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Institution: geflohen und gesucht
In zehn Jahren hat sich das Verhältnis der jüngeren Christen zur Kirche stark gewandelt. Zu Beginn war das Interesse an einem transzendenten Gott gering; die Hoffnungen konzentrierten sich auf eine Kirche, die im Zug der Veränderung der Gesellschaft als der Sauerteig einer dauernden kritischen Instanz dienen könnte. Am Ende enthüllt sich eine neue Suche nach dem Ursprung, nach Gott, und auch nach einer Gemeinschaft unmittelbar im Ursprung und aus ihm, von der her die einzig wirksame Veränderung der Gesellschaft erhofft wird; dabei ist das Institutionelle an der Kirche, soweit es quasi-impersonale Züge trägt, entweder das achtlos Liegengelassene und sorgfältig Umgangene oder das geradezu als gefährlichste Verfremdung des Ursprungs Angeprangerte. Es ist die erstarrte Form des Lebendigen, Starrkrampf oder schon Abgestorbensein; im ersten Fall würde allenfalls eine Verflüssigung ins Personale helfen, im zweiten nur ein stilles Begräbnis. Blickt man von heute auf die Situation der sechziger Jahre zurück, so steigt einem der Verdacht auf, daß die damals auf die Kirche als gesellschaftskritische Instanz gesetzten Hoffnungen bereits mit einem Institutionsbegriff gearbeitet haben, der sich rein soziologisch verstand, deshalb vom theologischen Verständnis und dem handelnden Vollzug der Kirche auch nicht gedeckt werden konnte und notwendig der Kritik der heutigen Generation zum Opfer fiel.
«Institution», angewendet auf das lebendige Erbe Jesu von Nazareth – dessen große Sehnsucht war, das Feuer, das er auf die Erde zu werfen gekommen war, möge fortlodern – erscheint als ein einziges großes Mißverständnis, und zwar je weiter die Kirchengeschichte dauert, desto mehr. Was im Mittelalter als irgendwie lebendige (wenn auch problematische) Gestalt gelten konnte, verhärtet sich in der Gegenreform, wird in der Gegenwart, die hinter die Machbarkeit von Institution geblickt hat, vollends fragwürdig. Für einen ganzen Sektor der Reformation ist die in der Catholica gewachsene Institution Sklerotisierung des lebendigen Evangeliums, seine Verfremdungsgeschichte. Ein glattes katholisches Nein gegen diesen Verdacht könnte den letzteren nur vertiefen. Und zwar aus der Perspektive aller derer, die außerhalb stehen und an der Catholica zunächst kaum etwas anderes erblicken können als das unbewegliche Gefüge, derer, die am Rand stehen und unter der kalten Starre leidend nach Strukturen tasten, die warm und biegsam geblieben sind, derer, die drinnen sind und ihr ganzes Streben darauf richten, überflüssige «Superstrukturen» (römischen «Zentralismus», «Codex iuris» usf.) zugunsten eines geisterfüllten Pluralismus der Teil- und Ortskirchen abzubauen, auch die Gemeinden zu dezentralisieren und das Amt des Gemeindeleiters grundsätzlich als eines unter vielen anzusehen.
Es kann in dieser kurzen Skizze nicht darum gehen, die vom Begriff Institution aufgeworfene Fülle an Fragen zu beantworten, die aus den verschiedenen Perspektiven an die Kirche betrachtet, sich wieder ganz anders ausnehmen. Wir müssen uns damit begnügen, mit einer Art Blitzlicht das geheimnisvolle Zentrum der Catholica anzuleuchten und aus dem rasch Gesichteten einige Folgerungen zu ziehen, die für alle – die draußen, die am Rand und die drinnen – einigermaßen erhellend sein können.
Wir gehen aus 1. von der hinter dem Begriff Institution sich verbergenden notwendigen Doppeldeutigkeit der christlichen Wirklichkeit, ihrer Gestalt. Wir fragen 2., weshalb der Zugang zu dieser Gestalt uns heute so erschwert ist. Wir suchen schließlich 3., welche Wege einer neuen Integration des Auseinanderfallenden uns Heutigen offenstehen.
