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Fragmente über Leiden und Heilen
Nur wer die Welt nimmt, wie sie ist, hat Chance, etwas Gültiges über sie zu denken und auszusagen, auch dann, wenn er als erstes behauptet, sie müsse verändert werden, weil sie so, wie sie ist, unerträglich sei. Es ist völlig zwecklos, über andere mögliche (bessere oder schlechtere) Welten zu spekulieren.
Was ist? Eine Menschheit, sich fortzeugend und ihre Toten hinter sich zurücklassend, durch Jahr(hundert)tausende im Kampf mit den Mächten des Kosmos; Mächten, die teils bewältigt werden müssen, wenn der Mensch leben soll, teils nicht zu bewältigen sind (wie der vorrückende Gletscher für den Eiszeitmenschen, wie die Erdbeben für den heutigen). Der zertretene Ameisenhaufen muß von vorne aufgebaut werden.
Der Feind ist nicht nur außen, auch innen im Menschen. Seine Psyche und sein Organismus gedeihen nur in einer temperierten Zone zwischen Extremen, die ihn zerstören: nicht nur zu wenig, auch zu viel Lust und Freude schlägt in Leiden um. Um die Leiden der kranken oder absterbenden Individuen kann sich das Geschlecht höchstens nebenbei kümmern, da es sehen muß, wie es selbst überlebe. Was folgenreicher ist: wenn Menschheit es auf einem Zweig zu etwas gebracht hat, droht diese perfektionierte Spezialität sich selbst ins Unrecht zu setzen, es erweist sich als dem Ganzen, Durchschnittlichen gegenüber als «dekadent» und endet in einer biologischen Sackgasse oder wird von den Stärkeren umgebracht: aufgrund dieses Mechanismus scheint der Kampfzustand für die Menschheit wichtiger als das Erreichen eines (auch nur relativ) kampflosen Zustandes.
Wenn Johannes Tepl sich über die Scheußlichkeit und Schrecklichkeit und Ungerechtigkeit des Todes beklagt, der ihm sein liebes Weib stahl, so höhnt dieser zurück: «Hätten wir seit der Zeit des ersten aus Lehm gebildeten Mannes Zuwachs und Vermehrung der Menschen auf der Erde, der Tiere und Würmer nicht ausgerottet, vor kleinen Mücken könnte niemand bestehen, vor Wölfen wagte sich niemand hinaus, es fräße ein Mensch den andern, denn an Nahrung würde es ihnen gebrechen, die Erde würde ihnen zu eng. Der ist töricht, der den Tod der Sterblichen beweint.»1
Die Menschheit scheint eines Horizonts totaler Bedrohung zu bedürfen, um für den Kampf frisch zu bleiben: wo die Dämonie der Natur den Urmenschen, der Neid der Götter die alten Kulturen nicht mehr bedroht, baut sich der heutige Mensch die Atombombe, um unter Todesangst zu leben.
Wer Zeugung will, der will auch den Tod und sein gesamtes Zubehör. Das weiß schon Kohelet: «Es gibt eine Zeit zum Kinderzeugen und eine Zeit zum Sterben» (3,2).
Längst vor Schopenhauer und Darwin wurde der Kosmos als ein «ewig wiederkäuendes Ungeheuer» erkannt und die Desolidarisierung von ihm und Evasion aus ihm als Weg des Heils empfohlen, auch diverse Praktiken des Sich-unempfindlich-Machens. Aber die sich diesen Weg leisten können, desolidarisieren sich von ihren leidenden Mitmenschen oder machen sich ihren Schmerzen gegenüber immun. Mit solchen Selbstheilungen wird die Welt nicht ins Heile gebracht; sie mögen vom Einzelnen viel Mut verlangen, er bleibt doch der Realität gegenüber ein Feigling.
Das Vabanquespiel der Reinkarnation ist gewiß kein Mittel, sich langsam aus der leidenden Welt hinauszumanövrieren, auch dann nicht, wenn man den Selbstmord als ein untaugliches Mittel dazu erkannt hat. Dagegen werden jene Denker recht haben, die im Horizont des Todes als zeitlichen Endes eines einmalig-zeitlichen Lebens die notwendige Voraussetzung für sittliches Handeln sehen, das die Gesamtexistenz engagiert und nicht beliebig widerrufbare Entscheidungen fordert.
