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Askese
Vortrag 18. Februar 1964 im Auditorium Maximum der Universität Freiburg i. Br.
Das Wort Askese kommt von dem griechischen askéo, das heißt kunstvoll und sehr sorgfältig etwas bearbeiten, ausarbeiten, herausarbeiten, darstellen, auch zieren; es heißt ferner sich Mühe geben, beflissen sein, etwas einüben, ausbilden, einexerzieren; davon kommen die Worte áskema und áskesis, was dann die Übung ist, mit Vorliebe die Leibesübung. Der Asket ist eigentlich der Sportsmann im alten griechischen Sinn, er kann auch überhaupt der Fachmann sein für eine Ausübung. Asketón ist das kunstvoll Gefertigte. Sie sehen, in welchem Milieu dieses Wort, diese Wortfamilie sich ausbreitet. Wir können drei Momente herausheben, zunächst das der Kunstfertigkeit, das ein Können und einen genauen Plan dessen voraussetzt, was ausgearbeitet worden soll. Dann als zweites das der Anstrengung, des Hervorbringens; und schließlich als drittes eine beharrliche Anstrengung – das Zeitmoment gehört hier unbedingt hinein.
Wenn man die Sachgebiete, in denen die Wortfamilie sich ausbreitet, ansehen will, dann ist da zunächst einmal der Künstler – die eigentliche Urbedeutung, wie wir sahen – und die kunstvolle Ausarbeitung; der Künstler in jedem Gebiet. So ist zum Beispiel der Schuster ein Künstler, weil Könner, Fachmann; aber er kann Gegenstände außerhalb des Menschen. Dann gibt es den Athleten, der seinen Leib kann, und schließlich den, der den ganzen Menschen kann, der es hinkriegt mit dem Menschen. So ist es nicht verwunderlich, daß am Anfang der christlichen Zeit der Begriff des Asketen auf den Märtyrer angewendet wurde – er ist sozusagen der Sportsmann im Christlichen, wenn man das Wort in dem ursprünglichen englischen Sinn nimmt. Im Neuen Testament kommt das Nomen nicht vor, wird aber dann in der ganzen christlichen Literatur immer mehr eingebürgert. Es geht dabei nicht nur um das Martyrium als vollendetes Hinkriegen des christlichen Zeugnisses, sondern um die Herausarbeitung der christlichen Persönlichkeit, unter vielfacher Anstrengung, d. h. unter vielfacher Zucht, vielfachem Verzicht; die Herausbildung – ich brauche auf das Wort «Bildung» nicht einzugehen, sein Sinn ist bekannt genug – die Heraus-bildung des Bildes, das zustandekommen soll aus dem menschlichen Rohstoff.
In der Tat ist der Mensch ja als ein Mikrokosmos eingelassen in alle Schichten der Welt, er reicht hindurch vom Höchsten des Geistes bis in das Unterste des Stoffes, vom Bewußtesten bis ins Unbewußte, nicht so, als herrschte hier eine Kluft waagerecht zwischen Geist und Stoff, sondern in unmerklichen Übergängen durch das Tierhafte in das Pflanzenhafte ins rein Materielle hinab – überall ist Mensch; darum wird er von den Alten als Mikrokosmos bezeichnet. Diese vielen Reiche des Seins, die er in sich hat, von der Freiheit bis zum Naturgesetz, diese muß er zu einem Bild runden. Es genügt längst nicht, wenn er in seiner Geistspitze irgendwelche großartigen Entscheidungen fällt, sondern es geht darum, wie dies Aristoteles und Platon vor ihm eingeschärft haben, daß der ganze Mensch domestiziert werde unter dem Geist. Aristoteles nennt das das ethízesthai, das heißt das Ethos durchführen bis in das Materielle hinein durch alle Reiche hindurch, die Eingewöhnung des Geistes in den Stoff.