1. Die Ambivalenz der christlichen Gestalt
Das eindrücklichste positive Phänomen in der Kirche heute ist die sanfte, unbeirrbare Gewalt, mit der eine junge Generation sich unmittelbaren Zugang zu den Ursprüngen verschafft. Lassen wir jetzt von vornherein alles beiseite, was außerchristlich, aller irdischen Formen und Fortschrittshoffnungen müde, sich ins Formlose – mit welchen Methoden immer – zu versenken sucht. Beschränken wir uns auf den unzweifelhaft christlichen Elan, mit dem Gruppen jüngerer Christen sich, unbekümmert um alle Stacheldrähte der Wissenschaft, einen direkten Weg zur Ursprungsform des Christlichen bahnen: durch einen unbeirrbaren Instinkt für das, was Jesus von Nazareth unter seinen Zeitgenossen gewesen sein muß, oder auch für das, was er als sein lebendiges Pneuma der Nachwelt hinterlassen hat. Als sähe Jesus die sich aufrichtenden Barrieren der Institution voraus, sagt er seinen Jüngern: «Lasset die Kleinen zu mir kommen und wehrt es ihnen nicht …» Und da die Jünger sich aufregen, daß einer im Namen Jesu Dämonen austreibt, ohne sich der Jüngergruppe anzuschließen: «Wehrt es ihm nicht, … wer nicht wider uns ist, ist für uns» (Mk 9,40). Das ist heute das Beeindruckende, daß Menschen an den Verbotstafeln der Exegeten wie denen der Ordnungsdiener der Kircheninstitution zu Jesus drängen, und wer will sagen, sie könnten von ihm nicht berührt und nicht von seinem Geist erfüllt werden?
Aber nun ist es sinnvoll, doch einmal zu lesen, was auf den Tafeln der Exegeten steht, die keineswegs a priori des Institutionalismus verdächtigt werden können. Etwas ganz Einfaches: daß wir keinerlei Kenntnis von Jesus von Nazareth haben können, außer vermittelt durch die Glaubenszeugnisse der nachösterlichen Gemeinde, die uns vor allem in den schriftlichen Aufzeichnungen des Neuen Testaments überliefert sind. Und dies wesentlich so, daß für diese Glaubenszeugen der Glaube an Jesus als den Christus, den Heilbringer, schlechthin eins ist mit der aktiven Teilnahme an der Jüngerschar, die den Geist, der in Christus lebendig war, nach seiner Verheißung erhalten hat und unter seinem Treiben und Wehen zu leben versucht. Beides zusammen ist erst der wahre christliche Glaube, der sich einerseits auf das Urbild Jesu von Nazareth bezieht und das von ihm her Empfangene – seinen lebendigen Geist – in sich herrschen läßt. Beides ist aber nach dem gesamten neutestamentlichen Zeugnis eins, weil Jesu Geist ihn trieb, sich für alle bis in den Tod dahinzugeben, und diese Hingabe von Gott dem Vater durch die Auferweckung Jesu von den Toten als die wahrhaft endgültige, unüberbietbare, absolute und deshalb göttliche Liebe selbst beglaubigt wurde: «Sosehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn für die Welt dahingab.» Damit wird die ursprüngliche Einheit von «glauben an …» und «leben gemäß …» (im Geist) nochmals enger ineinandergeflochten: beides ist eins in der ganz ausdrücklichen abschließenden Gebärde Jesu, der sich selbst, seine ganze Substanz – sein («für euch und die Vielen») geschlachtetes Fleisch und vergossenes Blut – für die Seinen, aber auch den Seinen dahingibt, Gott danksagend und ihn segnend (eucharistein), daß er in seiner Liebe zur Welt dieses Äußerste erlaubt. Und wie sich Jesus in dieser abschließenden Gebärde in die Hände der Jünger überliefert («Tut dies zu meinem Andenken»), so legt er – in zahlreichen, immer wieder variierten Ausdrücken – seine Botschaft, seinen Verkündigungsauftrag in die gleichen Hände: «Wer euch hört, hört mich, wer mich hört, hört den, der mich gesandt hat» usf. Alles schürzt sich zu einem einzigen Knoten zusammen, dort, wo das Leben und Sterben Jesu übergeht in die Existenz der Kirche im Heiligen Geist des Auferstandenen. Es geht keineswegs bloß um eine zeitliche Ablösung, sondern um eine (in aller Sterbensohnmacht) hoheitliche Selbstüberlieferung Jesu in die kirchliche Zukunft hinein, in der Communio und Traditio gleichzeitig empfangen und gelebt werden.