Ist das so, dann ist Menschenwürde vom Tod (und all seinen geistigen und leiblichen Vorboten) nicht zu trennen. Wer zum Menschen als dem Kämpfer im Kosmos Ja und Amen sagt, muß auch den Sterbenden und den Leidenden bejahen. «Christlich gesprochen ist die Bejahung des Leidens ein Teil des großen Ja und nicht, wie es manchmal scheinen kann, das Einzige und Entscheidende, hinter dem die Bejahung des Lebens ganz verschwindet.»2
Deshalb: «‹Vorwärts mit strengem Fechtern›, wie irgendein alter Brandenburger Markgraf in der Reformationszeit gesagt hat. Denn zuletzt leiden wir alle so tief und schmerzlich, daß man es eben nur in rüstigem Kampf aushält, das Schwert in der Hand. Und da wir gar nichts für uns wollen und mit einem freudigen und guten Gewissen uns in härtesten Strauß begeben können, so wollen wir uns zurufen: ‹Der Soldat allein ist der freie Mann› und wer ein freier Mann sein, bleiben oder werden will, hat gar keine Wahl: ‹vorwärts mit strengem Fechtern›.»3
Heilendes Leiden
Man braucht nach dem Gesagten die Dinge nicht auf der biologischen Ebene, darwinistisch zu betrachten – nur die starken Individuen und Arten überleben und sorgen, falls die Schwachen nicht von selbst zugrundegehen, für deren Verschwinden –, sondern kann die Gesetze der untern Welt in der höheren sublimiert finden. In der realistischen Welt, die die einzig existierende ist, wird keiner stark ohne schmerzende Abhärtung, keiner edel ohne tausend Verzichte und Selbstverwundungen, keiner ein echter Künstler ohne lange Verkennung und aller Wahrscheinlichkeit nach ein tragisches Leben (man lese Walter Muschg nach), sicher keiner ein Heiliger ohne einen angemessenen Anteil am Kreuz. Portmanns extrauterines Jahr des Menschen ist bedeutsam: der Mensch wird zu früh aus der Geborgenheit des Schoßes (dem für Freud einzig wahrhaft seligen Zustand) in die Welt des angstvollen Begehrens (libido einmal buddhistisch lesen!) hinausgeworfen. Das griechische Wortspiel pathei manthanein, durch Leiden lernen, bewahrheitet sich an jedem.
Frei kann der Mensch überhaupt nur durch Wahl werden, und wer Wahl hat, hat Qual, er muß etwas Begehrenswertes links liegen lassen. De Lubac hat in seinem berühmtesten und angefochtesten Werk gezeigt, daß Gott keinen Engel und keinen Menschen von vornherein im endgültig Guten schaffen konnte: das Geistgeschöpf mußte sich selber zu dem entscheiden, was ihm sein Bestes sein sollte. Man könnte einwenden: der Verzicht auf sich selbst als Endzweck und das Vorziehen Gottes geschehe in einer Art Ekstase der Liebe, schmerzlos. Aber man sehe zu, daß man aus dieser Ekstase alles, was nach innerer Nötigung und Überwältigung aussieht, fernhalte. «Wer sein Leben liebt, der wird es verlieren»: das gilt schon für die Urwahl des Geistgeschöpfs. Dieses «Leiden» ist ihm, wenn es frei sein soll, nicht zu ersparen.
Es erübrigt sich, alle Erfolge des Zuchtmeisters Leiden auszubreiten, vom Kleinkind, das entwöhnt wird und lernen muß, daß man auch durch Heulen nicht alles erreichen kann, über die unvermeidlichen Leiden jedes Schulkinds, jedes vor Prüfungen Stehenden, jedes einem leidigen, verhaßten Broterwerb Nachgehenden, zu den zahllosen erzieherischen Krankheiten, die uns reifen, Geduld lehren, Verständnis für andere Leidende beibringen, uns von Süchten heilen und statt äußeren Lüsten ein Reich innerer Schätze eröffnen, wie – ein extremer Fall – der als Knabe erblindete Jacques Lusseyran die Kraft fand, ein inneres Licht zu gewahren und ein Gesicht dafür zu entwickeln, das ihn schließlich in der Hölle von Buchenwald zum Führer Unzähliger werden ließ4.