Nun aber kann der Mensch eben nicht alles zugleich sein; er muß eine Gestalt herausbekommen aus diesem Weltstoff; er muß wählen. Er muß wählen, was er sein will und sein kann. Und um das Eine zu wählen – denn Wahl schließt ja immer aus – muß er auf vieles, auf fast alles andere verzichten. Daher haben die Griechen von Platon bis zu Plotin immer das Bild der Statue, die herausgemeißelt wird, gebraucht. Irgendwo in diesem Klotz steckt die Statue, und ich muß abhauen, muß dauernd entfernen, damit der Kern herauskommt. Unter Umständen kann dieses Bild, das herauskommen soll, den ganzen physischen und natürlichen Menschen fordern. Dem antiken Menschen steht dauernd das Bild des Sokrates vor Augen, der die Werthierarchie aus seiner Existenz herausgemeißelt hat und der für das Bild, das er vor die Welt stellen wollte, auf alles, auch auf sein Leben verzichtet hat. Die Gesetze Athens, so schildert er’s, treten auf ihn zu, als ihm die Flucht aus dem Gefängnis vorgeschlagen wird; die Gesetze fordern ihn ein in das Ethos und fordern ihn auf, zu bleiben, d. h. zu sterben. Das Bild des Sokrates hat die ganze Geschichte der Philosophie überleuchtet; immer wieder taucht es auf. Wenn Boethius im Kerker sich aufbäumt gegen die Ungerechtigkeit seiner Verurteilung, dann tritt die Philosophie mit dem Bild des Sokrates vor ihn. Sie redet auf ihn ein, bis er zugibt, daß sie recht hat. Von Boethius geht der Bogen herüber zu Dante, dem vorgeschlagen wird, unter gewissen Kompromissen könne er aus der bitteren Verbannung nach Florenz zurückkehren; aber er geht nicht, denn er hat ein Bild von sich selbst, um dieses willen verzichtet er. Denken wir auch an eine Figur wie Gandhi; er hat ein Bild dessen, was er der Welt mit sich an seiner Existenz zeigen will, und die Kunst, die áskesis, die Anstrengung, dieses Bild glaubhaft vor die Völker hinzustellen, hat sein Leben gekostet, gefordert; das eine Notwendige, das ihm vorschwebte, er hat es gekonnt. Und jene buddhistischen Mönche und Nonnen, die sich in unseren Tagen in Flammen versetzt haben, die haben wirklich eine Flamme aus ihrer Existenz gemacht, und sie hat geleuchtet, um gegen unseren christlichen Integralismus und unsere Intransigenz zu protestieren.
Der Mensch steht dauernd in einer Wahl, in einer Entscheidung zu sich selbst. Er wäre gar nicht Mensch, wenn es nicht so wäre. Und dies eben bedeutet auf jeden Fall Verzicht. Jede christliche Tat ist ein Verzicht, ein Verzicht auf das Nichtentscheiden, auf das Sichgehenlassen, auf die dolce vita, auf den Genuß, alles zu können und zu dürfen, auf die tausend Möglichkeiten, die ich hätte, aber ich will das Eine. So ist die Frage im Grunde gar nicht: soll ich mir Zucht auferlegen? – wenn ich Mensch bin, bin ich wohl oder übel in einer Zucht – sondern wie nehme ich sie auf mich und zu welchem Ziel und Bild?
Es gibt grob gesprochen drei mögliche solcher Zielbilder. Das eine ist die Idee des Menschen; und die Idee des Menschen ist die Höhe, mit der er aufragt über das Nichtmenschliche, die Höhe seines Geistes und seiner Freiheit über all dem, was in ihm Natur ist, über allem, dem er triebhaft verfallen könnte. Vernunft sagt eo ipso immer Freiheit. Es gibt keine Möglichkeit zu denken ohne Freiheit, und also liegt im Denken auch immer eine Entscheidung. Und in dieser Höhe, dieser Königlichkeit des Menschen, mit der er als Herrscher über die Welt gesetzt ist, wie schon im ersten Kapitel der Heiligen Schrift steht, hat der Mensch seinen Adel gegenüber der Gemeinheit, hier unterscheidet er sich. Die Idee vom Menschen. Dann gibt es aber zweitens die Idee der Leistung, des Werkes, wenn Sie wollen der Sendung, diese merkwürdige Besessenheit des Menschen, irgendetwas in die Welt zu stellen, die Welt zu ändern, einer Sache zu dienen und alle seine Kräfte in ein Werk zu verschwenden. Aber es gibt darüberhinaus noch ein Drittes, das erst aufleuchtet im christlichen Bereich – wir wollen es dafür aufsparen – das ist die Idee der Liebe. Liebe geht immer, wenn sie echt ist, auf ein Du. Sie will das Du und nicht das Ich; darum ist die Liebe im tiefsten ein Verzicht.
