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Christlicher Humanismus
Humanismus ist heute wieder zu einem Leitwort geworden, nach einer Zeit, die gewaltsam die Grenzen des Menschlichen zu sprengen bestrebt war. Solchen titanischen Versuchen gegenüber mag die Rückbesinnung auf die Grenzen der Menschheit wie Schwäche und Resignation erscheinen, oder, was schlimmer wäre, wie ein unwirksamer, romantischer Versuch, die heraufbeschworenen Übermächte zu bannen. Wahr daran ist, daß erst der Erfolg erneuter Menschlichkeit die begonnene Wendung glaubhaft machen wird. Denn allzunahe liegt in der Tat der Einwand, der Mensch und mit ihm die Idee des Humanums sei zu allen Zeiten der Inbegriff aller geistigen und kulturellen Bemühung gewesen, die Möglichkeiten des Menschen aber seien so reich, so unübersehbar, daß jede Epoche, die eine neue, unbekannte Seite des Menschen aufdecke, entwickle, mit Recht eine neue Form des Humanismus für sich in Anspruch nehmen könne. Ist nicht auch jene Sprengung aller Grenzen, jene Auskundschaftung transhumaner Welten, wie das 19. und 20. Jahrhundert sie versuchte, eine Tat, vielleicht die größte, des Menschen? Ist nicht die Transzendenz seiner selbst sogar das unterscheidend Menschliche, das den Menschen vom Tier unterscheidet? Wenn die Philosophie der Entwicklung und die ihr verwandte Lebensphilosophie recht sahen, haben dann nicht alle Wesen etwas über sich hinaus geschaffen, naturhaft, und ist nicht vom Menschen, der Geist ist, dasselbe geisthaft zu erwarten? Ist nicht jede Form, auch die des Menschen, nur eine Schranke, in der sich das Leben fängt und formt, um sie alsdann um anderer, vielleicht höherer, vielleicht tieferer Formen willen wieder zu zerbrechen?
Nach zwei Seiten hin hat die Neuzeit das alte Maß des Humanen gesprengt: zum Über- und zum Untermenschen hin. Nietzsche glaubte zu Beginn seines Zarathustra die beiden als äußerste Gegensätze einander gegenüberstellen zu können. Aber Extreme berühren sich. Sie stimmen darin überein, daß sie beide das Maß der Mitte verloren haben, das nun gerade nach den Begründern des abendländischen Humanismus das Wesen des Menschlichen ausmacht. So hatte die Geschichte denn auch keine Mühe, die dialektische Identität des Über- und Untermenschen nachzuweisen, und sie tat es so gründlich, daß sich jedes weitere Wort erübrigt. Man kann diese Beweisführung ganz sachlich und von der Schuldfrage absehend betrachten: ob die Begründer der Bewegung zum proletarischen «letzten Menschen» und zur Bestie des «Übermenschen» mehr Treibende oder mehr von einer innern Gesetzlichkeit der Geschichte Getriebene waren, mehr Krankheit oder mehr Symptom, bleibt sich für diese Betrachtung gleich. Wichtig ist nur, daß sie die Klammern des abendländischen Humanismus, wie sie Plato und Aristoteles, Sophokles und Pindar geschlossen, zu lösen gesucht, und damit – die forcierte Beschäftigung mit den Vorsokratikern während den vergangenen Jahrzehnten ist ein sprechendes Zeichen! – die Grundlage der abendländischen Existenz angerührt haben. Aber vielleicht war es an der Zeit, diese Klammern wirklich zu lösen? Vielleicht war diese ganze abendländische Ära des Maßes, der Mitte, des goldenen Schnitts nichts weiter als eine vergängliche Möglichkeit neben andern, die ihre Zeit gedauert und nun neuen, von Grund aus neuen Formen des Menschseins zu weichen hat? Die Frage ist laut geworden und läßt sich nicht mehr verdrängen. Die Anker der Geschichte scheinen schon gelichtet, und die odysseische Fahrt treibt neuen Ufern entgegen. In diesem geschichtlichen Augenblick taucht dringlicher als je die Frage nach dem übergeschichtlichen Maß des Menschen herauf: die Frage nach dem Verhältnis des weltlichen Humanismus zum überweltlichen, christlichen Maß des Menschen.
1.
Der abendländische Humanismus von den Griechen bis zu Goethe, bis zu den klassischen Kulturformen aller abendländischen Völker erscheint von dieser fragenden Distanz aus gesehen deutlich als Einheit. Die griechischen Begriffe der Form: Eidos, Morphe, Entelecheia beherrschen diesen gepflegten Garten. Der Reichtum an Variationen, die darin erzeugt und gezüchtet wurden, tritt zurück hinter der Verwandtschaft der Formen, die grundgelegt ist im Willen zu Maß und Grenze, wie sie das Menschenwesen als solches in sich trägt und der Gesamtheit der umgebenden Welt gesetzgeberisch aufprägt. Der sophistische Satz vom Menschen als Maß der Dinge wird von Anfang an nur in seinem subjektiven Sinne abgelehnt, um desto stärker in seinem objektiven angenommen und ausgebaut zu werden. Das Gesetz seines Wesens ist ihm zugleich (als aristotelische Morphe) immanent und (als platonische Idee) transzendent, aber so, daß die Morphe als En-tel-echie ihre Idee als Ziel und Richtung ihrer Bewegtheit in sich hat. So ist das Maß des Menschen der Willkür des einzelnen entzogen: als Physis ist sie mehr als das Individuum, das daran nur teilhat, als Idee ist sie mehr als die beschränkte menschliche Physis, da diese in der Idee sich eingeordnet findet in einem vollständigen Weltsinn, eine kosmische Ordnung, die aber anschaulich und ablesbar wird am Mikrokosmos Mensch. Wenn Gregor der Große das Wort der Aussendung auslegt: «Geht hin in alle Welt und predigt allen Geschöpfen das Evangelium», dann deutet er die Allheit der Geschöpfe als den Menschen, der in seiner kosmischen Natur alle Stoffreiche der Wesen in sich besitzt und eint. Und desgleichen Augustin, wenn er das Wort kommentiert: «Er wird seine Erwählten von den vier Winden her sammeln»: «Adam selber sinnbildet den Erdkreis, gemäß dem Griechischen: Die vier Windrichtungen haben zu ihren Anfangsbuchstaben A(natole), D(ysis), A(rkton), M(esembria): Das ergibt Adam. Adam aber ist die Menschheit, und jeder Mensch ist Adam.» Adam, der Mensch, ist die Fülle und das Maß der Welt, die Welt aber ist die Fülle, die Entfaltung und Auslegung Adams. Sie ist seine «Elongatur» (Novalis), ja man darf auf das Verhältnis dieser beiden das Pauluswort anwenden von der sowohl erfüllten wie erfüllenden Fülle (Eph 1,23). Darüber besteht kein Zweifel: Die Natur hat Sinn nur im Menschen, für den Menschen und durch den Menschen, als seine Grundlage, sein Stoff, sein Feld, das Reich, über das er herrscht.