Die normale Entwicklung eines sittlichen Menschen verläuft in zwei Stufen: auf der ersten lernt seine geistige Freiheit die sinnlichen Lockungen der physischen Welt um ihn und in ihm überwinden – und diese Überwindung ist zugleich schmerzlich und freudig5, trägt ihren Lohn in sich selbst –, auf der zweiten, abschließenden, werden die Kräfte der Physis in Todeskrankheit und Sterben übermächtig, aber der Geist kann untergehend immer noch siegen, wie die Tragödie, zumal die idealistische, zeigt. Leiden haben Maria Stuart dazu reifen lassen, ihren überlegenen Tod zu sterben. «Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, … jener lange, langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns, … in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu tun.»6 Hier will der tragische «Ja und Amen Säger» mit dem Christen wetteifern. «Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung … Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Fall soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letztern Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu.»7
Nun, dieser, der so sprach, zerbrach an seiner Bejahung und Göttlichkeit. Man könnte die Alternative aber auch anders formulieren, indem man Jesus selbst als den das Leid bis zum eigenen Zerbrechen Bejahenden hinstellt (und darin seine Gottgleichheit sähe8), und jene, die das Kreuz sähen, den Schwur tun ließe, sich so für die Veränderung der Gesellschaft einzusetzen, daß kein Mensch mehr vom Leid erdrückt würde: «Die Liebe kann sich mit der Sinnlosigkeit von Leiden und Zerstörung nicht abfinden … Nicht der Rückzug aus der Frage, sondern ihre Überwindung ist notwendig.»9 Das ist nicht die anti-, sondern die postchristliche Lösung, in der die heilende Kraft des Leidens ins Absolute aufgesteigert wird.
Die hier sichtbare Wende kommt zustande durch eine Verbindung des christlichen Heilens kraft des Kreuzes Jesu mit der durch die moderne Technik – Hypnose, Chirurgie, Analyse, Medizin überhaupt, aber auch Soziologie und weltumspannende Wirtschaft – in Gang gekommenen Vorstellung, Leid sei in großem Stil abschaffbar. Das Christentum hat die Augen geöffnet für das zum Himmel schreiende Unrecht in der Welt, aber anscheinend nicht genug getan, es abzuschaffen. Die Nachchristen machen sich an die Arbeit; ihr Leiden am Weltleid läßt sie ein neues Evangelium entwerfen, womit der Kampf des Menschen mit den Kosmosmächten in ein neues Stadium tritt. Und manche Christen meinen, das alte Evangelium vom erlösenden Leiden ganz und gar auf das neue von der Befreiung vom Leiden hin zentrieren zu sollen.
Teilhard de Chardin war nüchtern genug, beide Wahrheiten zu einen: in der ersten Phase gilt der aktive Kampf gegen das Leiden, und zwar sowohl gegen das durch soziale Ungerechtigkeit verursachte wie gegen das rein physische, und er verfehlt nicht anzumerken, daß eine kämpfende Menschheit immerfort große Verzichte auf sich zu nehmen hat, um dem Ziel nachzujagen10. Aber der Mensch kämpft gegen eine Übermacht, wie Jakob mit dem Gott-Engel. Gerade jedoch, weil er im aktiven Kampf gegen das Leiden als ein Leidender gewachsen ist, hat er jetzt «den glühenden Mut, in einem Andern zu sterben«11. Seine «Passivitäten» oder Leidensfähigkeiten sind durch das wirkende Heilen geläutert, so daß seine Selbstaufgabe in Leiden, Schwachsein, Sterben ein (verborgen geheimnisvoll) fruchtbarer «Akt» der Liebe, der Bejahung des mich übermächtigenden absoluten Seins wird. Wer so sterbend den Willen Gottes erleidet, der tut ihn immer noch: der Raum, den er als Kämpfer wider das Leid in sich freigemacht hat, ist kein Raum passiver stoischer Resignation, sondern einer Liebe zum menschlich Unmöglichen, das aber das göttlich Mögliche, Gott selber ist.
