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Adrienne von Speyr – Gelebte Theologie
Hans Urs von Balthasar
Titre original
Adrienne von Speyr
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Fiche technique
Langue :
Allemand
Langue d’origine :
AllemandMaison d’édition :
Saint John PublicationsAnnée :
2022Genre :
Article
Über Adrienne von Speyr zu sprechen, ist fast ebenso schwierig wie der legendäre Versuch des heiligen Augustinus, das Meer mit einem Becher auszuschöpfen, oder unter einem Wasserfall stehend, das an einem herabrinnende Wasser aufzufangen. Aber die Schwierigkeit vermehrt sich noch, wenn wir angesichts ihres Lebens und ihres Werkes feststellen, dass sie selbst diesen unendlichen Überfluss göttlichen Lebens und göttlicher Wahrheit erfahren hat und es ihr trotzdem gelungen ist, diesem Überfluss in der Endlichkeit menschlicher Worte einen absolut klaren, sogar für jeden Glaubenden verständlichen Ausdruck zu verleihen. Sie hat Neues und wirklich Gelebtes ausgesagt über den dreieinigen Gott, über Christus, über die Kirche, über Maria und die einzelnen Heiligen, über das christliche Leben, Dinge, die in keiner Weise der kirchlichen Überlieferung widersprechen, aber zum Teil nie Beachtetes ins Licht stellen, und dies nicht in einem geschlossenen System, sondern so, dass wir zugleich mit der Klarheit ihres Wortes die strömende Unendlichkeit der göttlichen Wahrheit zu fühlen bekommen, sosehr, dass jeder Versuch, ihre theologischen Aussagen in ein überblickbares System zu bringen, notwendig immer scheitern wird.
Das hängt nicht nur am Wesen der göttlichen Wahrheit, die von unseren Begriffen nie eingefangen werden kann, sondern auch an der Eigenart der Wahrheitserfahrung Adriennes, die immer zugleich leibhaftige und geisthafte Erfahrung war, um von dort her den worthaften Ausdruck zu finden. Fast möchte man sagen: wenn in Christus das Wort Fleisch geworden ist, dann wird in Adrienne das Fleisch Wort, oder besser: das gnadenhafte Miterleben des leiblichen Menschen Christus, der das Wort Gottes ist, ermöglicht es, das im Fleisch, im ganzen Menschsein Jesu sich ausdrückende Wort aus dem Ursprung zu formulieren. Dass dazu die außergewöhnliche Gescheitheit dieser Frau eine Mitvoraussetzung für solches Gelingen war, soll nicht geleugnet werden, aber diese Gescheitheit war nur ein Werkzeug, dessen Gott sich bediente, damit sie die ihr gezeigten und von ihr miterfahrenen göttlichen Inhalte derart klar ins Wort zu heben vermochte.
Die besondere Gestalt ihres Charismas erklärt sich von hier aus: auf der einen Seite eine fast verwirrende Vielfalt von Einzelaspekten: da ein Buch über Maria, dort eines über die Beichte, dann wieder eines über die Passion des Herrn und insbesondere den Karsamstag, ein Werk über das Gebet der Heiligen, das sie ganz individuell in gegen dreihundert Einzelbildern schildert, Bücher über den Tod, über die Standeswahl, über die Sakramente, zahlreiche Kommentare über die Bücher der Heiligen Schrift von der Genesis bis zur Apokalypse, ein Werk über die Theologie der Geschlechter, zwei über den christlichen Gehorsam usf. Ergibt das auch nur halbwegs eine Einheit? Antwort: Ja, dem allem liegt eine ganz lauter-durchsichtige Einheit zugrunde, die wir in dieser Stunde aufzuzeigen versuchen wollen, wobei die Verzweigungen der Einheit in alle Einzelgebiete natürlich nur flüchtig angedeutet werden können.
Ich darf hier (wie in Klammer) beifügen, dass eine Anzahl ihrer mehr besonderen Themen sowie meine persönlichen Aufzeichnungen über ihre Lebensgeschichte seit ihrer Konversion und die einzelnen Erfahrungen besonders der Passion des Herrn noch unveröffentlicht sind, dass aber der Gesamtduktus ihrer gelebten Theologie aus den etwa fünfzig im Buchhandel erhältlichen Werken vollkommen deutlich wird. Meine Absicht beim Zurückhalten von ein paar Werken ist genau die, dass zunächst dieser für die christlichen Leser zentral wichtige Gesamtblick in Adriennes theologische Lebenslehre gewonnen und assimiliert, und nicht durch ein neugieriges Hinter-den-Spiegel-Blicken gestört und verhindert wird.