Wir blicken zur Verdeutlichung zuerst auf den Ursprung, Jesus, und dann auf das aus seiner Selbsthingabe Gewordene, die Kirche.
a) Der reine Ursprung, Gott, der himmlische Vater, ist von «niemandem gesehen» worden (Joh 1,18), «wohnt im unzugänglichen Licht» (1 Tim 6,16). Um sich uns so hinzugeben, daß wir etwas vom Unfaßlichen fassen und im hingebenden Glauben «verstehen» können (ein für Paulus wichtiger Begriff), muß sein Sohn menschliche «Gestalt» annehmen, und zwar die «Gestalt eines dienenden Sklaven» (morphē doulou), aber in der «gewöhnlichen Menschengestalt» (schema … hōs anthropos: Phil 2,7). Und durch eben diese unscheinbare Gestalt («Woher hat er das? … ist er nicht der Zimmermann?» Mk 6,27) vollzieht der Vater das Unerhörte: das sich Herabneigen zur Welt, zum letzten Sünder, das Hingeben des Teuersten, unsere «Aufnahme als Gotteskinder», unsere Mit-«Geburt aus Gott». Also ist die Gestalt Jesu von Nazareth eine Verhüllung des Einmaligen ins Gewöhnliche, eine Verarmung (kenōsis) und eben darin die Ermöglichung und Enthüllung dessen, der über jede Gestalt hinaus ist: des Vaters in seiner ewigen Liebe. Gestalt Jesu ist Unterbietung und Überbietung zugleich. Unterbietung: in Freiheit wird er «gehorsam bis zum Tod», aber aufgrund des Gehorsams «dem Gesetz unterworfen» (Gal 4,3), und da die Liebe des Vaters sich für ihn am Ölberg zum steinernen Gesetz verhärtet, weil der Sohn die Sünde für uns trägt, muß er «unter lautem Schreien und Tränen» «den Gehorsam lernen» (Hebr 5,7f.). Wie geht es zusammen, daß er in diesem Jammer die göttliche Hoheit behält und wiederum göttliche Autorität des Richtens und Sündenvergebens vereint mit der Demut, die nicht sich, sondern nur die Lehre, die Treue und Liebe des Vaters zur Erscheinung bringen will? Wer dieses Paradox Jesu, das zum Ärgernis ringsum wird, in den Evangelien nicht erkennt, wer ihm nicht naht, wie man dem Feuer naht, der hat sich ein Jesusbild zurechtgemacht, das in keiner Weise dem seiner ursprünglichen Gestalt entspricht. Jesus ist der freieste Mensch, indem er der gehorsamste ist; sich selbst hingeben und sich hingeben lassen ist in ihm dasselbe, und hier hat die kirchliche Lehre ihren Quellpunkt, daß der Heilige Geist zugleich vom Vater und vom Sohn ausgeht.
Wir ahnen vorweg, in welchem Sinn die Gestalt Jesu Urbild dessen sein wird, was in seiner Kirche, auch und gerade sofern sie vom Heiligen Geist erfüllt ist, Institution heißen muß. Seine letzte Selbsthingabe im letzten Geschehenlassen seines Hingegebenwerdens durch den Vater, ist, weil un-überholbar, end-gültig; aber wer sieht nicht, daß solches Hingegebensein kein Erstarren zu einem reglosen «lebenden Bild» wird, sondern als end-zeitliche, überschwengliche End-Gestalt das unablässige Fließen ewigen Lebens in alle Zeit hinein ist?
b) Weil aber diese Hingabe-Gestalt (wie wir sahen) bruchlos in die Hingabe-Gestalt der Kirche übergeht, muß sich auch in ihr die Gleichzeitigkeit von Unterbietung und Überbietung durchsetzen: im Nichts des empfangenen Brotes und Weines birgt sich das Alles der göttlichen Liebe, im Nichts des Wortes, das «in Schwachheit und Unsicherheit» verkündet wird, wird der «Erweis von Geist und Kraft erbracht» (1 Kor 2,3f.). Den Amtsauftrag des Gemeindeleiters formuliert Paulus haarscharf: «Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark» (2 Kor 12,10), entsprechend dem, daß Christus «in Schwachheit gekreuzigt wurde, aber lebt aus Gotteskraft: so sind auch wir in ihm schwach, aber werden uns doch mit ihm aus Gotteskraft euch gegenüber lebendig erweisen» (2 Kor 13,4).