Hat jedoch die feurige Seele Teilhards genügend bedacht, daß die erste aktive Phase doch nur dann wahrhaft an die unvermeidliche Schwelle der zweiten führt, wenn sie schon im Geist der zweiten, in der Bereitschaft der Hingabe und des Empfangens gearbeitet hat? Und ist Gott nicht frei, dem Menschen in der Phase seiner Aktivität unüberwindbare Leiden zu schicken? Kleine, größere, größte? Schließlich unverständliche, wie bei der Prüfung Abrahams oder Hiobs? Vieles ist gegen den sadistischen Gott der Moriaepisode vorgebracht worden, der gerade das zurückfordert, woran er die feierlichste Verheißung geknüpft hat und den Vater des zu opfernden Kindes aufs Blut quält. Aber wenn es um diese und analoge Belastungsproben des Glaubens geht: ist es nicht doch sinnvoll, den in Abrahams Seele verborgenen, potentiellen, in Bereitschaft stehenden, in seiner Tragfähigkeit noch unerprobten Glauben zu aktuieren – wie etwa auch Marias Bereitschaft unter dem Kreuz aktuiert wird –, wenn es darum geht, ihn als die tragfähige Brücke zu erweisen, über die ein ganzes Volk wird schreiten und an deren Geländer es sich wird halten müssen? Was jedoch Hiobs alle menschlichen Maße überschreitende Belastung angeht, so ist sie – ihm selbst unbewußt – nur noch nach vorwärts deutbar, auf das absolute Leiden des absolut Unschuldigen hin, das für Gott und die Welt eine Fruchtbarkeit gewinnt, die jede mögliche Frucht menschlicher Aktivität unendlich übertrifft, aber auch in keinen echten Gegensatz zur Aktivität gebracht werden kann. Vom Kreuz her ist Hiobs Leiden, das jedes Versuchs zu heilen und zu trösten spottet, in einem für Hiob (wie für Jesus selbst) unzugänglichen Sinne heilend, wie die geheimnisvollen Lieder vom «Gottesknecht» sagen, der «unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen hat, wir aber wähnten, er sei gestraft, von Gott geschlagen und gequält» (Jes 53,4).
Es war die Rede vom heilsamen Leiden, vom unentbehrlichen Pädagogen in der Schule des realen Lebens, der uns standhalten und übersteigen lehrt, zuletzt auch dann noch, wenn wir unweigerlich physisch Besiegte sein werden. Hiob gehört mit all seinem Schreien um Gerechtigkeit, seiner «betenden Revolte»12 unter diese vom Leiden Zermalmten, die ohne es wahrnehmen zu können, als «Gerechte» standhalten – er wird ja am Schluß als einziger von Gott gerechtfertigt, sowie Jesus, der am Kreuz seine Gottverlassenheit herausschreit, an Ostern von Gott gerechtfertigt wird –, die jenseits alles möglichen Geheiltwerdens auf die Seite der Heilenden hinübertreten.
Aber – so müssen wir am Ende dieses Gedankengangs fragen: warum verbirgt sich hier der Einzige, der das Entsetzliche verhindern oder heilen könnte, warum tritt er nicht in Erscheinung, außer unter der verzerrten Maske des Sadisten, als den ihn die zu Tod Gequälten in der totalen Überforderung sehen müssen? Das wird unsere letzte Frage sein, aber vorweg ist eines zu sagen: wenn die christliche «Antwort» (sofern man das so nennen kann) auf die göttliche Trinität verweist, dann nicht in dem Sinn, als ob der Vater (als der «Herr»-Gott) den göttlichen Sohn als den zertretenen Menschenwurm mitleidlos dem Leiden überließe (wobei man nicht weiß, was mit dem Heiligen Geist anfangen)13, denn der dreieinige Gott besteht nicht aus drei Göttern, sondern so, daß ein einziger trinitarischer Ratschluß in der gleichen Freiheit, Liebe, Hingabe, im gleichen Heiligen Geist heilenden Willens durchgeführt wird. Ob man deshalb von einem leidenden Gott sprechen soll, wird noch zu entscheiden sein14. Vorerst ist nur ein Ergebnis zu beherzigen, daß am Kreuz der Leidende und der Begleitende, ja Heilende als ein Einziger, in einem einzigen gemeinsamen Geist ihre Aufgabe erfüllen.
Heilen
Wenn der Mensch ein Kämpfer mit kosmischen (Über-)Mächten ist und da und dort dem Feind ein Stück Land abgewinnt, dann gehört es zur Natur dieses Wesens, aus eigenen Kräften Leiden zurückzudrängen, sei es mit seelischen Mitteln (die ungezählten «Trostbücher» der Antike und des Mittelalters) oder mit technischen: Medizin, Chirurgie, Narkose, Psychotherapie. Aber schon hier ist, als Nachhall des vorhin Gesagten, zweierlei zu bemerken. Der leidende Mensch ist, ob er nun mehr seelisch oder körperlich leidet immer einer; Seelisches wirkt sich körperlich aus und Körperliches seelisch. So war auch primitive Medizin immer ganzheitlich: der Medizinmann war und ist Arzt und Priester in einem. Und wenn sich die beiden Funktionen durch Entwicklung auseinander differenzierten, so konvergieren sie doch immer wieder, wenigstens zu einer engen Arbeitsgemeinschaft – etwa eines Psychotherapeuten mit einem Seelsorger (falls sie nicht gar in der gleichen Person vereinigt sein können). Was Gion Condrau vom Therapeuten sagt, daß er nur heilen kann durch eine innere liebende Anteil-nahme am Patienten, bei aller fachlichen Überlegenheit und Führungsrolle diesem eine unbedingte Liebe entgegenbringen15, im Heilungsprozeß «das menschliche Seelenheil» miteinbeziehen muß … Denn sind wir heutigen Ärzte nicht alle Nachfahren uralter Priesterärzte?«16 – das gilt von jedem Arzt, auch von jedem Chirurgen, die an Einsatz und Selbstüberwindung oft Übermenschliches leisten, und denen gegenüber sich beim Patienten meist ein tief-menschliches Verhältnis – Sichanvertrauen, Dankbarkeit – herstellt.