Noch ein zweites möchte ich den folgenden Ausführungen voraussenden. Man hat zuweilen die wirklich erstaunlichen und extremen Formen ihres christlichen Gehorsams ihrem Beichtvater gegenüber, der für sie der Vertreter der Kirche war, mit medialen, spiritistischen Phänomenen verglichen oder gleichgesetzt. Um ein für die Folge wichtiges Beispiel zu nehmen: es wurde dem Beichtvater die Vollmacht verliehen, Adrienne in frühere Jahre und Bewußtheitszustände ihres Leben zurückzuversetzen: sie sprach dann als Fünf- oder Zehnjährige oder als Medizinstudentin in ihrer damaligen Sprache; ich erörtere nicht, ob so etwas auch durch Hypnose (was es sicherlich nicht war) erreichbar wäre. Absolut zentral für diese und andere Phänomene bei ihr ist, was jeweils an theologischem Gehalt herauskam: Hier liegt das Kriterium ihrer Echtheit und ihrer christlichen Relevanz. In allen Erfahrungen Adriennes selbst und ihres Beichtvaters mit ihr kann als nie durchbrochener Grundsatz festgestellt werden: alles Psychologische stand immer restlos im werkzeuglichen Dienst der Theologie oder, wenn dieses Wort zu theoretisch klingt, im Dienst einer Fruchtbarkeit für das kirchliche Leben aller Christen. Die christliche Qualität entscheidet über die Echtheit ihrer Erfahrung.
Wir gliedern unsere kurze Darstellung in drei Teile: 1. einen vorbereitenden über die 38 Jahre der Suche nach der katholischen Wahrheit; 2. einen zentralen über die Grunderfahrungen ihrer katholischen Zeit, wobei zuerst mehr die Lehre, dann mehr die Praxis und die Frucht zu betrachten sein wird; 3. einen kurzen dritten, in dem einige scheinbare Randthemen als zur Mitte gehörig nachgewiesen werden.
1. Die Zeit der Suche und der Vorbereitung
Adrienne von Speyr (1902-1967) stammt aus einer alten Basler Familie – die Glocken des Münsters wurden von einem von Speyr gegossen –, ihr Vater war Augenarzt in La Chaux-de-Fonds, wo sie geboren wurde und aufwuchs. Die erste Jugend wurde durch die starke Abneigung der Mutter gegen das Kind geprägt, dem aber durch seinen Schutzengel, den es sieht, erklärt wird, wie es ihr zu begegnen hat, der es auch in Gebet und Buße einführt – es wird am Karfreitag immer schwer krank sein –, dann durch eine denkwürdige Begegnung des sechsjährigen Mädchens auf einer Stiege mit einem leicht hinkenden Mann, der, wie Adrienne sagt, vor allem Armut ausstrahlte, und der sie fragte, ob sie mit ihm kommen wolle. Es war der hl. Ignatius von Loyola, den sie später unzählige Male wiedersehen sollte. Sie schrieb in ein kleines Heft mit großen Buchstaben: «L’homme a dit viens. J’ai dit non. J’ai pensé oui. Maintenant… je viens.» Die Mutter findet das Heftchen und hat es unter Tränen der Wut zerrissen: «c’est terrible cette petite est déjà si… Das Wort habe ich nicht verstanden.» Ihr protestantischer mit stark antikatholischen Akzenten vorgetragener Religionsunterricht erschien ihr ungenügend, und nun begann die jahrzehntelange Suche nach der Wahrheit. In der Schule verfaßt sie einen Aufsatz über «Die Vorurteile»: «Daß man uns von den andern Religionen nicht reden will, damit wir mit Scheuklappen versehen bleiben. Die Scheuklappen sind das, was sie im (Neuen) Testament alles auslassen.» Sie zeigt den Aufsatz dem Vater, der dazu bemerkt, «es sei vieles darin, was ganz katholisch sei».
Ihre Suche geht nicht ins Leere, sie hat ganz deutlich zwei Ziele. Über die Sonntagsschule und den dortigen Unterricht sagt sie: Alle die Geschichten, die man uns dort erzählt, sind so traurig, «es fehlt die Mutter, sie sind sozusagen Waisenkinder». Ein zurückgekehrter Missionar erklärte ihr, es gäbe in den Missionen auch die Frauen der Missionare und die Lehrerinnen. Sie erklärt dazu: «Offenbar hatte der Mann nichts begriffen.» Erst eine Marienvision der Fünfzehnjährigen, die sie schildert – «ich schaute wie in einem wortlosen Gebet und staunte vor Bewunderung, nie hatte ich etwas so Schönes gesehen, ich war in keiner Weise erschrocken, vielmehr von einer neuen, starken und sehr sanften Freude erfüllt» – klärte sie auf, wer die ihr fehlende Mutter war; sie hat nach ihrer Konversion einen dauernden, unglaublich selbstverständlichen Umgang mit Maria gehabt, zugleich trug sie von jener ersten Vision an eine Herzwunde, die sich nicht mehr schloß und ihr das Gefühl gab, sie sei auch leiblich für etwas gezeichnet, was sie damals als Protestantin noch nicht definieren konnte.