Der Mensch ist also sowohl das messende Maß der Natur als auch das von der Natur gemessene Maß. Er ist in beiden Fällen die gegen das Maßlose, das Apeiron, aufgerichtete Schranke des Seins und des Geltens. Aber gerade aus dieser Zweideutigkeit des gemessenen und des messenden Maßes, durch welche der Mensch ein Teil der Natur und doch mehr als Natur ist, ergibt sich für allen Humanismus die innere Gefährdung dieser Form. Messendes Maß kann der Mensch nur sein, weil er frei ist; aber weil er gleichzeitig gemessenes Maß ist, kann er nicht die Freiheit selbst sein, sondern Freiheit von Natur her zu Natur hin, Freiheit von Maß her zu Maß hin, Abgrund und Apeiron der Freiheit zwischen der diesseitigen Grenze der bloßen Natur und der jenseitigen Grenze der durch Freiheit als Geist erfüllten Natur. Eine solche Form der Freiheit kann nur eine gefahrenschwangere sein. Der abendländische Humanismus weiß im tiefsten um diese Gefahr. Das Verhältnis von Mensch-Form und Mensch-Abgrund ist sein eigentliches Thema. Aber für ihn ist die Freiheit da, um den Gebilden der vergänglichen Zeit einen ewigen Sinngehalt in der Idee zu geben, einen Wert, der vor dem Angesicht Gottes besteht. Auch dort, wo die endlichen Gefäße der Natur zerbrechen, im Tragischen, muß diese Tragik der Endlichkeit eine höhere, geistige, sittliche, religiöse Form offenbaren. Darin sind sich alle Gestalter des Humanismus einig: die Griechen sowohl wie die Modernen: Opiz, Herder, Kant, Schiller, Goethe, nicht minder ein Calderon, der Dichter der Freiheit als dämonische Gefahr, ein Shakespeare, der Dichter des Abgrunds im Menschen, ein Bach und ein Beethoven. Alle wissen sie: Sünde und Schuld sind nicht da, um begangen zu werden, als Demonstration, daß der Mensch auch das kann, sondern um gesühnt, getilgt und in einem Jenseits der Schuld, das aber nicht darum ein Jenseits des Menschen sein muß, überwunden zu werden. Der Abgrund ist kein eigenständiges Thema des Humanismus, gleich betont wie die Form, sondern teils ein durch das Wachstum bedingtes Moment, das die vorläufige Form zu immer Umfassenderem und Endgültigerem reifen läßt, teils das in diesem Prozeß immer mehr zu Bannende, und, soweit es das jeder Formung Feindliche ist, immer mehr zu Verbannende.
Aber gerade weil der Mensch nicht nur messendes, sondern sofort auch gemessenes Maß ist, weil demnach seine Freiheit keine absolute, sondern eine für das Werden gegebene, ja selbst werdende ist, darum transzendiert die immanente Gemessenheit des Menschen am Kosmos zuletzt notwendig ins Religiöse: Mensch und Welt, die sich aneinander messen, die also beide gemessene Maße sind, brauchen ein letztes, nur noch messendes Maß, Gott. Der ganze abendländische Humanismus, mag er heidnisch oder christlich sein, ist ein religiöser, ein frommer Humanismus. Er weiß sich umgriffen von einem letzten Maß, der ihm Sein und Geist gibt: cogitor, ergo sum. Die Gefährdung, die vom Apeiron der Freiheit her droht, ist darum keine andere als die Hybris, die sich gegen das letzte, übergeordnete Maß erhebt. Von Sophokles bis zum Wallenstein ist sie das Thema der humanistischen Tragödie und wird darin in ihrer Selbstwiderlegung vorgeführt. Sie zerstört das Maß des Menschen und erweist sich dadurch als das Böse. Die Notwendigkeit für den Menschen, sich in Gott zu vollenden, ist schon im Symposion erkannt; Dante, Stifter, Claudel zeigen, was dieser Gedanke enthält. Und wo der Horizont des Göttlichen nicht ausdrücklich erreicht wird, wo man im Innerweltlichen, Innermenschlichen verharrt, bleibt er doch als die vollendende Grenze des Menschlichen vorausgesetzt, von der her der Mensch sein eigenes Maß als ein anwendbares erhält.