Was vom Arzt gilt, der durch natürliche Kunst, aber mitmenschlichen Einsatz heilt, das gilt entsprechend von jedem Helfenden, zumal jedem Tröstenden, der aus einer dem Menschen angeborenen Kunst beistehen kann, aber niemals wirksam ohne einen wahrhaftigen, Verzicht fordernden Selbsteinsatz. Unter dieser Voraussetzung kann jeder des andern Therapeut werden. (Daß Hiobs Freunde es für den Leidenden nicht wurden, liegt schließlich an ihrem Mangel an Einsatz, ihrer Besserwisserei, die aus vorgefaßten Theorien heraus tröstet, und nicht aus dem im Leidenden selbst liegenden Sinn.)
Wo diese natürliche Gesetzlichkeit vom Bereich der Gnade erfaßt wird, erscheint sie vertieft: Geheilt wird ein Leidender nur im Mitleiden des Heilenden. Jesus, der zum Heiland der Blutflüssigen wird, weiß, da er angerührt wird, «daß eine Kraft von ihm ausgegangen ist» (Lk 8,46; Mk 5,30). Dieser Kraftverlust eines Heilenden reicht von der natürlichen Erfahrung etwa eines Heilgymnastikers über die eines Guru bis zur gänzlich ver-übernatürlichten Kraft Jesu, der seine wunderwirkenden Kräfte vorweg aus dem Reservoir des totalen Mit-Leidens mit allen Leidenden am Kreuz schöpft. Nicht umsonst verweist er seine Mutter anläßlich seines ersten Wunders in Kana auf seine «Stunde», das Kreuz: die Wandlung, die er jetzt wirkt, ist nur Vorzeichen der einzig entscheidenden Wandlung alles Leidens in seiner kommenden Verlassenheit.
Man kann von einer echten Heilung dann sprechen, wenn ein Leidender, der von seinem Leiden bisher geknechtet wurde, seiner Herr wird, es in innerer Freiheit bejaht und, falls er Christ ist, es Gott zur Verwaltung und Verteilung überantwortet. Man müßte hier ein sehr weitläufiges Thema anbrechen, das wir nur in zwei Worten andeuten können17: die vielfältige Gleichzeitigkeit von Leiden und Freude in der Seele: nicht nur oberflächliche Freude bei tiefnagendem Leiden und oberflächlicher Schmerz bei innerlichem Frieden, sogar Freude, sondern auch durchaus Freude an einem reinigenden Leiden (etwa am beißenden Schmerz eines beschämenden Bekenntnisses wie am schmerzhaften Aufschneiden eines Abszesses). Hier hat die paulinische Unterscheidung «gottgemäßer Betrübnis», die zum Heil ist, und «weltmäßiger Betrübnis», die Tod bewirkt, ihren Platz (2 Kor 7,8ff.). Und wer als Gott allein kann wissen, ob auf dem tiefsten Grund der leidenden Seele, die von Schmerz umnachtet ist, nicht doch ein Ja zu diesem Leiden gesprochen wird?
Dieser Dialektik entspricht eine solche im Heilenden. Wie tief reicht seine Bereitschaft, den Leidenden dort ein- und abzuholen, wo er am tiefsten leidet? Wird er vorzeitig aus der Solidarität aussteigen, oder bereit sein, nötigenfalls bis zu Ende mitzugehen? Wird er sich auf seine bloße Technik verlassen, oder seine Technik in seiner Existenz verwurzeln? Wird er habituell bereit sein, auf Leidende einzugehen, die ihm zufällig und unverhofft begegnen, oder sich auf bestimmte Fälle spezialisieren und für die übrigen abkapseln? Jede Zeitung, die wir aufschlagen, stellt uns vor diese Gewissensfrage. Dem Übermaß an Leiden jeder Art, das sie vor uns ausbreitet, sind wir aktuell nicht gewachsen; aber wären wir bereit, darauf, soweit es an uns liegt, heilend einzugehen, wenn Wege dazu bestünden, oder hat unsere Wohlstandswelt uns ein Entengefieder verschafft, das nicht «netzt»?