Das zweite, wonach sie mit einer Art verzweifelter Rage suchte, war die Beichte. Sie ging in alle möglichen Sektenveranstaltungen, wo Menschen ihre Sünden öffentlich bekannten und kam enttäuscht zurück. Ebenso wurde sie später von den Sündenbekenntnissen der sogenannten Oxfordbewegung in Caux am Genfersee abgestoßen. Die Suche ging mit Leidenschaft durch alle Jahrzehnte bis 1940 weiter. «Immer nur an diese Beichte denken müssen!» «Könnte ich nicht probeweise bei Dir beichten?» In der Schule hatte sie einmal, einen katholischen Mitschüler mißverstehend, versucht, jedermann um Verzeihung zu bitten, was natürlich zu nichts führte. Noch als Ärztin, nach dem Tod ihres ersten Mannes, den sie sehr geliebt hatte, gesteht sie mir ihre Müdigkeit, das Aussichtslose ihrer Suche: «Ich bin wie ein Reservewagen, auf einem Nebengeleise. Und ich möchte beichten. Ich möchte zu denen gehören, die in der wirklichen Kirche des Herrn sein dürfen.» Erst ihre Konversion vier Jahre später wird ihr das Ersehnte endlich gewähren: was sie sozusagen wie im Hohlraum gesucht hatte, war die amtliche Vollmacht der Sündenvergebung.
Ihre Suche nach dem in ihrem Protestantismus so bitter Fehlenden ging also nach zwei Richtungen: einmal auf die Mutter, auf Maria, anderseits auf das apostolische Amt, man kann sagen: auf Petrus. Und dieses beides nicht um seiner selbst willen, sondern um Ganzheit und Fülle der Kirche dessen zu finden, zu dem sie seit ihrer frühesten Jugend innig gebetet hatte, Christi. Von früh auf war sie entschlossen, ihr Leben in seinen Dienst zu stellen. Ihr Vater als Augenarzt war da für seine Patienten. Sie faßte den festen Entschluß, Ärztin zu werden, und zwar ganz bewußt, um Gott in den Menschen zu dienen. Sie hat ihren Weg durch das Medizinstudium gegen den härtesten Widerstand ihrer Familie, die ihr dafür keinen Pfennig gab, durchgestiert, durch nächtliches Stundengeben und Arbeiten, unter zahlreichen, meist bitteren Abenteuern, die sie in ihrer Lebensgeschichte beschreibt. Ein großes Opfer war noch zu bringen; die über alles geliebte Musik, sie mußte bei ihrem Lehrer täglich drei Stunden üben, sah dann ein, daß sie das mit dem Medizinstudium zusammen nicht schaffen konnte, und gab die Musik, ausdrücklich als Opfer an Gott, auf. Zwei Jahre nach der Konversion wußte sie beim Beten in einer Wallfahrtskirche, daß sie auch das Letzte, ihren geliebten Beruf, noch werde aufgeben müssen. «C’est en ordre», sagte sie beim Verlassen der Kirche, «man habe allerdings fest reißen müssen. Das sei das Letzte, was sie noch an die Welt gefesselt habe: das Gefühl, irdisch etwas zu können und zu leisten. Aber jetzt sei das aufgegeben, bzw. es werde aufgegeben werden, sie wisse noch nicht genau, wann.» Ihre Sprechstunde war immer überfüllt, meist von Menschen, die unter dem Vorwand eines leiblichen Gebrechens kamen, in Wirklichkeit aber geistige Probleme auf dem Herzen hatten, Ehefragen, religiöse Probleme, die Adrienne mit ihnen besprach, viele Hunderte von Kindern wurden durch ihr Zureden dennoch auf die Welt gesetzt. Aber Krankheit nahm zuletzt sosehr überhand, daß die Praxis aufgegeben werden mußte.
Noch ist ein Wort notwendig über die beiden Ehen, die Adrienne als Protestantin einging und die sie vor ein einstweilen unlösliches Problem stellten. Sie heiratete das erstemal rein aus Mitleid den Ordinarius für Geschichte in Basel, Witwer mit zwei kleinen Knaben, sie gewann ihn menschlich sehr lieb, das Geschlechtliche blieb ihr ein Problem, weil sie sich körperlich für etwas anderes prädestiniert fühlte, aber von einem Gelübde der Jungfräulichkeit nichts ahnte; rein faktisches Unverheiratetsein, etwa der Diakonissen, sagte ihr nichts. Die zweite Ehe nach ihres Gatten tragischem Tod war nochmals eine solche aus Mitleid. Sie wurde nicht vollzogen und Adrienne konnte nach ihrer Konversion durchaus nach den evangelischen Räten leben. Höchste Armut hatte sie schon lange kennengelernt, strikten Gehorsam gegenüber dem Willen des Himmels, der jetzt kirchliche Form annahm, lange geübt. Buße war das Signet ihres ganzen Lebens, und ihr Beichtvater hatte, nachdem sie die katholische Möglichkeit der Stellvertretung für die Sünder kennengelernt hatte, immer wieder ihren rastlosen Bußeifer zu mäßigen. Damit sind wir schon in den Bannkreis der zweiten, katholischen Epoche eingetreten.