Wir können jetzt schon sehen, wenn wir diese drei Leitbilder vor uns stellen, daß Verzicht immer sinnvoll ist auf etwas Positives hin. Wenn ich das Bild des Menschen sehe, dann will ich den höheren Wert; wenn ich das Bild der Leistung sehe, dann will ich die stärkere Tat; wenn ich das Bild der Liebe vor mir habe, dann will ich das größere, das wertvollere Geschenk.
Das Bild des Geistes hat für unser Abendland Griechenland aufgestellt, das Land der Philosophie. Alle Kultur wird vom Geist, von der Vernunft, vom noûs, vom lógos gemacht. Cultura – lesen Sie einmal Virgil, die Bauerngedichte, die Georgica; da wird gezeigt, wie der Mensch die Bäume und die Tiere in Zucht nimmt und wie dies ihn nun selber in Zucht nimmt – im labor improbus, wie Virgil sagt; und wie er dann im Gegensatz zu seinem Vorbild, Hesiod, dem alten Bauerndichter, sagt: Gott hat dem Menschen die Leichtigkeit weggenommen, nicht um ihn wegen des Feuerraubes zu strafen, sondern um ihn selber zu kultivieren, damit durch die Anstrengung der Arbeit das Wertvolle aus dem Menschen erst herauskomme – cultura, Zucht. Alle Vernunft ist asketisch. Und wenn Nietzsche noch so sehr über die Asketen im Christentum spöttelt, er führt die Askese ja gleich selbst wieder ein, und dieses Gesetz, daß der Geist sich selber wehtun muß, wenn er etwas werden will, läuft ja dem ganzen Werk Nietzsches entlang. Die höchste Anstrengung des Menschen mit sich selbst, bis zum Heroischen, macht die Geschichte des menschlichen Geistes aus, längst vor dem Christentum. Bilder treten da vor unseren Blick, die uns erschrecken, von einem Radikalismus, von beinah sinnlosen Forderungen und Überforderungen des zarten menschlichen Gebildes. Mit Schaudern und Ehrfurcht sprachen die Griechen von jenen Gymnosophisten in Indien, die alles, aber auch alles weggelegt haben, um sich, ins Innere zu konzentrieren und nur Geist zu sein. Indien ist der erste reine Sieg des Geistes über die Materie, das ungeheure Erlebnis der Freiheit, der Erhobenheit über die Welt. Hegel hat das immer so dargestellt in seinen Abrissen der Geschichte der Philosophie. So radikal, daß alles übrige zum Schein und zur Gleichgültigkeit herabsinkt; dort, wo ich mich mit dem Letzten, dem Absoluten einen kann. Gehen wir zu den Griechen, schlagen wir den lieben alten Homer auf – ja, die Helden, die er uns zeichnet, sind Helden, weil sie mitten im Tode leben, in einem unaufhörlichen Wagnis und Einsatz des Lebens jeden Augenblick – um der Größe, um des Ruhmes willen. Der Dulder Odysseus, der gegen Götter selbst kämpfen muß, der sich den Schemel und den Kuhfuß an den Kopf werfen lassen muß, weil die Göttin ihm sagt: du mußt es dulden, warte deine Stunde! Duld es, mein Herz, Hündischeres hast du schon erlebt, sagt Odysseus zu seinem bellenden Herzen. Und dann dieser seltsame Pindar, den wir so schwer nachvollziehen können, weil er in der letzten Anstrengung des Menschen wirklich das Übermenschliche im Menschen aufblitzen sieht. Die Siegeslieder auf die Sportshelden, ja, das sind Bilder des Übermenschlichen. Höchste Anstrengung ist zugleich, sagt Pindar, die Gnade des Gottes. Und wenn der Sieger sich nachher sonnt im Ruhm seiner Tat, und die ganze Familie und die ganze Stadt und ganz Hellas erleuchtet wird von seinem Sieg, und der Dichter ihm alle Kränze zu Füßen legt, seiner göttlichen Muse, so mahnt er ihn gleichzeitig: vergiß nicht, daß es die Gnade des Gottes war. Höchste Anstrengung, höchste Askese, eins mit dem strahlenden Sieg des Menschen. Die Tragiker: die Menschen, die sie auf die Bühne stellen, sind jedes irdischen Wertes beraubt, jenseits aller menschlichen Güter geraten – Untergänge ohne Zahl; immer wieder sind es die Verlassenen, die Entblößten, die Nackten, die Schutzflehenden, die auf die Bühne gestellt werden. Und seltsam, immer sind es Könige und königliche Menschen, als ob nur der ganz große Mensch so etwas aushalten kann wie das, was der Antigone oder dem Ödipus zugemutet wird, oder der Iphigenie, die erfährt, daß sie geschlachtet werden muß. Und wir sehen bei Euripides, wie sie sich durchringt zu dem freiwilligen Opfer für das Vaterland.