Sind wir als mögliche Heilende zu unsern Mitmenschen hin geöffnet, so ist es nicht wichtig, ob wir mit besondern therapeutischen Kräften ausgestattet sind oder nicht. Die Bereitschaft mitzuleiden, sich betreffen zu lassen – nicht masochistisch, sondern vollkommen nüchtern-realistisch, die Welt so nehmend, wie sie sich gibt – ist, ob aktuell ausgeübt oder nur potentiell angeboten, wesentlich heilend. Schon im Naturbereich sind derart bereite Menschen die Zuflucht aller Leidenden, erst recht und mit einer unendlich erweiterten Fruchtbarkeit im übernatürlichen Bereich. Jesus Christus hat die «Religion» begründet, die wohl als einzige in keiner Weise versucht, Leid und Schmerz zu umgehen, zu übersteigen, auszurotten (was nicht möglich ist), sondern dem Grauen der Welt ins Auge zu blicken, in einer Haltung, die es umwertet und tiefer verändert als episodische – wenn auch noch so notwendige – gewaltsame Umstürze zur Beseitigung des schreiendsten Unrechts.
Annäherung an letztes Heil
Schmerz und Leiden sind in unserem Kosmos so tief verankert, daß wir uns eine Welt ohne sie nicht vorstellen können. Längst bevor Menschen waren, haben die Tiere voneinander gezehrt. Man kann die Hypothese aufstellen, der materielle Kosmos sei durch eine erste Revolte der dem Kosmos befehlenden Geist-Mächte verursacht worden, aber die biblische Offenbarung breitet über dieses Gebiet, dessen Erforschung uns nicht praktisch weiterhilft, kein hinreichendes Licht aus18. Wir könnten uns höchstens eine Welt vorstellen, in der es so etwas wie Schmerz gegeben hätte, ohne daß dieser notwendig in Leiden ausgeartet wäre: Schmerz über den Widerstand, die andere endliche Freiheiten in ihrer Weltsphäre der meinigen in meiner Weltsphäre entgegensetzen, welcher Widerstand von den Freiheiten miteinander beigelegt werden müßte, ohne daß die eine die andere überwältigte.
Und von hier könnte man auf das göttliche Urbild der Welt hinblicken, in dem nach christlichem Verständnis drei Hypostasen die eine göttliche Freiheit und Weisheit gleichwesentlich besitzen, nicht so, daß eine davon (der Vater) herrisch die andern übermächtigt, sondern daß sich im Wider- und Miteinander der Beziehungen je der eine göttliche Ratschluß ergibt. Und man könnte – in einem uns kaum verständlichen Sinn – sagen, daß jede Hypostase den Willen der andern «erleidet». Wenn der menschgewordene Sohn auf Erden eindeutig den Willen des Vaters, den der Heilige Geist ihm vorstellt, tut, so muß diesem Gehorsam in der Ewigkeit ein ungeheuerliches freies Selbstangebot des Sohnes an den Vater vorausgegangen sein, für das Gutsein der Welt mit seinem Blut und seiner Angst einzutreten, ein Angebot, das den Vater im innersten Herzen getroffen haben muß, und dem er – als dem Bestmöglichen, der höchsten Offenbarung absoluter Liebe – nur zustimmen konnte. «Blutenden Herzens», könnten wir, weiterhin anthropomorphisch redend, hinzufügen.
Das würde dann zweierlei heißen. Einmal, daß alle jene Gottesbilder, die uns Gott Vater als einen sadistischen Tyrannen hinstellen, von dem uns der leidende Sohn endgültig befreit hat, weil der leidende Knecht größer ist als der leidenmachende Herr, ob sie uns nun von Marx oder Bloch oder D. Solle oder C. G. Jung (in seinem Hiobbuch) vorgestellt werden, schlicht ad acta gelegt werden können. Und man wird sich hüten, eine solche Konzeption auf Anselms Erlösungslehre zurückzuprojizieren, denn er weiß sehr wohl, daß alles von der trinitarischen Liebe gerade auch des Vaters ins Werk gesetzt wurde.