2. Die Zeit der Entfaltung: theologische Erfahrung und deren Formulierung, die kirchlichen Aufträge
1940 an Allerheiligen wurde Adrienne in die Kirche aufgenommen, und kurz darauf begannen sich alle Formen theologischer Erfahrungen fast sturzbachartig zu entfalten (ich vermeide absichtlich das vieldeutige Wort Mystik). Im Zentrum standen zunächst die Passionserfahrungen, vorbereitet durch ein strenges Examen: ob sie wirklich auf alles zu verzichten bereit sei, jede Einzelheit wurde ihr vorgeführt und sie sage ihr Jawort dazu. Dann begann das sie zu überwältigen, was Johannes vom Kreuz als «Dunkle Nacht des Geistes» beschreibt, und was richtiger als ein Geschenk des Herrn benannt wird: ihm beim Tragen der Weltsünde bis in die äußerste Überforderung der menschlichen Kräfte, bis zur vollkommenen Gottverlassenheit zu folgen. Die Passionszeit wurde zu einer absoluten physischen Folter, aber sie sagte nachher, die Nägel, die Dornenkrone, die Geißelung und die Verrenkung am Kreuz seien, als rein körperliche Leiden, nicht zu vergleichen mit der seelischen Folter durch die Weltsünde im Verschwundensein des Vaters. Eine immerwährende Dialektik kennzeichnete diese Passion bis zum Tod am Karfreitag: einerseits leidet man, ohne auf sich zu reflektieren, was der Herr leidet, anderseits wird man von diesem Leiden zurückgeworfen auf den Gedanken: an alldem sind wir – und das Wir ist schließlich nur noch ein Ich – schuld. Ich selbst, der sie in diese Folter hinein zu stärken hatte, dachte, am Nachmittag des Karfreitags, da sie wie tot im Sessel lag und noch einmal beim Lanzenstich aufzuckte, würde das Leiden zu Ende sein. Ich täuschte mich, denn nunmehr folgte eine ganz andere Erfahrung, die des Karsamstags, die bis zum Ostermorgen dauerte und über die im dritten Teil etwas gesagt werden soll.
Ostern aber wurde zur Erfahrung, daß stellvertretendes Leiden sinnvoll ist und nützt, gerade dann, wenn der Leidende nicht den geringsten Sinn und Nutzen mehr wahrnehmen kann und nur noch das große «Warum?» des Kreuzes kennt und die Überforderung aller Kräfte, die in den folgenden Jahren Adrienne mehrfach bewog, mir, wie sie sagte, zu «kündigen»: es gehe einfach nicht mehr. Hier war die kirchliche Hilfe unentbehrlich, die helfen mußte, in der Finsternis und Vergeblichkeit auszuharren. Es gab, wie zur Kompensation, aber auch die Zeiten, die sie in der Communio Sanctorum im Himmel verbringen durfte, mit einer fröhlichen Selbstverständlichkeit, die sie die ihr bekannten oder unbekannten Heiligen nicht in ehrfürchtiger Distanz, sondern wie Brüder und Schwestern behandeln ließ. Man kann ihre vertraute Nähe zur Mutter des Herrn wohl am besten aus ihrem Marienbuch ersehen. Hier wäre ein Wort über Adriennes Wesensart einzuschalten: sie war ein von Grund auf fröhlicher, zu vielen unschuldigen Späßen aufgelegter Mensch, aber auch von einem fast verwegenen Mut, so daß ihr die auferlegte abgründige Angst in den Leidenszuständen als etwas völlig Fremdes vorkam. Sie war wie der Junge, der im Märchen auszieht, um das Fürchten zu lernen. Der eigentliche Freund und Vertraute, von dem man aber nie genau wußte, was für Tricks er vorhatte, war Ignatius von Loyola.
Dieser kam eines Nachts und brachte den Evangelisten Johannes mit sich, der das kleine französische Neue Testament auf Adriennes Nachttisch ergriff und anfing, die ersten Verse seines Evangeliums zu erklären. Damit begannen die jahrelangen Diktate, in denen Adrienne mir am Tag beschrieb, was sie in der Nacht erfahren hatte. Zuweilen drängte sie: «Wir sind schon vier Kapitel weiter…» Aber im Moment ihres Diktierens war ihr alles wieder vollkommen gegenwärtig. Die ersten Anfänge waren für sie schwierig, so bestand sie zunächst darauf, meine Nachschriften durchzusehen, oder sie ergänzte manches, den Prolog wollte sie nochmals neu diktieren. Später gewann sie solche Übung, daß sie sich um meine Stenogramme nicht mehr kümmerte: das alles gehört der Kirche, oft vergaß sie völlig, daß sie das Thema eines Buches schon einmal behandelt hatte. «Wir sollten ein Buch über den Gehorsam schreiben», sagte sie etwa, und ich mußte ihr sagen: das haben Sie ja schon getan. Später, als sie das Johannesevangelium fertig diktiert hatte, geschah während Exerzitien das Unerwartete, daß sie, ohne zu wissen, was los war, mitten in die Visionen der Apokalypse geworfen wurde, die Visionsbilder genau beschrieb und auslegte, erst vom 12. zum 20., dann vom 1. zum 11. Kapitel und zuletzt die beiden Schlußkapitel über das himmlische Jerusalem. Jedermann kann diese Bücher selber kaufen und lesen und sich ein Urteil bilden, wie belangvoll ihr Inhalt ist. Es kamen dann zahlreiche andere Bücher hinzu: Paulusbriefe, Petrus und Jakobus und manche Stücke aus dem Alten Testament.
Aber damit ist das Wesentlichste noch nicht gesagt. Warum hat Ignatius den Liebesjünger gebracht? Welche Stellung hat dieser in der Theologie und Spiritualität Adriennes? Zwei Dinge sind hier zu sagen.