Und doch bedroht hier eine neue, tiefere Gefahr den abendländischen und jeden weltlichen Humanismus. Ist denn Gott wirklich als die absolute Idee, die vollkommene Form zu denken, als der, der alles in der Welt Geformte erfüllt und als unendliche Ordnung, unendliches Gesetz, als Bürge hinter allen weltlichen Formen und Ordnungen steht? Oder ist Gott nicht vielmehr, wie echte Religion es erspürt, das alle Grenzen und Enden Sprengende, und damit aber doch das alle weltlichen Maße in Frage Stellende, Bedrohende, Auflösende? Ist das Apeiron, das die klassischen Griechen in die Materie verlegten, als den unterhalb liegenden Abgrund, nicht doch, wie die Neuplatoniker und nach ihnen die ganze abendländische Mystik es sahen, Gott selbst, der obere Abgrund, in den hinein schließlich die ganze Geformtheit der menschlichen Welt zu scheitern und zu vergehen hat? Muß nicht der Mensch, in dem Maße als er sich Gott nähert, sich von den gültigen menschlichen Maßen entfernen und schließlich in die unwegsamen, unmenschlichen Höhen der Ekstase sich verlieren? Es ist wohl nicht zu kühn, wenn wir zu sagen wagen: die letzte Bedrohung des abendländischen Humanismus stammt von einem Gottesbegriff, der, weil er als das leere Unendliche der erfüllten Endlichkeit der Welt gegenübersteht, deren Schöpfungsmaße sprengt und den mit Gott beschäftigten Menschen aus den Fugen reißt. So war es schon in der Gnosis, so in den verschiedenen Formen der hellenistischen Mystik, in welche sich bezeichnenderweise dem Abendland fremde, östliche Motive einfügen, so in der ganzen davon herkommenden Mystik von Origenes, Evagrius, Eriugena zu Böhme und zu den Idealisten, bis hin zur Dialektik Hegels, in welcher das abstrakte Gegenüber von Endlichkeit und Unendlichkeit trotz übermenschlicher Bemühung zu keiner Versöhnung kommt. In all diesen Formen kann der Abstand von Gott und Mensch nicht anders übersprungen werden als im Gedanken einer direkten, wenn auch vielleicht nie erreichten, vielleicht nur asymptotisch angestrebten Vergöttlichung des Menschen, die aber seine Entschränkung und Entmenschlichung zur Voraussetzung hat. Und so wäre dann doch, gegen alles früher Gesagte, der Titanismus, der die Grenzen des Humanums zerstört, in diesem selbst angelegt, und damit die Tragik, die Dämonie, die Gefährlichkeit des Menschen enthüllt, wie sie im Faust dargestellt ist, der aber hier nur als Exponent steht für die ganze mystisch-atheistische Dialektik und Umschlagsproblematik eines auf sich selber stehenden, sich selber genügenden Humanismus. Soll man weiter (mit Hegel) sagen, daß das gleiche nackte Gegenüber von Endlich und Unendlich auch dem Judentum zugrundelag und daß es dort, wo das Jüdische in seiner Reinheit festgehalten wurde, oder wo es – wie dies so oft geschah – mit hellenischen Formen sich vermengte, zu keiner letzten Verankerung des Humanums im Ewigen führen konnte? Entweder mußte Gott, um erträglich zu sein, verweltlicht werden, wie bei Spinoza und Bergson, oder dann der Mensch heimlich oder offen vergöttlicht werden, wie in den meisten Formen der jüdischen Mystik, womit wieder alle Türen des Tragisch-Dämonischen aufgetan sind.
So wird endlich klar, wie sehr das Christentum allein die unverhoffte, aber unentbehrliche Lösung gebracht hat, die den Humanismus auch als innerweltliche Möglichkeit verbürgt und besiegelt. Wer diesen Gedanken in seine letzten Voraussetzungen verfolgt, muß sich darüber klar sein, daß er – entgegen einer ganzen Strömung neuerer Theologie – der Naturordnung keine letzte Selbständigkeit zusprechen kann, sondern den einen und einzigen totalen Welt-Plan Gottes im Christlichen sich grundlegen und vollenden lassen muß. Was wir «Natur» nennen und mit Recht so nennen, weil es sich als ein relativ eigenständiger Bereich von der Übernatur und der Gnade abhebt, das ist doch im konkreten Schöpfungsplan Gottes einzig um der Gnade willen nicht nur geschaffen, sondern erdacht worden und kann somit seine innere Gesetzlichkeit nicht anders offenbaren, als indem es sich bewußt in die höheren Gesetze der christlichen Offenbarung ein- und unterordnet. Die Lösung des menschlichen Problems, wie sie die Offenbarung Christi gebracht hat, liegt in den beiden Grundwahrheiten der Trinität und der Inkarnation.
Der dreieinige Gott ist, auch wenn er notwendig unendlicher Gott ist, dennoch kein gestaltloser Gott. Er ist vielmehr in sich selber Gestalt und gerade darum Fülle und Leben. Denn Leben ist nicht, wie die Lebensphilosophie meint, ein Gegenbegriff zu Form und Bestimmtheit. Leben ist zuletzt Liebe, und Liebe besteht nur in der Einheit von Zweien, die ohne aufzuhören, zwei zu sein, eins sind und in einem Dritten ihre Einheit besiegeln, darstellen, bezeugt erhalten und immer neu werden lassen. Was Jaspers als letztes Wesen der weltlichen Wahrheit geschildert hat – und was bei ihm notwendig die Überlegenheit der endlichen Wahrheit über jedes «ewige Dogma» zu erhärten schien – das gerade ist das Wesen der ewigen Wahrheit, an dem die weltliche nur teilhat: Dialog, Kommunikation, Austausch, Liebe. Ein Gottesbegriff, der nicht anschaulich machen kann, daß Gott in sich selber die Liebe ist, bevor er die Welt erschuf, wird niemals anschaulich machen, daß Gott die Welt aus Liebe erschuf, daß also das bleibende Gegenüber von Gott und Mensch ein genügender Sinn der Schöpfung sein kann. Damit ist gesagt, daß jeder Humanismus, der von der Trinität nichts weiß, auch wenn er noch so fromm ist, über kurz oder lang in irgendeiner Form des Pantheismus oder Theopanismus enden muß. Mag ein bloß natürlicher Gottesbegriff als Begriff durchaus wahr sein, mag also eine natürliche Theologie durchaus richtig konstruiert sein (und braucht sie somit nicht, wie die dialektische Theologie es will, von vorneherein ein verkehrtes und gottwidriges Unternehmen zu sein), so genügt sie doch weder dazu, die Welt und ihren Sinn lückenlos zu verstehen, noch dem Menschen eine letzte praktische Wegweisung zu geben.