Für die ganze «Institution» der Kirche gilt daher: je näher sie ihrem Ursprung ist, je mehr sie reine Hinnahme der göttlichen Hingabe ist, um so mehr muß sie den Schwankungen und weltlichen Anpassungen der einzelnen Subjekte und des Zeitenwandels entrückt sein. Wäre die Kirche in all ihren Gliedern marianisch, d. h. vollkommen hingegeben und aufnehmend, so würde sich die Institution erübrigen; aber dann würde sich ja auch die Selbsthingabe Gottes in Christo für die sündige Welt erübrigen; Maria bleibt in ihrer Funktion als (durchbohrte!) Mutter des Gottessohnes einmalig; damit Kirche im ganzen grundsätzlich – und jenseits des Versagens der einzelnen Glieder, ob sie selber amtlich fungieren, oder durch das Amt vermittelt der Liebe Christi anhangen – «als reine Jungfrau Christo verlobt» (2 Kor 11,2), ja «heilige und makellose» Gattin (Eph 5,27) sein kann, ist gerade diese Widerspiegelung der Gestalt Christi in ihr notwendig. Sie muß am Ärgernis Christi teilhaben, den «überschwenglichen Schatz» in verächtlichen Gefäßen bergen, damit jener Überschwang «nicht uns, sondern Gott zugemessen werde» (2 Kor 4,7). Dieses Nicht-auf-den-Menschen-Beziehen muß nicht als gelegentliche Erinnerung, daß schließlich alles von Gott stammt, wach werden – etwa bei angestaunten Charismatikern und religiösen Genies –, sondern immerfort grundsätzlich auf dem Plan sein. Ohne dieses Korrektiv wäre jede Gemeinschaft, die sich von Christus herleitet, rettungslos den Verführungen ihres eigenen Geistes ausgeliefert.
So beim Wort: schon bei Paulus ist es grundsätzlich egal, welcher Beauftragte das Wort verkündet, wie simpel oder hochgebildet der Prediger ist; er dankt Gott, daß die Gemeinde «Gottes Wort, das ihr von uns vernahmt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Wort Gottes» (1 Thess 2,13). Gewiß ist für die späteren Generationen die Schrift als Norm da, an der die Variationen der «Anpassungen» und «Verlebendigungen» für jede Zeit ihre Grenze haben; aber die Schrift ist schließlich nicht der Vorgang zwischen Christus und der Kirche selbst, sondern bloß dessen orientierender Spiegel; das Wort wird von Christus nicht dem Buch anvertraut, sondern der je lebendigen Instanz der von ihm gesendeten Jünger.
So beim Sakrament: die Vermittlung des Amtes ist die Vermeidung der heillosen Möglichkeit, daß der Empfänger des Fleisches und Blutes Jesu oder seiner Reinigung im Wasserbad oder seiner Absolution (das alles kann man sich nicht selber nehmen, sondern nur empfangen) auf keinen Umweg über die Heiligkeit, Gläubigkeit, Vollkommenheit eines Menschen angewiesen ist, sondern durch ihn – wie immer er subjektiv beschaffen sein mag – unmittelbar die sich anbietende Gnade des Herrn empfangen kann.
So bei der Gemeinde: Fast muß man befürchten, daß je lebendiger eine Gruppe im Begegnen und Erfahren Jesu und seines Heiligen Geistes ist, sie desto leichter, ja unfehlbar der Versuchung erliegt, sich in sich selber zu schließen, bestenfalls «Proselyten» zu ihrer eigenen Mitte hin anzuwerben. «Bei uns können Sie lebendig erfahren, wie Kirche Christi im Heiligen Geist ist, machen Sie bei uns mit!» Und schon ist es um die Universalität und Katholizität der Kirche Christi geschehen, und eine unendliche Vielfalt von Sekten wimmelt nebeneinander, die als solche unfähig ist, die Einheit der Liebe Gottes in Christo, die auf die Erlösung der einen Welt zielt, glaubhaft zu bezeugen. Die Objektivität des Amtes, der «Institution» muß hier unerbittlich und oft sehr schmerzhaft alle Subjektivismen und «Kirchenerfahrungen» charismatischer Gruppen aufsprengen zum reinen, universalen, nicht mehr gruppenhaft gefärbten und getrübten Empfang, zur marianischen Unbegrenztheit des Jawortes der Braut-Kirche. Diese Entsagung allein läßt die Kirche den Abstieg Christi, die «Unterbietung» seiner Gestalt realistisch mitvollziehen. Daß das Amt an den «letzten Platz» gestellt ist (1 Kor 4,9), wird so zur unabdingbaren Vermittlung dafür, daß die Gemeinde und jeder Einzelne in ihr den von Jesus selbst angewiesenen «letzten Platz» – den Platz Jesu – einnimmt (Lk 14,8f.).
Man wird einwenden, mit alldem sei das eigentliche Problem noch nicht getroffen. Denn Jesus sei eben eine lebendige Gestalt, die glaubhaft ist durch ihre unerhörte dauernde Beweglichkeit zwischen Hoheit und Niedrigkeit, ihre faszinierende Spannung. Die kirchliche Institution dagegen sei eine tote, erstarrte Gestalt, da sie im Gegensatz zu Jesus nicht personal gedeckt und ausgefüllt wird, sondern gerade das Klaffen zwischen Vermittlungs-Anspruch und persönlicher Glaubwürdigkeit zum Prinzip hat. Neben und hinter dem belebenden Ärgernis Christi tauche hier ein zweites Ärgernis auf, das, heute zumal, die Psychologen und Soziologen und Historiker der Religion auf den Plan rufe. Und erst hier geschehe jene Flucht vor der Institution, von der wir in diesem Aufsatz handeln.