Einmal daß die ignatianische Indifferenz (oder «Bereitschaft zu allem»), die von ihm geforderte Grundhaltung des Christen bei Johannes ausdrücklich als die Grundhaltung Christi dem Vater gegenüber geschildert wird, und Ignatius damit in Johannes seinen zur ganzen Fülle der Offenbarung ausgeweiteten Hintergrund findet. Der ignatianische Gehorsam ist Nachfolge der Bereitschaft des Sohnes, Johannes öffnet dadurch einerseits die Sicht zur Trinität empor, anderseits die Deutung des christlich-kirchlichen Gehorsams als Ausdruck der Liebe. Man lese nur die «Abschiedsreden».
Dann aber ist Johannes in der Heilsgeschichte jener vom Herrn geliebte Jünger – sozusagen die vollkommene Gesellschaft Jesu – dem am Kreuz die Mutter anvertraut wird, damit er sie in das Seine aufnehme, in die sichtbare Kirche hinein, deren tiefste Mitte als die Ecclesia immaculata (Eph 5,27) sie fortan sein wird. Aber die vom Gekreuzigten begründete Urzelle der lebendigen Kirche ist ein jungfräuliches Zueinander von Mutter und Sohn, von Frau und Mann, wie dann alles, was in der Kirche sakramentale Ehe sein wird, an der ursprünglichen Jungfräulichkeit der Liebe Christus-Kirche, Johannes-Maria sein Urbild der Liebe haben wird. Johannes ist aber auch der, welcher schon im ersten Kapitel seines Evangeliums Petrus als den Fels bezeichnet werden läßt, und dessen ganze Botschaft erstaunlicherweise in eine Verherrlichung Petri, des ins Amt Eingesetzten, mündet. Ihm wird der Vortritt am Grab gelassen, ihm wird die größere Liebe abverlangt, ihm wird die Kreuzigung verheißen, alles dies, damit er, der Vertreter des Amtes, auch der wahre Nachfolger des Guten Hirten sein kann, der sein Leben hingibt für seine Schafe. Das ist das Urbild neutestamentlichen Priestertums. Zu Beginn der Apostelgeschichte treten Petrus und Johannes zusammen als die eigentlichen Vertreter der Kirche auf. Johannes ist die heimliche und gleichsam verschwindende Mitte und Vermittlung zwischen Maria als dem Urbild der wahrhaft heiligen Kirche und Petrus als dem unverzichtbaren Vertreter ihrer sichtbaren Einheit. Aber Johannes ist nicht nur mit Maria und Petrus befaßt, sondern zentral der tiefste Deuter Jesu Christi, dem Mittler zwischen der trinitarischen und der kirchlichen Einheit: «damit alle eins seien, wie wir eins sind», betet der Sohn zum Vater. Und die der Kirche geschenkte Einheit ist das trinitarische Geschenk: der Heilige Geist Gottes, der die Kirche auf Gott hin durchsichtig werden läßt.
Nun verstehen wir wohl besser, weshalb Adrienne so ruhelos nach der Beichte gesucht hat. Beichte meint den Willen zur vollen Durchsichtigkeit zu Gott und zur Kirche, anders gesagt, die Bereitschaft, nichts zu verbergen, alles vor Gott offenzulegen. Deshalb wird Adrienne – wenn es ihr gegeben werden wird, das Gebet der Heiligen und anderer Menschen durch die ganze Kirchengeschichte hindurch, deren Haltung vor Gott zu sehen – immer von mehr oder weniger vollkommener Beichthaltung sprechen. Wie weit ist dieser oder jener Heilige bereit gewesen, auch zum Unerwartetsten, zum Demütigsten, Schwersten sein schlichtes Ja zu sprechen? Oder wird er irgendwo haltmachen, weil ihm scheint, daß Gott nicht mehr von ihm verlangen kann? Natürlich hat Maria die schlechthin vollkommene Beichthaltung. Aber Adrienne hat Einzelne gesehen, die ihr in dieser Haltung sehr nahekommen. Ich nenne ein paar Namen: Hildegard, die beiden Mechtilden, Jeanne de Chantal, Mary Ward, Bernadette. Viele andere könnten genannt werden. Das ganze Charisma, das Einsicht in die Gebetshaltung der jetzt im Himmel Weilenden gibt, ist aber auch wie eine letzte Verherrlichung der liebenden Demut: man ist sogar im Himmel bereit, zu seinen irdischen Fehlern zu stehen. Man hat ja dort nichts mehr zu verbergen.