Merken wir zu diesem Punkt an, daß Anklagen gegen Gott, heroische Rebellionen und «hommes révoltés» eine biblisch-nachbiblische Erfindung sind, die keinem frommen Heiden je eingefallen wären (ich rede nicht von Mythen über Götterkämpfe und den Sturz von alten Göttergenerationen durch neue, sondern von Aufruhr gegen das «höchste Gut», gegen das «Sein selbst»). Jede gute antike Philosophie, chinesische, indische und griechische, hätten einen solchen Aufruhr als schiere Dummheit bezeichnet; die Identität von absoluter Seinsmacht mit absoluter Wahrheit und Weisheit war diesen Denkern zu evident. Und dies angesichts des unverminderten Problems des Weltleids. Man findet für dieses andere Instanzen, die angeklagt werden können. Selbst die mythologisierende Gnosis, die hinreichend am Bösen in der Welt litt, hat sich nie vermessen, den obersten Gott dafür verantwortlich zu machen. Erst wo man sich Gott als einen der leidenden Welt gegenüber endlich-begrenzten «Herrn» vorstellt (dessen Göttlichkeit damit ihre Glaubhaftigkeit verliert und schließlich zum Popanz für Atheisten degeneriert), wird die Haltung der Anklage gegen das Absolute möglich. Wie sehr Hiob auch leiden mag, er muß vom Absoluten, dessen Macht mit der Weisheit zusammenfällt, zum Schweigen gebracht werden. Aber wenn diese Allmacht für den Räsonneur kein «Argument» ist, so wird es die Haltung des dreieinigen Gottes angesichts des «zum Fluch Gemachten», Gehängten auf Golgotha sein – womit wir zum zweiten kommen.
Das liebende Ineinander der Freiheit der göttlichen Hypostasen – deren Opposition in der Menschwerdung Jesu genugsam hervortritt – ist nicht nur ein mildes Licht, sondern «Glorie» als loderndes Feuer. «Stark wie der Tod ist die Liebe, Leidenschaft grausam wie der Hades, ihre Fieber wie Feuergluten, eine Flamme aus Jahwe» (Hld 8,6f.). «Gott ist ein verzehrendes Feuer» (Dt 9,3; Hebr 12,29). Wenn wir einst in Gott leben sollen, müssen wir zu Salamandern der Sage werden: solchen, die diesem Feuer so angeglichen sind, daß sie ihm standhalten können. Was wunder, wenn es, Endliches erschaffend, sich zunächst in Lust und Schmerz – korrelative, einander fordernde Pole – auseinandergelegt? Und dies noch, bevor der Widerstand endlicher Freiheit diese Korrelation zu Leiden, schließlich zu dem Furchtbaren, das Simone Weil le malheur (Unglück-Unheil) nennt, verbittert. Das göttliche Feuer braucht Brennstoff, um ihn in durchglutete Körper zu verwandeln, zu läutern und zu verklären. Ob sündig oder nicht, das Endliche muß irgendwie in Gott hinein sterben, sein Für-sich preisgeben, um im einzig endgültigen An-und-für-Sich zu leben, und dieser Übergang – Ekstase, Verbrennung, Tod – wird Schmerz sein, zumindest eine Analogie von Schmerz.
Darum lesen wir bei allen Mystikern, daß Gottes Feuer versehrt, indem es heilt, und heilt dadurch, daß es versehrt; daß Wunde und Gesundung hier ein und dasselbe sind, daß Himmelfahrt ohne Höllenfahrt nicht denkbar ist: «Er geißelt und erbarmt sich, er führt zur Hölle hinab und wieder empor, und keiner entkommt seiner Hand» (Tob 13,2; Dt 32,39; 1 Sam 2,6; Wh 16,13.15). Darum kann Augustin den Gott preisen, «dessen All auch mit seiner linken Seite vollkommen ist, von dem her auch die äußerste Dissonanz keine ist, da das Üblere mit dem Bessern zusammenklingt…» (Solil. I, 1, 2). Das ist nicht pantheistisch gemeint, erhält aber seinen Vollsinn nur, wenn es trinitarisch gedacht wird. Denn in das Angebot des ewigen Sohnes, die ärgste Welt durch das Feuer seines Liebesleidens in die sehr gute, die beste zu verwandeln, ist Schöpfung mit ihrer Gefahr und Antinomie erst möglich geworden. Sie brennt im göttlichen Feuer, das alle Rebellion in Leiden wandelt, und für alles Leiden das Feuer der Läuterung im Kreuz bereithält, um so den Widerspruch in das Heil einzubergen. Wollte aber eine Freiheit durch Gottes Feuer sich nicht läutern lassen, so müßte sie ewig in sich selber an dem göttlichen Feuer, dem sie nicht entkommen kann, leiden.