Der Einwand hat sein volles Gewicht. Dennoch wird, wer uns bisher aufmerksam gefolgt ist, einsehen, daß er im vorigen schon seine volle Beantwortung miterhalten hat. Denn einerseits ist kirchliche Institution notwendig, damit jeder – ohne Übergriff – wirklich unmittelbar vom Ursprung empfangen, an der Ur-Gestalt teilnehmen kann. Anderseits wäre dieser Ursprung nicht mehr einzig, wenn eine andere Gestalt den gleichen Anspruch erheben könnte, in sich den ganzen Gott auszudrücken. Darum mußten die Apostel vor der Passion fliehen, mußte Petrus verleugnen und bitterlich weinen, und so gedemütigt und «traurig» (Joh 21,17) in sein paradoxes Amt eingesetzt werden. Dieses Prägmal gilt für alle Zeiten: es ist eine Tat Jesu selbst, unlösbar von seiner eigenen Gestalt. Wenn Petrus mitgekreuzigt werden darf, so nur spiegelverkehrt. Jesus kann nicht, wie Chamissos Held, seinen Schatten verkaufen. Wir kehren zur ersten Aussage dieses Abschnittes zurück: nur durch die Kirche, ihren Glauben, aber auch ihre Struktur hindurch, kann man Zugang zu Jesus gewinnen.
2. Die Erschwerung des Zugangs
Es muß aber doch seine besonderen Gründe haben, weshalb in der Neuzeit, spätestens von der Reformation an, die ertragende Hinnahme einer kirchlichen Institution so schwer und diese für eine Großzahl geradezu unverständlich wird. In Antike und Mittelalter gab es zwar viel Reibungen innerhalb der Christenheit, viel Kritik an Papsttum und Klerisei, aber diese Kritik blieb personal, während das Moment der Institution als die selbstverständliche «Gestalt» des «pilgernden Gottesstaates» verstanden und bejaht wurde.
Der antiinstitutionelle Trend der Neuzeit hängt mit der sogenannten «Freiheitsgeschichte» der letzten Jahrhunderte zusammen, deren vordergründig soziologische Entwicklung von einer hintergründig philosophischen Entscheidung gelenkt wird. Von Descartes zu Kant zu Hegel (aber die andere Quelle: Luthers «Freiheit des Christenmenschen» gehört dazu) geht es steigend um die Reduktion des Menschen auf das sich selbst erkennende, von sich selbst Besitz ergreifende, sich selbst in Freiheit konstituierende Subjekt, das zu seiner Selbstergreifung – seiner Freiheitsgeschichte – sich das Objekt entgegensetzen, sich selbst ins Objekt entfremden muß, um von dorther erst seiner selbst reflektierend ansichtig zu werden. Damit ist zweierlei untrennbar gesagt: einmal, daß alles, was nicht Subjekt ist, nur Objekt, gegenständlich sein kann, und sodann, daß diese Objektivität ein Übergang, eine geschichtliche Phase in der Selbstentwicklung der Subjektivität ist. Man sieht sogleich den radikalen Gegensatz dieses Prinzipansatzes zum Begriff von «Gestalt», der schon rein philosophisch oder künstlerisch genommen die Selbstkundgabe einer Freiheit und Innerlichkeit in einer organischen und werkzeuglichen Leiblichkeit besagt, und damit hintergründig auch zum Begriff von «Gestalt», wie wir ihn auf die Offenbarung Gottes in Christus in der Kirche angewendet haben. Einerseits erstarrt die lebendige Leiblichkeit zur Opposition des «Objekts», anderseits ist dieses Objekt, als Institution, dazu bestimmt, sich selbst in ein Moment der Subjektivität und seiner Freiheit aufzulösen.
Wir können nacheinander drei Tendenzen feststellen, die sich aus diesem gemeinsamen Grundansatz entfalten und trotz ihrer dialektischen Entgegensetzung nur ineinander umschlagende Momente eines gleichen Denkschemas sind.