Damit sind wir ja schon unvermerkt von der Theorie zur Praxis übergegangen, die bei Adrienne überhaupt nie voneinander trennbar sind. Immer sind es bei ihr Gebets-, Leidens-, christliche Lebenserfahrungen, die Anlaß zur theologischen Einsicht werden. So dringt sie auf den Grund christlicher Gebetserfahrung in dem unerhörten ersten Kapitel ihres Buches «Welt des Gebetes», worin der Ursprung alles wahren Gebetes zugleich kühn und vorsichtig ins trinitarische Geheimnis zurückverfolgt wird. Warum sollte Gott nicht Gott anbeten? Warum sollte ein dreieiniger Beschluß nicht ein unendlich geheimnisvolles Ineinandergehen der Standorte von Vater, Sohn und Geist sein, warum sollte nicht eine Bitte (kein Befehl) des Vaters an den Sohn ergehen, durch seine Selbsthingabe die Welt mit ihrer Tragik zu ermöglichen, und eine ebensolche Bitte des Sohnes an den Vater, über ihn nach seinem Gutdünken zu verfügen, und eine Bitte des Geistes an beide, den Weltplan zu verwirklichen? Warum sollte in dieser unendlichen Lebendigkeit Gottes, der für sich selbst jeden ewigen Augenblick neu ist, nicht Raum sein für ewiges gegenseitiges Lob, ewigen Dank, ewige Überschwenglichkeit, sagen wir menschlich: Überraschung? Es kann keine Gewöhnung Gottes an Gott geben, alles ist ewig strömendes Leben, das Gegenteil eines festgenagelten Nunc stans. Daher werden auch die Seligen nie mit der Durchforschung der Tiefen Gottes (wie Paulus sagt) an ein Ende kommen, und so kann es im ewigen Leben keinerlei Langeweile geben.
Wir können nicht alle Glaubensgeheimnisse durchgehen, in die Adrienne experimentell eingeführt wurde, etwa die Menschwerdung des Sohnes, die Schwangerschaft der Mutter, wobei (nach der Apokalypse) die alttestamentlichen Messiaswehen nicht abwesend sind, und erst im letzten Moment der Geburt der Überschritt zum neutestamentlichen Wunder der Jungfräulichkeit sich ereignet, die Mysterien des Lebens Jesu, und immer wieder deren Höhepunkt: Leiden, Karsamstag, Ostern. Vor den großen Festen meist eine qualvolle Vigil: vor der Himmelfahrt etwa wird alles sichtbar, was in der Menschheit diese Rückkehr des Sohnes zum Vater verhindern oder nicht wahrhaben möchte. Ferner wurde Adrienne – sie weiß nicht wie – ganz real durch die ganze Welt geführt und mußte an den Zuständen einzelner Menschen innerlich teilnehmen. Vergessen wir nicht, daß es die schrecklichsten Kriegsjahre waren, in denen sie solche «Reisen», wie sie es nannte, zu machen hatte. Es wurden ihr die entsetzlichsten Greuel gezeigt, an denen sie innerlich Anteil nehmen mußte und die sie mir im einzelnen schildern konnte, etwa ein Kloster in Norwegen, in das Nazis alle Patres einschlossen, um es dann anzuzünden, sie mußte mit den Verbrennenden brennen und dabei durch ihr Mitbrennen den Verzweifelten Mut einflößen. Unzähligemale wurde sie in Beichtstühle geführt – «es war eine alte muffige Kirche, ich denke in Südfrankreich» –, um einem Sünder zu helfen, wirklich alles zu sagen. Vieles konnte ich aufzeichnen, das meiste sicher bleibt unbekannt, weil es zuviel war, weil ich oft von Basel zu Kursen abwesend war und nicht alles nachgeholt werden konnte.
Nun das Letzte, was die Praxis betrifft. Schon ganz kurz nach der Konversion erhielt sie den Auftrag, sich um die jungen Mädchen zu kümmern (ich war damals Studentenpfarrer und sie konnte als Ärztin und Professorengattin bei den Studentinnen Vorträge halten), der Auftrag wurde drängender: sie sollte sie einladen, ihnen das vollkommene christliche Leben, das Leben in den evangelischen Räten nahelegen. Ich meinerseits gab ausgewählte Studentenexerzitien, Adrienne war im Geist dabei, kannte die einzelnen aus der Ferne, gab Ratschläge: der oder jener wäre zum Priester, zum Ordensleben bestimmt. Es wuchs langsam so etwas wie ein Säkularinsitut, lange bevor Pius XII. sein Statut für diese kirchliche Lebensart, die Laienberuf und evangelische Räte verbindet, 1947 erlassen hatte. Adrienne arbeitete im Geist die Lebensweise der Mitglieder genau aus, mit der Zeit – als sich die Durchführung des Plans innerhalb der Gesellschaft Jesu als unmöglich erwies und ich sie deshalb verlassen musste – präzisierte sich der Plan: das Ganze sollte natürlich Johannesgemeinschaft heißen und einen priesterlichen Zweig, einen zweiten für Frauen und einen dritten für Männer enthalten. Das Werk, das an der Theologie und der Praxis der Gründerin eine fast unerschöpfliche Nahrung finden kann, ist noch immer im Aufbau, aber es ist ihm eine schöne Zukunft verheißen. Ich werde demnächst in einem kleinen Buch Näheres darüber ausführen, so daß wir uns jetzt nicht länger dabei aufhalten müssen. Es bleibt aber noch in dem angekündigten dritten Teil etwas über besondere Aspekte von Adriennes Charisma zu sagen, die in der kirchlichen Theologie bedeutsame Neuüberlegungen auslösen könnten. Über sie ist mit besonderer Behutsamkeit zu reden, da die Kirche sich über dieses Charisma noch nicht offiziell ausgesprochen hat.
