrheit, sieht all die Verluste solcher Chancen durch einen technisierten Spitalbetrieb, durch Gleichgültigkeit des Pflegepersonals und der Ärzte. Sie schreibt bohrende Analysen über die psychologischen Spannungen und Fehlleistungen auf einer Spitalabteilung. In der Entfremdung der schweren Krankheit hat der Arzt sich zu bewähren. Ohne seine führende Rolle, auf die der Patient vertraut, aufzugeben, muß er jetzt «mit dem Patienten in einer lebendigen Einheit verschmelzen», beide, jeder gemäß der ihm gewiesenen Aufgabe, haben «zusammen den Sinn des Leidens zu ermitteln», der Arzt wird dabei «zum Helfer in einem höhern Sinne», der die Krankheit nicht mehr «als ein vom Menschen beinah losgelöstes Problem» auffaßt, sondern darin «den ganzen Hintergrund des Persönlichen», ins Unbekannte, Göttliche Verweisende belassen muß. Adrienne nennt das die «zweite Aktion» des Arztes, «die durch seine Persönlichkeit hindurchgegangen ist», und in der im Patienten «der Mensch wieder seine primäre Würdigkeit zurückerhält.» Sie hat solche persönliche Bewährung nicht nur von christlichen, gar nur katholischen Ärzten erwartet, sondern von jedem, der seinen Beruf ernstnimmt; dabei aber hat sie dem katholischen Arzt in den Tiefen des gelebten kirchlichen Lebens Wege gezeigt und vorgelebt, die einzigartig sind. Es gibt eine große Vorläuferin, die heilige Hildegard von Bingen, in der Arzttum und mystische Erfahrung sich in ganz ähnlicher Weise ergänzten und durchdrangen; auch wenn lange Jahrhunderte die beiden Frauen trennen und die Medizin sich äußerlich stark gewandelt hat, bleibt die innere Verwandtschaft frappierend. Adrienne hat Hildegard durchaus gekannt und an ihr gerade die Durchdringung von irdischem Realismus und Offenheit für den Himmel hochgeschätzt. Das gleiche Ideal von der vollkommenen Einheit von weltlichem Beruf und religiösem Einsatz schwebte ihr bei der Gründung der «Johannesgemeinschaft» vor, die sich heute darum bemüht, ihren Geist in allen weltlichen Berufen fortleben zu lassen.
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Französisch
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