Die Askese fängt also längst vor Platon an und vor der Philosophie, die uns nun zeigt, daß der Mensch Freiheit hat als Seele über dem Leib und daß die Tugend darin besteht, daß er aus dieser Freiheit heraus nunmehr aus sich selbst ein geordnetes Reich, eine Polis stiftet. Das kann er aber nur, wenn er darüber steht und die Gerechtigkeit, die höchste Tugend, besitzt, die jedem das Seine gibt, dem Leib und der Seele, der Begierde und dem Zorn, genau nach dem Maß, das der Geist in der Hand hat. Aristoteles wird das weiter ausbreiten. Die schönen Dinge, die Platon hinsichtlich des Eros sagt, den er sehr wohl anerkennt als eine Grundkraft des Menschen und nicht unterdrückt, aber die er in ein kosmisches Maß bringt, das von zuunterst, von der Liebe zu dem einen schönen Leib durch alle Stufen hinaufgeht bis zur Liebe des Schönen überhaupt. Und wie er uns dann im «Phaidros» noch anweist, wie man es halten soll mit dem Leib, bei dieser griechischen Freundschaftsliebe: es werden nicht alle stark genug sein, sagt er, aber wer es kann, der soll es doch versuchen, dies alles vom Geist aus verzichtend im Zaum zu halten. Und wenn der betrunkene Alkibiades am Ende des Gastmahls hereintorkelt und ziemlich anzügliche Dinge erzählt, wie er’s mit Sokrates versucht habe – ihn zu verführen nämlich – und wie das ausgegangen ist in jener Nacht, da sie allein waren und friedlich wie Vater und Sohn zusammenlagen; denn jener war nicht verführbar. Und er sagt: der Sokrates, ja, der ist von außen wie das Bild eines Silens; aber es gibt Bilder, die man aufschlagen kann (wie heute die kleinen Reliquienschreine, die die Christen haben), und innen sind Götterbilder. Das habe ich gesehen, dieses Götterbild, sagt Alkibiades.
Wir brauchen uns nicht lange mit den Stoikern aufzuhalten; wir kennen ihre Askese zur Genüge; aber ein Wort vielleicht doch über Epikur, den Philosophen der Lust. Was heißt Lust? Lust ist jene Stille – Meeresstille, «galéne» pflegt er sie zu nennen – durch die der Mensch ein Gleichgewicht des Gemütes besitzt: das ist das Beste, meint Epikur. Er war ein schlichter Mann, der mit wenigem zufrieden war, der gesagt hat, man solle sich an nichts hängen, der in Schmerzen tapfer gewesen ist; wir besitzen ein Brieflein von ihm, das er auf dem Todesbett schrieb, als er fürchterliche Schmerzen hatte. Er hat uns geraten, die falschen Ängste zu besiegen, darum hat er die Götter weit weggeschoben und vom Jenseits nichts gehalten und auch von den Priestern nicht viel oder sehr wenig. Er hat viel von Freundschaft gehalten und auch von Wohltätigkeit. Er wollte nichts, was das Gewissen des Menschen trübt: Denn nie kannst du dich darauf verlassen, daß etwas unentdeckt bleiben wird, sagt er. Er ist gegen die unendliche Gier des Fleisches, für den Geist, der mit seinen Grenzen zufrieden ist, sagt er im 20. Hauptsatz seiner Philosophie. Epikur ist nicht ganz das, was wir uns gewöhnlich unter einem Epikureer vorstellen. Denn ein solcher ist kein Philosoph. Von Plotin wollen wir nicht reden, der eigentlich alles nur auf die Karte Gottes setzt. Geist bin ich, sagt er, und alles, was ich sonst bin, muß emporgezogen werden in den Geist, nicht verleugnet, aber verklärt.