3. Besondere Charismen
Über gewisse außergewöhnliche Charismen ist übrigens schon gesprochen worden, zum Beispiel über den Einblick in das persönliche Gebet und Gottesverhältnis vieler Heiliger oder über das Nacherleben der apokalyptischen Visionen, das so exakt war, daß Adrienne mir zum Beispiel genau schildern konnte, wie das zweite apokalyptische Tier sieben Köpfe und auf seinen Hörnern zehn Kronen trägt. Durch ihre Schau dürfte jede Hypothese ausgeschlossen sein, daß die Visionen des Sehers auf Patmos nicht wirklich stattgefunden haben und bloße literarische Fiktionen sind. Wir können hier eine allgemeine Bemerkung über Visionen anschließen. Durch den gewaltigen Einfluß des Neuplatonismus und seiner Entmaterialisierungs- und Vergeistigungstendenz auf die christliche Spiritualität kam in dieser die Meinung auf, je weniger eine Vision von sinnenhaften Bildern und Erfahrungen begleitet sei, desto höher sei sie einzustufen. Diese Wertung ist, wo sie zu einem allgemein geltenden Grundsatz gemacht wird, einfachhin falsch und widerspricht der ganzen inkarnatorischen Tendenz des Christentums, in welchem Gott in seinem Sohn Fleisch annimmt, in sinnenhaften Bildern und Taten zu uns spricht, leibhaftig am Kreuz leidet, leibhaftig aufersteht, sein Fleisch und Blut an die Gläubigen eucharistisch verschenkt, die Auferstehung der Toten in Aussicht stellt. Das Fleisch wird verklärt, es wird nicht aufgehoben. Adriennes ganze Spiritualität hat einen betont inkarnatorischen Charakter, was etwa in ihrem Ehebuch sehr deutlich wird, wo sie mit zugleich ärztlicher und theologischer Präzision das Verhältnis von Mann und Frau festlegt.
Doch kommen wir nunmehr abschließend auf ihre Karsamstagserfahrung zu sprechen. In der kirchlichen Tradition stehen zwei Bilder einander gegenüber: das der Ostkirche, worin Christus als Sieger die Tore der Unterwelt zerbricht und den in ihr Gefangenen die Hand reicht, um sie dem Tod zu entreißen und sie ins ewige Leben hinüberzufahren. Alte orientalische Predigten und zahllose Ikonen geben diesen Vorgang wider. In der Westkirche dagegen überwiegt die Vorstellung, daß der begrabene Jesus ein Toter unter Toten ist, und daß die Kirche mit den heiligen Frauen zusammen an seinem Grab zu wachen hat, bis am Ostermorgen der Stein weggewälzt wird. Lassen sich diese Bilder vereinen? Gegen das ostkirchliche Bild ist einzuwenden, daß diese Siegesfahrt Jesu in die Unterwelt eigentlich ein Osterbild ist: das Leben dringt in die Welt des Todes ein. Gegen das westkirchliche Bild ist einzuwenden, daß der Karsamstag imgrunde ereignislos bleibt, es geschieht nichts. Das Alleluja ist mit Recht verstummt, die Osterfeier beginnt erst in der Nacht auf den Sonntag. In dem, was Adrienne jedes Jahr am Karsamstag erlebt hat, zeigt sich eine ganz unerwartete Einigung beider Theologien. Jesus ist am Karsamstag wirklich tot, und sein Zustand wird in dem von den Psalmen beschriebenen Zustand der Scheol, der Unterwelt, wo es kein natürliches und übernatürliches Leben, keinen Glauben, kein Hoffen, keine Liebe, kein Gotteslob mehr gibt, genau wiedergegeben. Adrienne war in diesem Zustand von jedem lebendigen Kontakt mit den Menschen abgeschnitten, oft erkannte sie mich überhaupt nicht mehr. Es gab für sie kaum noch eine lebendige Gedankenfolge, auch die Gedanken zerfielen in sinnlose unzusammenhängende Teile, es gab nur noch eine wie ein Totengerippe klappernde formale Logik. Sehr bezeichnend für diese Scheolerfahrung ist eine Stelle aus einem Brief Adriennes an mich, rückblickend auf das Erlebte: «Es tut mir leid, daß ich nicht besser berichten kann, aber es ist eben auch für mich ganz unübersichtlich, so en dehors de tout chemin tracé… Bis vor wenigen Monaten kannte ich meine eigenen Sünden und diejenigen der andern als zwei ganz getrennte Begriffe… Durch meinen Unterricht bei Ihnen… eröffneten sich ganz andere Perspektiven: ich sah plötzlich…, daß in mir eine Anlage und manchmal auch ein Verlangen zu jeder Sünde vorhanden ist, und daß, wenn es an mir gelegen wäre, ich die unglaublichsten Dinge de sang froid begangen hätte; es rückte alles in ein anderes Licht; vieles was bisher im Zwielicht oder im Dunkeln gelegen hatte, bekam ungeheuerliche Konturen: meine eigenen Möglichkeiten zur Sünde waren eben und sind heute noch unbegrenzt… (Diese Einsicht) währte vielleicht eine Zeitlang, dann verloren vielleicht meine persönlichen Sünden an eigener Wichtigkeit, das heißt: der Schwerpunkt wurde verlegt: sie bekamen ihr Gesicht mehr durch das Teilhaben an der allgemeinen menschlichen Sünde überhaupt… Meine Hauptsünde besteht vielleicht in dieser aktiven Teilnahme an der Gesamtsumme; an und für sich wäre das wiederum beinahe nicht zu überwinden – eine grauenvolle Erkenntnis – wenn sich nicht das Tragendürfen an der Sünde aller daraus ergeben würde… Dies habe ich Ihnen so genau geschildert, um das Erlebnis des Karsamstags besser verständlich zu machen. Das Schrecklichste war wohl das Ausgelöschtsein des Kontakts zwischen mir und den Menschen, damit auch das Nichtbestehen der Beteiligung, irgendeines gefühlten, geschweige denn gewollten Tragens oder Helfens.» Sie erkennen das Thema des Beichtbuches wieder: Karfreitag am Kreuz ist das vollkommene Tragen der Weltsünde vor Gott, die absolute Beichte, wofür der Vater dem Sohn an Ostern die absolute Lossprechung für die Welt gibt. Und nun dazwischen diesen Abbruch des Tragenkönnens, weil nur ein Lebendiger für den andern tragen kann. Jesus erlebt als ein Toter die Todeswelt.