a) Institution (gleichgültig ob in Gesellschaft oder Kirche) erscheint in ihrer starren Objektivität als Zementierung des Bestehenden, Gefängnis des unfreien Bewußtseins, Machtmittel, den Fortschritt des Geistes zu seiner Freiheit hin zu verhindern. Deshalb ist die Grundhaltung des Subjekts ihr gegenüber nicht mehr das Engagement in einem gemeinsam verantworteten staatlichen Organismus, wie es etwa das des freien griechischen Bürgers in der Polis war, sondern der Protest gegen Zwang und Verknechtung, die Planung revolutionärer Veränderung der «Verhältnisse». Der dahinterstehende moderne Begriff der freien Subjektivität sickert unbewußt auch in das Kirchenverständnis der Christen ein; in den von der Reform ausgegangenen Kirchen ist das oben entwickelte Verständnis des Amtes getrübt, dessen Vollmacht mehr oder weniger abgeschwächt, in der Absicht, Christus die Ehre zu geben. Was die Evangelischen zu tun begannen, ahmen heute die Katholiken nach: man möchte sich direkte Zugänge zum großen subjektiven Ursprung verschaffen, gleichsam an ihm nippen, ohne die bereitgestellten Gefäße zu gebrauchen; Institution ist in Wirklichkeit Charisma, und vom Geist, der die Charismen verteilt, wie er will, weiß man nicht, woher er weht und wohin er treibt. Institution muß solange unterlaufen und wenn nötig zerschlagen werden, bis die lebendigen Wasser des Geistes erfahrungshaft strömen. Aber wo das Kriterium der eigenen Erfahrung über das des (auch nicht erfahrenden) Glaubens übermächtig wird, drohen der göttliche erfahrene und der menschliche erfahrende Geist ineinander zu schmelzen. Die edelste Frucht an diesem Baum dürfte Bergsons Spätwerk sein: «Die beiden Quellen der Ethik und der Religion» (1932), wo Institution und Geistbewegtheit gemeinsam dort entspringen, wo der tierische Instinkt der schöpferischen Entwicklung des Lebens übergeht in die menschliche Freiheitsgeschichte: Institution ist für Bergson der kollektiven Ethik und Religion notwendig. Spiritualität aber ist das personale Endziel, das sich die institutionellen Kräfte nach Möglichkeit dienstbar machen soll. Für die vergleichende Religionsgeschichte und Religionssoziologie aber bleibt Institution doch stets das Sekundärprodukt einer primär charismatischen Bewegung, verkörpert in einer Führergestalt. Sie ist die bleibend maßgebende Gestalt, die faute de mieux durch eine unpersönliche Institution perpetuiert wird; Reformbewegungen reißen erstarrte Institutionen nieder und schaffen sich neu unmittelbaren Zugang zum Ursprung. Ein wie völliges Mißverständnis es wäre, das Verhältnis Christus-Kirche in dieses allgemeine Schema zu bannen, dürfte aus dem im ersten Abschnitt Gezeigten klar sein. Höchstens kann man sagen, daß das religionsgeschichtliche Schema ein durchaus sekundäres Moment an der kirchlichen Institution als das einzig Maßgebliche sieht und diese Institution nach ihm beurteilt. Aber wie die unter- und überbietende Gestalt Jesu als Offenbarung des Vaters in der Religionsgeschichte analogielos dasteht, so auch die schon in ihm angelegte, aus ihm entlassene Gestalt seiner Kirche.
b) In der modernen Freiheitsgeschichte des Subjekts erhält die Reduktion der Welt auf bloße Gegenständlichkeit eine unheimliche Ermutigung durch die Technik, deren Entwicklung nur in dieser Weitsicht möglich ist, und die als Wirkung wiederum Ursache weiterer Verobjektivierung wird. Der Mensch erfährt nun die entgegenstehende Welt als das Machbare und im Maß der Machbarkeit Erkannte und Durchschaute. Durchschauende Unterwerfung des Objekts durch Technik aber ist Befreiung des Subjekts, das sich vermittels der funktionierenden Umwelt über diese erhebt. Hier wird Institutionalisierung der Welt zu ihrer Funktionalisierung durch und für das Subjekt; Institution wird in steigendem Maße angestrebt, aber einzig im Hinblick auf die Rentabilität des Funktionierenden. Das System der Welt wird perfektioniert, angeblich um den Menschen von den Zwängen der Materie zu befreien. Die daraus entstehende dämonische Dialektik, in die wir unsere gegenwärtige Welt verstrickt sehen, können wir hier auf sich beruhen lassen: daß der an der Perfektionierung der Maschine arbeitende Mensch durch diese tiefer in den Dienst genommen wird, und damit der Schrei nach der Befreiung von aller Institution – dem ersten Aspekt der Subjekt-Objekt-Dialektik – desto lauter ertönt; denn beides ist gleich fern von dem, was in der Kirche Christi Institution heißen kann. Und sehr übel beraten sind alle jene, die die kirchliche Institution nach dem Schema des Subjekt-Objekt-Schemas denkend, sie mit der ihm zugehörigen Technik zu manipulieren und allenfalls zu sanieren suchen. Man kann sagen, daß diese Irrwege von der jungen Generation durchaus gespürt werden und daß diese nach Auswegen aus der Zwickmühle sucht; wir werden im dritten Abschnitt kurz auf solche Auswege zu sprechen kommen.