Die Wahrheit der Trinität, deren immanentes Gegenüber das transzendente Gegenüber von Gott und Mensch rechtfertigt, vollendet sich über alles Vermuten hinaus in der Menschwerdung Gottes, in welcher die Endlichkeit des Menschen und seines Maßes ohne gesprengt zu werden von der Unendlichkeit des Maßes Gottes und seiner Ewigkeit in Besitz genommen und dadurch verbürgt wird. So sehr verbürgt, daß Gott nicht nur menschlicher Geist, sondern ausdrücklich Fleisch wird und diese Fleischwerdung in der Auferstehung des Fleisches ihre ewige Besiegelung erhält. Weiter kann kein weltlicher Humanismus gehen. Die grundsätzliche Versöhnbarkeit des geschöpflichen und des göttlichen Maßes, wie sie ideell in der Trinität ansichtig wird, wird in der Inkarnation zur vollendeten und ausgewiesenen Tatsache. Damit wird alle innere Unruhe des rein weltlichen Humanismus in seinen platonischen Aufstiegen und sukzessiven Entschränkungen der menschlichen Grenzen gebändigt und gestillt in die vollendende Ruhe des christlichen Abstieges Gottes in das Menschliche hinein. Dieser Abstieg ist reine Gnade und daher aus dem Richtungssinn des Humanums nicht abzulesen. Und doch erfüllt er allein alles menschliche Sehnen, «nicht entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit das Sterbliche in Leben aufgehe» (2 Kor 5,4). Aller Humanismus außerhalb Christus bleibt inchoativ, sei es, daß er als bloße Natur vergeblich versucht, sich in sich selbst zu vollenden und somit immer neu aufgesprengt wird zur Gnade hin, sei es, daß er von Anfang der Schöpfung her die übernatürliche Entelechie in sich enthält, positiv als Gnade und negativ als Sünde und Versagen, und so dem Ereignis der Zeitenfülle entgegendrängt. Inchoativ heißt nicht falsch; was zuletzt ohne fremde Hilfe versagt, braucht nicht schon bei den ersten Schritten verkehrt gelaufen zu sein. Aber wenn es wahr ist, daß in Christus die ganze Schöpfung grundgelegt wurde und in ihm seinen Bestand hat (Kol 1,16-17), und zwar ausdrücklich in ihm als dem Menschgewordenen (Offb 1,18), daß also dieser Mensch, der zugleich Gott ist, das Maß aller Dinge ist, dann ist es klar, daß jeder Humanismus an ihm zugleich sein Gericht wie seine Erlösung findet. Was Mensch heißt, das kann zuletzt an keinem andern abgelesen werden als an ihm. Und je mehr ein Mensch in ihm und von ihm lebt, an ihm sein Maß nimmt und von ihm seine Sendung bekommt, um so mehr hat er Anspruch, als Mensch zu gelten. Die inchoative Transzendenz im Menschlichen, das als Morphe über sich hinaus auf eine Idee sich bewegt, findet hier ihre Krönung, da der einzig wahre Mensch einer ist, der keine menschliche, sondern eine göttliche Person ist.
Aber diese erste Entwicklung eines christlichen Humanismus bleibt noch zu sehr im Abstrakten und Formalen stecken, um ganz überzeugend zu sein. Oder besser gesagt: Es mochte überzeugen in einer Zeit, da Menschentum und Christentum wie fraglos zueinander standen. Heute haben sie sich auseinander entwickelt. Und die großen Gefährdungen des Humanums bleiben noch immer: das anonyme Kollektiv in Ost und West, die Technik, die das Maß des Menschen zerstört und anstelle dessen das Maß der Maschine setzt, in ihrem Gefolge die Geistlosigkeit, die selbst die natürlichen, vorchristlichen Formen der Sittlichkeit und Religion verunmöglicht. Und doch ist der Mensch heute weniger als je am Ende. Er setzt an zur Gesamtgestaltung der Welt. Er ist im Begriff, den Planeten endgültig zu erobern und sich untertan zu machen. Er ist bedrohter als je und bedarf mehr als je der Besinnung auf sein Wesen. Angesichts dieser Lage setzen wir ein zweitesmal an, um die Beziehungen zwischen dem Humanum, konkreter verstanden, und dem von Gott her vollendenden Christianum deutlicher zu beschreiben.
2.
Sucht man das Wesen des Menschen von seiner geschöpflichen Natur her zu beschreiben, so wird man sie zweifellos in dem finden, was ihn von allen Geschöpfen unter und über ihm unterscheidet: Er ist «geeinte Zwienatur», Geist und Leib, genauer noch: Geist in Leib.