Griechen haben die Philosophie geprägt. Diese Philosophie ist sehr hart, sie ist sehr fordernd. Man könnte darüber setzen, was Kierkegaard gesagt hat: «Geist sein heißt leben wie gestorben». Das ist ja der Sokratespunkt, in welchem da gelebt wird; und alle diese Philosophen fordern selbstverständlich das Tun oder die Existenz entsprechend dem Geist. Wir könnten aus diesem Bild des Menschen nun viele Anwendungen auf den alltäglichen Menschen, auf den jungen Menschen machen; wir könnten mit Leichtigkeit hier eine Ethik der Liebe entwickeln. Wie Liebe selber ein personaler Akt ist und Liebe wieder vor einer Person steht, die selbst Geist ist, wie das Geschlechtliche Ausdruck dieser gesamtmenschlichen Liebe und Haltung ist und daher ein Maß fordert vom Geist her, wie die Freude und das Vergnügen von der Natur in den Menschen gelegt wird (wie Platon sagt) als eine Prämie für den, der richtig mit der Natur umgeht, eine Freude, die eingeordnet ist in die Ordnung der areté, der Tucht, wie es im «Philebos» geschildert wird. So ist also jeder Mißbrauch dieser Funktion sinnlos, geistwidrig, personwidrig. Was soll man zum Beispiel sagen über Selbstbefriedigung im Sexuellen; sie ist philosophisch nicht zu rechtfertigen, sie steht wider die Vernunft, denn es ist eine Funktion der Liebe, die sich ja nur im anderen erfüllt und in mir gar nichts erfüllen kann. Von diesem einen Beispiel geht der Blick in die Zucht des ganzen Menschen hinein, die die Selbstrealisierung des Menschen als eines Herrschers über sich selbst und die Welt fordert; daß er sein Heer als Feldherr immer gelenkig und aufmerksam unter sich hat, daß, wie Pater Lippert einmal gesagt hat, man immer wieder nachsehen muß, ob die Weichen noch funktionieren und nicht etwa eingerostet sind. Ich muß wieder einmal die Mäßigkeit wirklich durchprobieren in den verschiedensten Lebensbereichen: Essen und Trinken, Rauchen oder was immer es sein mag: kann ich’s eigentlich noch; bin ich noch Herr darüber? Nicht nur in diesen gleichgültigen Dingen, sondern auch in sehr edlen, wo man sich ja auch eine gewisse Sucht aneignen kann; zum Beispiel kann ein Musiker zuviel musizieren, kann sich in einen Rausch hinein spielen u. dgl. Ich wollte diese Dinge nur andeuten, weil sie alle in der Richtung des Philosophischen liegen, noch gar nichts mit Christentum zu tun haben. Das können Sie ja alles in der Politeia Platons oder in den aristotelischen Ethiken finden.
Aber das ist nur eine statische Idee des Menschen; das zweite ist sein Werk. Die Griechen sind Philosophen; die Römer und die Juden haben die Askese des Werkes oder der Sendung, Vielleicht ist die Idee Roms nirgends schöner dargestellt worden als in der Äneis. Ausgangssituation ist das brennende Troja, ein endgültig besiegtes, vernichtetes Volk – Schmach, Untergang, Verzweiflung, Brand, Selbstmord. Und ein Gott flüstert Äneas ein: du bist berufen! Er weiß noch nicht, wozu. Aber er glaubt dieser seiner Sendung, und er zieht aus, mit dem alten Vater auf dem Rücken, der nicht mehr gehen kann, dem kleinen Sohn an der Hand, und in der anderen Hand hat er die Götter seines Hauses. Und jetzt geht’s durch alle Irrfahrten und Niederlagen hindurch, und immer werden Orakel gefragt; wo geht der Weg, wie ist die Spur, die ich verfolgen muß? Er tastet sich von einem zum andern voran; es kommt die Versuchung, die asiatische Versuchung Roms, Carthago, Dido; es ist die Zeit der Schlacht von Aktium, die Zeit der Kleopatra, die beinahe den Cäsar und ganz den Mark Anton verschlungen hat. Und der Gott muß Äneas dort wieder wecken und ihm seine Sendung neu einschärfen: Und wenn es dir selber nicht an deiner Sendung gelegen ist, sagt der Gott, dann denke an deinen Sohn, an den Julus, aus dem die Julier hervorgehen sollen. So reißt er sich los, und das Weib bleibt dahinten und bringt sich um; er trifft sie nachher im Infernum. Der Vater stirbt, die Frauen rebellieren in Sizilien und bleiben zurück; aber immer weiter, immer geradeaus geht der Weg, durch zwölf Gesänge, bis er es vollbracht hat.