c) Man muß eine dritte Abart der Zentrierung auf die Subjektivität erwähnen. Wenn in der ersten die Freiheit Ausbruch aus der Institution ist, in der zweiten Funktionalisierung der Objektwelt zugunsten der Freiwerdung des Subjekts, so muß es dem Subjekt zuletzt einfallen, den Ausbruch in die Freiheit selbst – die «Flucht nach vorn», wie man vorgestern gesagt hat – in den Griff zu bekommen und zu institutionalisieren. Im biblischen Raum Alten und Neuen Testaments ist die vollendete Freiheit die unverfügbare Verheißung; christlich haben wir insoweit heute schon Anteil daran, als wir das «Unterpfand des Geistes» besitzen, das aber keiner sich selbst geben kann: die Herabkunft des erfüllenden Geistes ist in allen Schritten auf das Endgültige zu unverfügbar. Aber das moderne Subjekt plant seine eigene Geistwerdung, organisiert sie Schritt für Schritt: zeitlos bei Hegel, zukunftsgerichtet bei Marx. Die Distanz zwischen der Ursprungsgestalt (Christus) und der Kirchengestalt ist im alles in sich absorbierenden Geist aufgehoben. Wenn die zweite Spielform einer nestorianischen Christologie entsprach (über einer perfekt funktionierenden Menschheit existiert ein damit unvermischter göttlicher Geist), so bildet diese dritte Spielform die Zerrform einer monophysischen Christologie: alles Weltliche, Gestalthafte, Institutionelle wird in den einen sich selbst durchsetzenden freien Geist hinein verflüssigt, damit aber auch die Freiheit unweigerlich logisiert.
Die Macht dieser vielköpfigen Hydra des absoluten Subjekts ist ungeheuer. Wer als Theologe oder denkender Christ sich positiv mit ihm einläßt, um aus seinen Sichten für den Glauben zu profitieren, ist verloren, falls er nicht sogleich an der Basis zu unterscheiden weiß. Der praktische Erfolg dieser Weltschau, die Unumkehrbarkeit der Entwicklung, in die sie die gesamte Menschheit hineingerissen hat, läßt sehr viele Christen ratlos der Zukunft entgegensehen. Aber es gibt einen genau angebbaren Punkt, an dem sich die beiden Wege gabeln. Beide sind ihrer Grundabsicht nach universal, «katholisch». Aber in der Katholizität des absoluten Subjekts erschafft dieses selbst seine Freiheit, und sofern diese noch aussteht, ist die Freiheitsgeschichte der Menschheit die eines Kollektivs, das sich allmählich seiner Fesseln entledigt, um einmal, endzeitlich, Geist geworden zu sein. In der Katholizität Christi und seiner Kirche ist jeder Einzelne personal katholisch, sofern er, durch die Gestalt der Kirche hindurch, sich dem Wirken des Geistes preisgibt und damit effektiv, wirksam Anteil erhält an der Gesamterlösung der Welt. Christlich gesehen wird die Welt nicht durch einen abstrakten Christus allein, sondern durch Christus in seiner Preisgabe an seine Kirche, und durch sie und mit ihr an die Welt im ganzen, erlöst. Im Geheimnis der Gemeinschaft der Heiligen liegt das tiefere, wahrere Äquivalent des sozialistischen Kollektivs.
3. Suche nach der Integration
Die junge Generation hat darin recht, daß Kirche auf ihren Ursprung hin offen und von ihm her lebendig sein soll. Genau das zu erwirken wäre im Grunde Institution da, aber nicht immer realisiert sie glaubwürdig genug dieses ihr eigentliches Amt. Deshalb die Suche nach Leitbildern der Verwirklichung. Das schönste Leitbild für eine junge Gruppe wäre ein Priester, der ganz seinem Amtsdienst hingegeben und gerade so geistlicher, spiritueller Lenker zu Christus hin ist, der das Wesen der Kirche tief genug verstanden hat, um sich vor antiinstitutionellen Protesten zu hüten, weil sie immer an der Tiefenwirklichkeit vorbeischießen und dabei schließlich doch den verwundbaren Geist Christi und der Kirche «verletzen» und «betrüben».