Man redet heute allzu leichtfertig davon, daß Gott an den Schmerzen seiner Schöpfung leidet, als könnte nur eine solche Sprache ihn entschuldigen. Man redet auch zu leichtfertig von der Veränderlichkeit Gottes. Man bedenkt zu wenig, daß das Feuer der ewigen Liebe Gottes erhaben ist über das Endliche, das wir Lust und Leid nennen, so wie seine Lebendigkeit erhaben ist über das, was wir als Sein und Werden gegeneinanderstellen.
Und schließlich ist es unentbehrlich, daß wir in dieser Welt, wie sie ist, den Schmerz, der aus Gott stammt, und den, der durch die Schuld der Geschöpfe entstanden ist, nicht reinlich auseinandermengen können, weil das beides Umgreifende und allem nach vornhin Sinngebende doch das alleinige Kreuz des Sohnes – sagen wir: sein dreieiniges Kreuz – ist, in dessen läuterndem Feuer Leiden und Heilen eins ist.
Leiden dieser Welt kann, statisch betrachtet, soviel Gewicht haben, als es will, angesichts dieses Feuers muß man sagen: «Unsere augenblickliche geringfügige Trübsal erwirkt uns eine von Fülle zu Fülle anwachsende, alles überwiegende ewige Herrlichkeit, da wir den Blick nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare richten, denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare dagegen ewig» (2 Kor 4,17f.).
- Joh. v. Tepl, Der Ackermann und der Tod (Inselbücherei 198), S. 12f.↩
- Dorothee Solle, Leiden. Stuttgart/Berlin 1973, S. 136.↩
- Nietzsche, Briefe. Berlin 1900-1901 I, S. 352.↩
- Das wiedergefundene Licht. Hamburg, 21971.↩
- Die Sprache zeigt den Übergang zwischen Freude und Leid, wenn sie uns in gewinnen und über-win(d)en das althochdeutsche und germanische winnan, «sich abmühen, mühsam erstreiten» als wurzelverwandt zeigt mit althochdeutsch winni, der Freund (als der Ersehnte, Er-siegte) und wunni, die Wonne.↩
- Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 3.↩
- Ders., Nachlaß (Schlechta III, S. 773).↩
- D. Solle (Anm. 2), S. 172.↩
- Ebd., S. 177.↩
- Le Milieu Divin (Oeuvres IV, 1975), S. 63: Le détachement par l’action.↩
- Ebd., S. 71.↩
- E. Zenger und R. Böswald, Durchkreuztes Leben. Besinnung auf Hiob. Freiburg i. Br. 1976, S. 26. Zengers Urteile über die Situation Hiobs sind aber nicht durchweg ausgewogen, offensichtlich von den Aussagen D. Sölles beeinflußt.↩
- J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund der Kritik christlicher Theologie. München 1972.↩
- K. Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes. Göttingen 1972; François Varillon, La souffrance de Dieu. Paris 1975. Vgl. Peter Kuhn, Gottes Selbsterniedrigung in der Theologie der Rabbinen. München 1967.↩
- Gion Condrau, Wesen und Bedeutung der Psychotherapie. In: J. Rudin, Neurose und Religion. Olten 1964, S. 20, 47: «In der Unbedingtheit der ärztlichen Güte und Liebe liegt das Geheimnis psychotherapeutischen Handelns … In der Psychotherapie erlebt der Mensch oft erstmals, daß Liebe nur dann echte Liebe ist, wenn sie nicht an Bedingungen geknüpft ist.»↩
- Ebd., S. 56.↩
- Vgl. dazu: Die Freude und das Kreuz. In: Die Wahrheit ist symphonisch. Einsiedeln 1972, S. 131-146.↩
- C.S. Lewis unterscheidet in seinem lehrreichen Buch «Über den Schmerz» (mit einem Nachwort von J. Pieper, Köln/Olten 1954, Original: The Problem of Pain, London 1940) zwischen Schmerz, der mit jeder materiellen Umwelt gegeben ist (31-41), aber noch nicht eigentliches Leiden besagen muß, und der schon von dem Erscheinen des Menschen in der Natur bestehenden Unordnung, die er versuchsweise einer Verstörung der Natur durch den Engelsfall zuschreibt (153-162).↩

Hans Urs von Balthasar
Original title
Fragmente über Leiden und Heilen
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Specifications
Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
Article