Die Askese des Wirkenden; nur eine Idee, und alles andere ist gleichgültig. Neben Äneas muß man eigentlich Abraham stellen. Auch da flüstert ein Gott; du bist berufen! Und dann geht es geradeaus auf eine vage Verheißung zu; man weiß nicht, was es sein wird. Und ganz Israel ist dieser Glaube, wie auch Rom ein Glaube war im ganzen. Moses reißt sie alle mit sich in die Wüste: Verzicht auf die Fleischtöpfe Ägyptens. Der Prophet reißt das Volk, wohin es nicht will; und schließlich, da sie immer noch nicht wollen, zwingt sie Gott in die ärgste Askese der Verbannung, in die Rolle des Gottesknechtes hinein, so sehr, daß man ja bei diesen Texten nicht weiß, ob es Christus oder ob es Israel ist. Wir werden wohl sagen müssen, beide zusammen. Zunächst Israel – der Rest, diejenigen, die stellvertreten für alle, die nicht wollen – und in der Mitte ist ein glühender Kern, und das ist Jesus Christus. Jeder große Mensch ist von seinem Auftrag besessen; das braucht man nicht zu beweisen, man weiß es einfach. Aber jeder Mensch, der sich einen Auftrag geben läßt, der der Stimme lauscht, bekommt ihn auch. Und es ist seltsam, wie die schönsten, die freudigsten Werke, die Millionen in Freude versetzen, aus asketischem, verzichtendem Leben heraussteigen. Man wagt nicht daran zu denken, wie es diesem jungen Mann zumute gewesen sein muß, der die 650 Nummern des Köchel-Verzeichnisses gefüllt hat und dann mit 35 Jahren gestorben ist. Die Leiden und die Verzichte, die in dieser herrlichen Musik stecken. Und von Schubert wissen wir’s auch, und von Schiller wissen wir’s, was das für eine Schinderei war, diese tägliche Form. Und von Goethe machen wir uns wahrscheinlich auch ein falsches Bild. Man muß die Wahlverwandtschaften lesen, man muß die Wanderjahre lesen, überschrieben «die Entsagenden», und muß wissen, wie sehr Goethe gelitten hat unter der Gestalt des Nichtverzichtenden, vom Clavigo bis zum Faust, bis zum Eduard. Der Beispiele sind Legionen. Aber der Mensch, der den inneren Reichtum seiner Aufgabe hat, ist erhaben über all die präfabrizierten Vergnügungen der modernen Kultur. Und man kann sich lustig machen als Christ über die autárkeia der Griechen und sagen, es sei Hochmut. Autárkeia – ich bin mir selber genug. Etwas Wahres ist daran. Ein alter jüdischer Freund von mir, der jetzt in Amerika lebt, hat einmal im Witz gesagt: Wenn ich allein bin, dann bin ich in schlechter aber interessanter Gesellschaft. Der Mensch, der eine Aufgabe hat, kann sich eigentlich nie langweilen. Er ist immer auf etwas hin gespannt, beschäftigt. Es kann aussehen, wie wenn er ehrgeizig wäre; aber wenn man tiefer fragt, geht es ihm nicht um den persönlichen Ruhm; es geht ihm sozusagen um einen objektiven Ruhm. Die Sache soll strahlen. Ob es anerkannt wird oder nicht. Daß ich es getan habe, das ist nicht so wichtig. Aber die Freude, es hingestellt zu haben, davon leben viele Menschen heute, Techniker und Forscher und Ärzte und so viele andere, die in einem ganz unpersönlichen Dienst sich verzehren, im Ethos für eine große Sache, und wär’s, auf den Mond zu fliegen.