Aber wenn es vielleicht schwer ist, einen solchen Pater pneumatikos zu finden, so gibt es, wie zu jeder Kirchenzeit, so auch heute, echte und große Charismen, dazu geschenkt, damit der Träger eines solchen eine geistliche Familie aus der ihm geschenkten Fruchtbarkeit erzeuge oder gebäre. Es können kanonisierte Heilige oder sonst offiziell anerkannte Persönlichkeiten sein, es können auch Menschen sein, die in ihrem Dasein die Prüfung bestanden und sich ihr Herz zur Weite der Catholica haben aufsprengen lassen. Sie haben es über sich gebracht, sich bis zum Nullpunkt abbauen, entrechten zu lassen, um Raum zu haben für die ihnen anvertraute, überschwengliche Fülle.
Diese «Heiligen» – wir nennen sie alle einmal kurz so – stellen sich mit schockierender Naivität in und unter die Institution, wohl wissend, daß sie zum sich-selber-verschenkenden Ursprung gehört. Jeder von ihnen weiß, daß er mit allen Organen zuerst empfangen muß und daß im Geschenk eine Forderung liegt, die brennender, strenger und auch begeisternder ist als jedes Gesetz, hinter dem Sanktionen stehen. Im Empfangen wird er der Demutsgestalt Christi ansichtig und lernt dieses «Weniger» der Gestalt als das Zeichen des «Mehr» der sich entäußernden Liebe verstehen, schätzen und lieben. Indem er die institutionelle Gestalt wahrt, wahrt er ihren eigentlichen Sinn: die Reinheit des sich hingebenden Ursprungs zu hüten. Indem er innerhalb der institutionellen Gestalt verharrt, vollzieht sich auch an ihm partiell das Wunder, daß in ihm alles Institutionelle lebendig, alles Lebendige institutionell wird. Denn er verwirklicht das johanneische «Bleiben» in der Liebe, das ihn zu einer «Säule in einem Tempel» macht, ohne ihn zu versteinern. Er ist lebendige Gestalt, und er ist es, wie er weiß und bekennt, nur dank der Catholica, die notwendig zugleich Leben und Institution ist.
Das sind die Leitbilder für die kommende Generation. Diese hat vollkommen recht, wenn sie Verlebendigung der Kirche in irgendwie erfahrbaren Dimensionen, also in Gruppen, Gemeinden, Gemeinschaften (die auch größere, ja weltweite Ausmaße annehmen können) fordert. Aber wenn sie katholische Heilige als Leitbilder wählt, wird sie als Gruppe oder «integrierte Gemeinde» oder Gemeinschaft sich nie in sich schließen, sondern sich durch Offenheit zur Catholica als dem Ursprung treu bewähren.
Auf solche Leitbilder schauend, wird sie verstehen, daß Kirche nicht machbar, nur empfangbar ist. Also schlichtes Gebet, das sich nicht selbst (individuell oder kollektiv) genießt, sondern nüchtern von sich weg betet. Gebet auch in Form von Vertiefung in den Ursprung: Betrachtung der Schrift, womöglich unter der Leitung eines geistlich Erfahrenen, damit der Blick sich nicht auf das Eigene zurückwende, sondern geradeaus zur Gestalt des dreieinigen Gottes in Christus hinschaut. Dienst ohne Prätention in Kirche und Welt, nicht proselytisch, sondern durch Selbstlosigkeit ansteckend.
Besonders wichtig, eigentlich unentbehrlich, sind solche Gemeinschaften heute für Priester, die der gegenseitigen Stützung bedürfen, um in die ausgewachsene, unverkrümmte Berufung zur geistlichen Vaterschaft hineinzuwachsen. Wer sucht, wird hinreichend Angebote von lebendigen Priestergemeinschaften finden. Solche Zugehörigkeit, solches Geformtwordensein ist beinah unerläßliche Vorbedingung, um in der eigenen Pfarrei die verfügbaren Kräfte wiederum mit gesamtkatholischer Perspektive zu Kernen lebendiger Kirche zu konzentrieren.
In großen Orden, die auf weite Strecken hin entkräftet und degeneriert sind, organisieren sich heute wieder Zellen von ein paar Jungen, die an allen Ideologien der Mehrzahl vorbei, sich am ursprünglichen Charisma des Gründers orientieren.
Aus spontan sich bildenden Gruppen suchender junger Leute guten Willens Kirche im Ursprung zu bilden, ist oft nicht schwer. Wo einmal die Unter- und Überbietung der Gestalt in Jesus ansichtig wurde, wo irgendein Lenker das Spiegelbild dieser Unter- und Überbietung im schlichten nüchternen Dienst, der den Geist ausstrahlt, vorlebt, ist der Zugang zum Mysterium unverstellt und der Horror vor dem kirchlichen Establishment überwunden.

Hans Urs von Balthasar
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Language:
German
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GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
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