Er ist also zuerst Geist. Geist, der selbst nicht Leib ist, so innig er auch mit dem Leib vereinigt sein mag, Geist, der nicht sublimiertes Leben ist, nicht «Leben, das sich selbst ins Leben schneidet», nicht ableitbar aus dem, was wir im Untergeistigen als Leben bezeichnen, wohl aber das eigentliche Leben, von dem die vitale, biologische Sphäre nur ein verminderter Abglanz ist. Geist ist «totale Reflexion» des Seins, ist Bewußt-sein, Lichtung des Seins, sich selber messendes, sein eigenes Maß ermessendes Sein. Es ist damit auch Intimität, sich selbst erschließendes, freies Sein. Mehr als irgendein anderes Volk haben die Deutschen von diesem Wesen des Geistes erfahren und es ausgedrückt in Dichtung und Philosophie. Sie wissen, daß Geist nicht nur Gedanke ist, Erkenntnis, Richtigkeit des Seins, und Wahrheit nicht nur die Übereinstimmung von Begriff und Sache, sondern daß Geist wesentlich Freiheit, Entscheidung und somit Realisierung besagt, Wahrheit also die Übereinstimmung von Idee und Leben, von Begriff und Existenz zu ihrer Vollwirklichkeit fordert. Für das deutsche Denken ist somit der Existenzialismus nichts neues, es hat die Wahrheit schon je und je in der Synthese zwischen Idee und Existenz gesucht, im «Faust» so gut wie im «Empedokles» oder in Hegels Phänomenologie. Dadurch besitzt es wie ein natürliches Fundament für den christlichen Begriff des Geistes und der Wahrheit, wie ihn die Offenbarung Christi gebracht hat: Geist als Teilnahme am Geist, der weht wo er will, der fordert und verteilt wie er will, der Entscheidung ist und Entscheidung fordert und in der Entscheidung die Einsicht, die Weisheit und die Wissenschaft verleiht, und Wahrheit als ein Zustand des Geistes in der rechten Entscheidung, als ein Tun des Gebotenen, als ein Bleiben in diesem Tun.
Was die Deutschen aber weniger gut wissen, ist, daß der Geist zuletzt nicht für sich selber da ist, daß seine Realisierung in der Wahrheit nicht anders geschehen kann als in einer Transzendenz, die aber nicht ein bloßer Zustand oder Modus des Geistes ist, sondern das echte Sich-Verschenken und noch besser Genommenwerden in der Liebe. Der Pantheismus, in welchen die deutsche Philosophie zu stranden pflegt, hat keinen Raum für die Liebe. Fichte hat sie wohl zuletzt geahnt, Hegel hat sie zu Beginn gekannt, aber die Sonne der wahren Liebe strahlt nur für Augenblicke durch Gewölk und Nebel. Faust ist hoffnungsloser Egoismus. Der Begriff des Geistes als An-und-für-sich-Sein ist zuletzt eine Verleugnung der Liebe. Und wenn Jaspers die Idee der Liebe mit derjenigen der Wahrheit verbindet und die letztere im Vollzug der zwischen-menschlichen Kommunikation grundlegt, so versagt ihm dieser Begriff im entscheidenden Augenblick: in der Öffnung der innerweltlichen zur ewigen Wahrheit. Mit Gott gibt es keine Kommunikation, kein Gespräch, keinen Austausch. Was der deutschen Philosophie völlig abgeht, ist eine Metaphysik der Anbetung, des Gebetes, des Hörens, der Kontemplation als Öffnung und Empfang. Die höchste Haltung bleibt die des Wissens oder höchstens der Tat, die aber beide im leistenden und erzeugenden Subjekt befangen bleiben. Die Ersetzung des «Wortes im Anfang» durch die «Tat im Anfang» und durch das «absolute Wissen» jenseits der Religion verbannt den Deutschen in eine immer dichtere, unzugänglichere und darum auch unfruchtbarere Einsamkeit, die schließlich zu Nietzsches siebenter Einsamkeit wird. Die Deutschen wollen nicht beten. Sie sind das Volk der Dichter und Denker, und nicht das Volk der Heiligen. Sie hätten es sein sollen wie jedes Volk, das der Idee Gottes entspricht. Sie haben den Geist zum Gott gemacht, und darum wurde ihnen der Geist der Liebe Gottes versagt.
Sie haben darum auch nicht realisiert, wie sehr im Begriff des Geistes derjenige der Gemeinschaft eingeschlossen ist. Erst wenn der stolze, einsame Geist bis zu den Grenzen des Wahnsinns vorgedrungen ist, fällt er von sich selber ab in die Gemeinschaft. Person und Gemeinschaft sind im deutschen Denken immer mehr zu einer tragischen und unlösbaren Dialektik geworden: Weil die Idee der Liebe nicht im Mittelpunkt stand, schlug die überspitzte Einsamkeit immer wieder um in eine ebenso unmögliche überhitzte Gemeinsamkeit. Denn nur in der Liebe wäre sichtbar geworden, daß steigendes Fürsichsein auch ein steigendes Füreinandersein einschließt, steigende Freiheit auch eine steigende Solidarität in Heil und Unheil, steigende Selbstverwirklichung auch eine steigende Verantwortung für die Verwirklichung aller. Geist, so gesehen, ist das genaue Gegenteil des «Willens zur Macht». Er ist, gegenüber der ganzen biologischen Welt unter ihm, die Erschließung der Objektivität des Seins und somit die Forderung strengster Sachlichkeit im Dienste des Universalen, einer Sachlichkeit, die aber nur in der Entschließung zum selbstlosen Dienst sich verwirklicht, und somit in der Liebe.
Aber der Mensch ist nicht allein Geist. Er ist erscheinender Geist, Geist in einem Leib. Der Leib ist die Erscheinungsform des Geistes in der Welt, seine Darstellung und seine Bezeugung. Er ist damit nichts geringeres als das Kriterium des Geistes. Es gibt letztlich keine Wahrheit des Menschen als eine solche, die im Leib dargelebt wird. Der Leib ist nicht, wie abendländisches Denken es nur allzu langt glaubte, ein Kerker, ein Hindernis, ein Schatten oder gar ein Widersacher des Geistes. Er ist sein natürliches Gefäß, der Schauplatz seiner Erprobung, noch mehr: die unumgängliche Bedingung seiner Verwirklichung. Geist ohne Leib bleibt embryonal, bleibt abstrakt, unwirklich, unerzogen, ungebildet. Darüber ist ein Dreifaches zu sagen.