Erst jenseits von alledem kommt nun das dritte, das Christliche. Und dieses Christliche überbietet die beiden anderen Gesichtspunkte, ohne sie zu entwerten. Denn die Ordnung im Menschen, wie die Griechen sie fordern, ist gut. Sie muß um jeden Preis sein; aber es könnte sein, daß, wenn der Mensch nichts anderes im Kopf hat, er zu einem Pharisäer würde, zu einem Egoisten, zu einem Ästheten, der seine schöne menschliche Persönlichkeit ausbaut. Und wenn bloß die Hingabe wäre an das Werk? Diese Hingabe ist gut, aber muß der Mensch sich nicht fragen: lohnt denn das, was ich da tue? Und daran scheitern heute viele. Wieviel echte Hingabe hat ein Hitler empfangen und entgegengenommen. Wieviel echte Opfer wurden ihm gebracht. Welche Askese fordert vom Menschen das technische Zeitalter: die Fabrikexistenz, die Büroexistenz. Und meine einmalige, lebendige Existenz soll ich drangeben für kleine technische Verbesserungen irgendeines Staubsaugers, oder auch nur die Kolportierung des Artikels, der mir im Grunde ebenso gleichgültig ist wie irgendein Fisch in der Tiefsee. Bin ich dazu geboren – ist das mein Werk? Das ist eine Frage, die vielleicht heute brennender ist als in Zeiten des Handwerks, des Bauerntums, da jeder sozusagen eine persönliche, wenn auch bescheidene Leistung hinstellen konnte.
Die Philosophie, die Weltweisheit bietet hier noch ein Wort, ein letztes, nämlich den Dienst am Ganzen, die Integration in das Ganze. Das lehrt uns Platon in seinem Staat, das lehrt uns Hegel, das lehrt uns Marx. Aber das Ganze könnte vielleicht doch auch das Sinnlose, das Grausame sein, das Ungeheuer, das die lebendigen Herzen verschlingt? Und nun taucht eine letzte und blinde Hoffnung auf, auf den Sinn dieses Gesamten, das wir in der Neuzeit mehr als eine Gesamtevolution sehen. Diese blinde Hoffnung könnte sich wahrscheinlich so formulieren: weil ich mich ganz drangebe, darum kann das Ganze nicht sinnlos sein. Großmut – ja, es gibt sie überall in der Menschenwelt, erzwungene, freiwillige Großmut – aber wie nah der Verzweiflung.
Das Christliche sagt darüberhinaus etwas ganz anderes. Es sagt sehr schlicht: Gott liebt dich: Er liebt dich bis in den Tod, bis in den Tod am Kreuz. Willst du Ihn dafür wiederlieben? Das ist die christliche Botschaft und dann die christliche Ethik. Dahinein nun kann man das andere integrieren: Sei ein Mensch, sei Geist, sei frei, um die ganze Liebe zu Gott leisten zu können als Antwort auf die Liebe Gottes. Und das zweite: Gott hat alles für dich getan, und nun ruft Er dich auf in Seinen Dienst, um Sein Werk mitzutun. Ergreife also deine christliche Sendung und Berufung. Wenn dieses vorausgesetzt ist, ist eigentlich ein Fragen und Schwanken nicht mehr möglich, denn die antwortende Liebe ist in jedem Fall sinnvoll und fruchtbar. Mag nun der weltliche Ertrag der Evolution des Ganzen aufgerechnet werden können oder nicht. Diese Liebe zu Gott, der uns in Christus Seine absolute Liebe erwiesen hat, ist schlechterdings der Schlüssel für die gesamte christliche Askese – sowohl dort, wo sie die natürliche menschliche Askese vollendet, wie auch dort, wo sie noch etwas Eigenes und Neues dazubringt.