Und doch: war nicht sein Sterben seine lebendigste Tat der Liebe für uns, war nicht seine Gottverlassenheit der Erweis dieses größten Liebesgehorsams an den Vater? Und was kann sein wirkliches Totsein anderes sein als die äußerste Form dieses selben Liebesgehorsams, um das Wort Franz von Assisis zu gebrauchen: Leichen-, Kadavergehorsam? Freiwillig will er auch diese letzte Gestalt des sündigen Menschseins miterleben, damit ihm nichts Menschliches mehr fremd sei. Was aber ist diese Hölle, in der er weilt? Hier Adriennes äußerste Aussagen: sie ist das, was das Werk des Kreuzes vom Menschen wegzutrennen vermocht hat, was Gott von ihm weg verdammt hat, um ihn, den lebendigen Menschen, davon zu erlösen, es ist das, womit Gott sich in Ewigkeit nicht versöhnen kann, weil es das Widergöttliche schlechthin ist, eine Wirklichkeit – denn die Sünde ist etwas Reales –, die aus der guten Schöpfung Gottes für immer ins Chaos hinausverwiesen ist, das Babylon, das sich in der Apokalypse ewig selber verzehrt und dessen Rauch die Könige der Erde von ferne aufsteigen sehen. Adrienne erlebte diese wegverdammte Sünde als eine Art stinkender Kloake, worin sie nie einen Menschen antraf, sondern nur das, was sie Effigien nannte: gleichsam die Abdrücke der Menschen, die diese Sünde begangen hatten und jetzt davon befreit waren. Und nun das Paradox: diese Kloake ist genau das Ergebnis des Kreuzes, genau die objektive Siegestrophäe Christi, der aber als der Tote, der er jetzt ist, dies subjektiv nicht wissen kann. Der christliche Osten hat objektiv, der christliche Westen hat subjektiv recht.
Man beachte nur, daß Adrienne aus dieser Erfahrung nie eine Folgerung gezogen hat, die in die souveränen Rechte des Weltenrichters eingegriffen hätte: die Folgerung, daß alle Menschen notwendig erlöst sein müssen. Man kann aber sagen, daß sie die Realität der Hölle in den Rahmen der Christologie gestellt und sie in einer einzigartigen Nachfolge Christi unendlich tiefer erlebt und ernster genommen hat als die meisten heutigen Christen, ob sie Theologen sind oder nicht.
Was sie, gleichsam abschließend, gesehen hat, schildert sie in ihrem Traktat über das Fegfeuer. Das Fegfeuer ist das Ergebnis des Karsamstags: erst hier öffnet sich aus der Hoffnungslosigkeit des alttestamentlichen Totseins eine Tür, die durch ein geistig läuterndes Feuer zu Gott, zum Himmel hin führt. Sie hat öfter Seelen gesehen, die sich zunächst ganz von Gott abgewendet hatten, aber später, als ein bestimmtes Leiden Adriennes durchgelitten worden war, sich entschlossen, ins Feuer zu gehen und sich von ihm läutern zu lassen. Dieses Feuer ist nichts anderes als das Feuer der verzehrenden Liebe Gottes, worin der Mensch, mit dem Blick auf Christus, zuinnerst lernen muß, was die Liebe in Wahrheit ist. Adrienne schließt ihre Beschreibung des Fegfeuers mit einem Gedanken, mit dem wir schließen wollen: in dem Augenblick, da der Mensch nur noch bedenkt, was die Sünde Gott in seinem Sohn an Leiden zufügt, wo es nicht mehr darauf ankommt, ob es meine eigene Sünde ist oder die eines andern, wo man bereit wäre, für die Sünde der Welt solange zu leiden, als es für den Gekreuzigten, mit dem Gekreuzigten nötig wäre, ist die Liebe im Menschen vollkommen geworden und das Tor des Himmels geht auf.
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