Der Leib ist zunächst die Leistung des Ausdrucks. Denken ist leicht, aber Machen ist schwer. Kunst kommt von «Können». Kritisieren ist leicht. Bessermachen ist schwer. Dort, wo das Können sich erschöpft, beginnt die Kritik, das Bereden des Gekonnten zu wuchern. In allen Gebieten. Das Ende der Geschichte ist die Historie, das Ende der Kunst die Kunstwissenschaft, das Ende der Heiligkeit die Religionswissenschaft, das Ende der Seele die Psychologie. Niemand hat dies, gerade für die Deutschen, besser erkannt als Goethe. Ein kleines, aber gemäßes Verwirklichen im kleinsten Kreise galt ihm als der einzige Weg ins Absolute. Und mit Besorgnis sah er im Sturm und Drang, in der Romantik und im «Jungen Deutschland» die unfruchtbaren Ideen ohne Leiber den Raum bevölkern. Kritik darf in einem Volk nur als Selbstprüfung innerhalb eines fruchtbaren Vorgangs zeugender Leistung geduldet werden. Dann ist sie selber fruchtbar. Eine eigene Funktion innerhalb der Kultur hat sie nicht. Sie darf nicht nur von der Leistung herkommen, sie muß zu neuer, besserer Leistung hinführen. Sonst entleibt sich der Geist und stirbt. Leistung ist die eigentliche Befreiung des Geistes. Der Leib ist nur insofern ein Kerker des Geistes, als dieser sich noch nicht im Leib dargestellt hat. Er kann sich nicht anders aus diesem Kerker befreien, als indem er ihn selber zu seinem Werkzeug, seinem Ausdruck, seiner Wahrheit und Schönheit macht. So gibt es folgerichtig auch keinen andern Genuß als die Leistung; Genuß und Askese fordern sich gegenseitig und heben sich im höheren Begriff der Leistung auf.
Leib heißt somit weiter: Bindung des Geistes. Nicht Fessel, sondern selige, befreiende Schranke. Befreiend aus der unseligen Unendlichkeit der Ungebundenheit im Abstrakten, der puerilen Phantastik. Der Leib ist die Erziehung des Geistes in die große Geduld der Existenz. Die Langsamkeit der leiblichen Reifungsgesetze, die Stetigkeit der leiblichen Periodik bindet den zuchtlosen, weil ungezüchteten Geist in Zucht und Maß, in «Ordnung, Zahl und Gewicht», wie alle von Gott erschaffenen Dinge sie haben sollen. Wiederum: Ideen haben ist nicht schwer. Sie sind ohne Widerhaken. Sie binden nicht, sie sind allgemein, aber darum noch lange nicht universal. Erst die Individuation in einem Leib erlöst den Geist vom Fluch der Abstraktheit. Jedes Wesen muß die Demut lernen, nur dieses Einzelne zu sein. Und die Liebe selbst muß lernen, in der Einmaligkeit – ein Leib zu einem Leib, ein einzelner Geist zu einem einzelnen Geist – das Höchste zu werden: die je einmalige Liebe! Das ist die Wahrheit von dem Satz: individuatio ratione materiae. Abendländisches Denken hat allzulange gemeint, die Endlichkeit des Leibes sei nur eine Negation der Unendlichkeit des Geistes. Es hat damit dem Wesen des Menschen selbst eine innere Endlichkeit zugesprochen, die es auflöst und negiert. Die Griechen haben wohl das Gegengewicht zu ihrer gefährlichen Philosophie der Materie besessen: ihre Kunst, in welcher der Leib nicht Schranke, sondern «Herrlichkeit» des Geistes war, seine Darstellung, seine Leistung. Aber der Einheitspunkt zwischen Philosophie und Kunst lag jenseits des antiken Humanismus und wurde von ihm nicht gefunden.
Der Leib ist zuletzt das konkrete Kriterium der Liebe, ob nämlich die ganze geglaubte und versprochene Hingabe tatsächlich vollzogen wird oder nicht. Die Totalität der Hingabe, die die Selbstverwirklichung des Geistes ist, ist die totale Inanspruchnahme des werkzeuglichen Leibes durch den Geist und somit das Opfer. Es ist Leib als Werkzeug der Liebe, das sich aufreibt im Dienst der Liebe, oder als verzehrtes, aufgebrauchtes Werkzeug in Schmerz, Leiden, Schmach, Tod und Untergang. Und darin Beweis und Darstellung der Ewigkeit des Geistes und der Liebe. Wenn dieses Verhältnis von Leib und Geist die radikalste Form ihres Zueinander ist, so werden die leiblichen Werke der Barmherzigkeit nicht umsonst mit dem Titel der Humanität ausgezeichnet.
Und doch bleibt auch dieses Bild des Humanums von allen Seiten her inchoativ und unvollendet, ja, wie wir sahen, innerlich bedroht durch auflösende, gegenstehende Mächte. Vollendet wird es nur im Christianum, das, vom Himmel absteigend, die Menschwerdung Gottes bringt, die selbst wieder den Schleier vor dem dreieinigen Gottesgeheimnis lüftet. Ohne die Menschwerdung des Sohnes im Schoße der Jungfrau, die Tat des Heiligen Geistes im Auftrag des Vaters, wüßten wir nicht, in welchem Verhältnis Geist und Leib nach dem Plane Gottes stehen sollen.
Christentum ist zunächst die Betonung der Eigenherrlichkeit des «Geistes» als Heiliger Geist, wie er dem Menschen als Gnade geschenkt wird und so seine innerweltliche Geistesmacht vollendet. «Geist» bedeutet die Freiheit, die Befreiung von der Sklaverei des «Fleisches» in jeder Form, vom eigenen leiblichen Fleisch bis zur Knechtschaft des fleischlichen Trachtens und Sinnens und schließlich zur ganzen einkerkernden Macht der «Welt» unter der Sünde, ihrer Begierlichkeit, ihrer Pracht, ihrer Verfallenheit und Verlorenheit, «Geist» ist Befreiung unseres Geistes zu Gott hin, Befähigung zu einer direkten, unmittelbaren Beziehung zum ewigen Geist Gottes, Eintritt in einen wahren Dialog mit ihm und noch mehr Hineingezogenwerden in den ewigen Dialog des innergöttlichen Geistes zwischen Vater und Sohn im Heiligen Geist. «Geist» ist also allererst die Erschließung der wahren Welt der Liebe, die das knechtliche Geschöpf aus sich selber kaum geahnt haben würde. Und in dieser Liebe ist er die Selbstverwirklichung des Menschen als «Geistmensch, der alles ermißt, aber von keinem ermessen wird», der in der Stille, im Hören der Kontemplation befähigt wird zur göttlichen Sendung und Aktion. Und abermals liegt in diesem Empfang der Sendung die Vollendung des Humanums, das seinen Sinn im objektiven, dienenden Leisten verwirklicht, und dieser Sinn erweist sich als Teilnahme am göttlichen Sinn selbst, da Gott sich selber trinitarisch aufbaut in der innergöttlichen Sendung des Sohnes aus dem Vater und des Geistes aus Vater und Sohn. Sendung aus der Kontemplation prägt das Letzte des menschlichen Geistes aus, in welcher dieser sich selber in seiner Einmaligkeit der Erwählung und Entscheidung verwirklicht durch Teilnahme an der Einmaligkeit Gottes. Dieses Menschenbild und seine vollkommene Bildung und Kultur fällt zusammen mit dem Bild, das Gott in sich selber vom Menschen hat, dem Urbild des Menschen, das nie ein anderes ist als das Bild eines Heiligen. Denn Heiligkeit ist Empfang und Verwirklichung der göttlichen Sendung in der Einheit von Dienst und Liebe.
Dieser Dienst kann sich nirgends entfalten als in der Solidarität der Heilsgemeinschaft, die die Kirche ist, die aber gegenüber der Welt nicht in sich geschlossen bleibt, sondern geöffnet zu allem, was an der Menschennatur teilhat. Denn christliche Sendung ist immer eine solche für die Gemeinschaft, Übernahme von Verantwortung für die Gemeinschaft und von Schuld der Gemeinschaft, nicht in der Überlegenheit des Besitzenden, sondern in der Demut des Berufenen, der seine Sendung von seiner Person wohl zu unterscheiden weiß. Und weil seine Sendung mehr ist als seine Person, darum kennt er die Liebe, in seiner Sendung seine Person zu vergessen und sie der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.
Und wenn der Leib das Kriterium des Geistes schon im Humanum überhaupt ist, so ist erst recht die Fleischwerdung des Wortes Gottes das durchgehende Kriterium des Christlichen. «Jeder Geist, der bekennt, daß Jesus Christus im Fleische gekommen ist, ist aus Gott. Der Geist aber, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott» (1 Joh 4,2-3). Denn «das Wort ist Fleisch geworden» (Joh 1,14), und somit das Unsichtbare sichtbar, und das Unsinnliche sinnlich, sinnenhaft, mit Sinnen zu fassen. «Was von Anfang war, was wir gehört und mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und mit unseren Händen betastet haben, das berichten wir vom Worte des Lebens.» (1 Joh 1,1-2). Christus im Fleische ist für den Menschen das Hier und Jetzt Gottes. Alle anderen Religionen, die einen Gott jenseits der Wolken suchen, bleiben theoretisch, abstrakt und mystisch. «Mystisch» in dem besondern Sinn, den das Wort durch die abendländische Tradition hindurch leider bekommen hat – so daß man zögert, es in einem Atemzug von der außerchristlichen Erfahrung des Numinosen und der christlichen Erfahrung des fleischgewordenen Wortes und der durch ihn nahegebrachten Geheimnisse Gottes zu gebrauchen –, mystisch also als unsinnlich, als unweltlich, als verneinend die konkrete Realität des Geschaffenen und zuletzt auch des göttlichen Seins. Es ist sehr bezeichnend, daß die biblische «Mystik» eine durchaus sinnliche und sinnengebundene ist: Was die Propheten schauen, was Johannes und Paulus erblicken sind Dinge, die dem Menschen als geist-leiblichem Wesen angemessen sind: Geistiges und Göttliches im Gefäß und in der Ausdruckssprache des Sinnlichen. Jeder, der dieser Mystik eine rein geistige, rein intellektuelle, wort- und sprachlose vorzieht, gehört zu denen, die nicht bekennen wollen, daß Jesus Christus im Fleische gekommen ist. Es sind dieselben, die nicht verstehen, daß auch die sublimste Mystik eine kirchliche sein muß, weil die Kirche der Leib Christi ist, und wir seine Glieder, und daß es außerhalb dieses Leib-Christi-Verhältnisses keine wahre Beziehung zu Gott gibt. Aber noch kann man nicht sagen, daß die Rolle des Leibes, die «Anwendung der Sinne» in den geistigsten Begegnungen mit Gott – auch innerhalb der christlichen Theologie – vollkommen anerkannt ist, so wenig wie die kirchliche und soziale Seite auch der höchsten Kontemplation des Geistes bisher genügend begriffen wurde.
Man kann die absolute geistige Wahl Gottes nur mit der eigenen ganzen Humanität vollziehen: im Geist und im Leib. Und so gibt es als vollkommene christliche Lebensformen nur zwei: die Hingabe des Leibes mitsamt dem Geiste im Sakrament der Ehe, das die Fleischwerdung Christi für seine Kirche und in seiner Kirche in Gnade nachbilden darf, und jene andere Lebensform, die in geschenkter, gnadenhafter Jungfräulichkeit des Geistes und des Leibes direkt in die Geheimnisse der Gattenschaft zwischen Christus und der Kirche hineingestellt wird. Unchristlich dagegen ist nicht nur jede Verachtung, Verleugnung, Spiritualisierung des Leibes, sondern auch jenes leiblose, ungeschlechtliche Leben, das so viel heutige Menschen führen, vergleichbar den geschlechtslosen Ameisen, und das kein fruchtbares, vollmenschliches, wirklich humanes Leben sein kann. Der Leib ist nichts Vorübergehendes, zu Überholendes, Abzustreifendes. Wir glauben an die Auferstehung des Fleisches. Wir wissen, daß nach dieser Vergänglichkeit nicht nur ein neuer Himmel, sondern auch eine neue Erde erwartet wird. Wir wissen, daß das Ende der Dinge die Vermählung des Lammes mit seiner Gattin, dem himmlischen Jerusalem sein wird (Offb 21,2). Die Philosophie des Humanums überhöht sich in einer Theologie der bleibenden Menschwerdung Gottes, innerhalb deren allein sich die «Vergöttlichung» des Menschen vollziehen darf. Alles andere ist die Versuchung der Schlange, «wie Gott zu sein», um in Schmach und Nacktheit zu fallen. Der nackte, strahlende und vergöttlichte Geist hat seine Herrlichkeit im strahlenden, verherrlichten Leib. Darin drückt sich aus, daß der Bund Gottes mit der Welt ein ewiger ist.
3.
Der Mensch verwirklicht sich selbst in der Leistung, die ihr Maß im Auftrag Gottes hat. Er ist Herrscher der Welt, indem er sich in seine Aufgabe verliert, wie ein Bauer, ein Arbeiter, ein Künstler. Zwischen dem homo faber und dem homo sapiens besteht kein Gegensatz, geschweige denn ein Widerspruch. Die größten «Geister» der Menschheit waren Arbeiter, vollkommene Handwerker. In der Demut des Handwerks erreichten sie die höchsten Gipfel menschlicher Leistung. Es ist jene Arbeit, die Gott im Zimmermanns-Handwerk gesamthaft geheiligt hat. Der Mensch nimmt das Maß der Dinge und gibt ihnen dabei sein Maß. In der genauen Richtigkeit sachlicher Einsicht, die den objektiven realen und idealen Gesetzen der Welt entspricht. So haben die Griechen gemessen und gezählt, die Ägypter, die Erbauer der Kathedralen, so hat Dante gemessen und gezählt, so Calderon und Bach und Shakespeare und Goethe. So wird es vollendet im höheren Reich der Gnade, wenn der Christ es dem Sohne nachspricht: «Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine». Und: «Ich bin nicht gekommen meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat». Im Begriff der Sendung sind Liebe und Leistung eins. Ob diese Leistung eine sichtbare oder unsichtbare, eine einfache oder überfließende ist, ist sie in der Liebe gewirkt, so ist sie vollkommen, und das Humanum ist eins geworden mit dem Christianum.
Nur ein falscher Tragizismus konnte den Gedanken aufbringen, daß zwischen beiden ein Riß und eine Unvereinbarkeit bestehe. So sehr wir Kierkegaards Leidenschaft für Gott ehren, so sehr müssen wir seine Mozartdeutung als im tiefsten unchristlich ablehnen, weil sie das Leibliche und Sinnliche dämonisiert und das Christliche entleibt und vereinsamt. Wäre Kierkegaard Katholik gewesen, so hätte er den Weg ins ersehnte Kloster gefunden. Als der beziehungslose Einzelne kann er ihn nicht finden und muß von seiner ausweglosen Situation aus die Humanität des Christentums leugnen. Die Frage, ob christliche Kunst möglich ist, ist sinnlos; höchstens kann die Frage erhoben werden, ob es nach Christus eine Kunst geben kann, die nicht christlich wäre. Die Frage, ob Genialität und Heiligkeit vereinbar seien, ist, christlich gesehen, ebenso sinnlos. Freilich: sind hier die Wege des Christentums schon bis zu Ende geschritten? Wirken nicht, durch alle christlichen Zeiten hindurch, Reste der Gnosis lähmend auf die christliche Verwirklichung ein? Kann die kirchliche Heiligkeit sich nicht noch viel tiefer als bisher in die weltlichen Bezüge einwurzeln lassen, kann die Menschwerdung nicht fortgesetzt werden, indem ihr neue Bezirke der Welt, des «Fleisches», der bildbaren Erde erschlossen werden? Das heißt nicht: Verhüllen des Kreuzes, des Opfers und des Todes. Sondern Hineintragen dieser Wirklichkeiten auch in den niedrigsten Alltag der Menschen, um konkreter, fruchtbarer zu leisten und zu realisieren. Wie wird uns zumute, wenn wir neben den Namen des Johannes den Namen Goethes stellen? Goethes, der den Geist verleiblichte und den Leib vergeistigte, der die Ideen im Individuellen zu lesen verstand und alles Einzelne als Ausdruck des Ewigen ernst zu nehmen uns lehrte? Weiß er nicht, in der Unzulänglichkeit des «Nur-Humanen», etwas vom Geheimnis des Liebesjüngers, der mit Augen sah und mit Ohren hörte und mit Händen betastete das Wort des Lebens? Geht vom einen zum andern kein Weg? Läßt sich die Welt des einen nicht in noch größerer Liebe öffnen zu der des andern, daß einbezogen werde in das Wort des Vaters auch die gesamthafte Schöpfung, die im Wort gezeugt ward? Denn in ihm und durch ihn und für ihn ist alles erschaffen (Kol 1,16); er, der Menschensohn, ist der Erste und Letzte (Offb 1,18).
ハンス・ウルス・ フォン・バルタザール
原語タイトル
Christlicher Humanismus
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ドイツ語
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Saint John Publications年:
2024種類:
論文