Wir können es wieder am deutlichsten im Geschlechtlichen exemplifizieren. Denn das Geschlechtliche steht ja irgendwo im Zentrum des Christlichen. Weil das Christliche die Liebe ist, muß ja hier ein neuer und ganz positiver Sinn eingesenkt werden. Die Philosophie als solche wird immer eine gewisse Reserve haben, ein Übersteigen fordern, ein Hinter-sich-lassen. Das Christliche aber geht in der entgegengesetzten Richtung. Philosophie geht vom Menschen zu Gott; im Christlichen kommt Gott zum Menschen, der Mensch wird endgültig bejaht. Es wird das gesamtmenschliche Leben zu einem Gleichnis, einem Ausdruck und einem Gefäß ewiger Liebe und Treue. So ist es schon im Alten Testament, so wird es endgültig im Neuen. Christliche Ehe zwischen Mann und Frau ist Bild ewiger Liebe zwischen Gott und Mensch. So deutet Paulus die menschliche Ehe, fordert eine ebenso totale Hingabe des Einen an den Andern im Blick auf die Hingabe Gottes an den Menschen: Ihr Gatten, seid so gesinnt wie Christus zur Menschheit, zur Kirche gesinnt war, und umgekehrt. Und daher ist der Akt, der schon im philosophischen Bereich ein gesamtmenschlicher Akt war aus Natur und Geist, überhöht und verklärt in ein gnadenhaftes Lieben zwischen Menschen. Nächstenliebe bekommt hier eine höchste menschliche Möglichkeit, die ebenso völlig durchtränkt ist von göttlicher Liebe. Wenn man das vor Augen hat, dann sind eigentlich die sexuellen Probleme, die im einzelnen immer schwer und bitter bleiben mögen, doch im ganzen durchlichtet und polarisiert. Dann versteht man etwa, was es bedeutet, in der Zeit einer Bekanntschaft oder Verlobung den Ernst der Gesamtliebe, die man einander schenken will, in Erwägung zu ziehen, deshalb in jener Distanz voneinander zu bleiben, die das ganze Du in den Blick bekommen kann. Das bedeutet selbstverständlich schwere Verzichte. Ich muß aber diesen Verzicht leisten, wenn ich nachher die christliche Liebe in einem vollen Sinn darleben können will, über die Zeit hinaus, wo das Triebhafte mich trägt. Die Liebe muß ja auch dann noch vorhalten, wenn ich diese Erleichterung nicht mehr habe und doch ein Gelübde, ein Gelöbnis der Treue bis in den Tod durchhalten soll.
Dahinter steht das tiefere Geheimnis – ich rede für glaubende Christen – daß Gott Fleisch geworden ist, und zwar, wie es in Joh 17 heißt, um Macht über alles Fleisch zu bekommen, durch seine Demütigung bis in den Tod, seine verzichtende Liebe. Das unaufhüllbare Geheimnis des Abendmahles, der Eucharistie besagt doch, daß hier ein Leib ins Unendliche hingegeben, vergossen und fruchtbar wird, und daß Mensch und Kirche und Menschheit im ganzen sich diesem Geheimnis gegenüber bräutlich zu verhalten hat, wie der Alte Bund es schon weiß und der Neue es vollendet, um den Samen Gottes – das Wort stammt von Johannes – in der Demut der Magd des Herrn zu empfangen.
Welche Linien lassen sich von hier aus ziehen, von den Liebesmöglichkeiten des natürlichen Menschen in diese höchsten, verborgensten und allerwirksamsten göttlichen Weisen geistig-leiblichen Liebens hinein? Hier hat die Idee der Jungfräulichkeit ihren Platz. Wer es fassen kann, der fasse es, sagt Jesus im Evangelium. Ehelos um des Himmelreiches willen sein: wozu? Weil die Liebe etwas Gefährliches ist? Nein, sondern weil die größere Liebe Gottes verlangen kann, daß ein Mensch in dieser totalen Weise antwortet, sich hingibt, zur Verfügung steht. Ein überschwängliches Bild steht hier am Ursprung: das Bild der Jungfrau-Mutter, die durch ihre Jungfräulichkeit Mutter wird, weil sie Leib und Seele Gott zur Verfügung hält wie eine Braut und von Gott her in einer unendlichen und unvorstellbaren Weise mütterlich, bräutlich befruchtet wird. Alles was in der Geschichte der Kirche, in der Geschichte der Orden Evangelische Räte heißt, hat hier seinen Ursprung und einzigen Sinn. Der Mensch geht nicht ins Kloster, um seine Persönlichkeit zu kultivieren oder weil die Welt zu schlecht ist, sondern er geht um der größeren Liebe willen, um ungeteilt der Liebe Gottes zur Verfügung zu stehen. So wie Gott sich ungeteilt in Christus an die ganze Welt verschenkt hat. Die Kleine Theresia hat dies immer wieder dargestellt. Und mit dieser Exklusivität der Liebe, die in Maria sichtbar wird, geht zusammen die Armut: Mein Gott, ich will nichts für mich selber haben – verfüge Du über alles – die Kirche, die Armen, die Welt kann alles haben…; geht zusammen der Gehorsam, in der Meinung: ich will nicht selber dirigieren und lenken und bestimmen, sondern ich stehe zur Verfügung; mir geschehe nach Deinem Wort.
Wie sich das ausgliedert in verschiedene Lebensformen, das wollen wir hier nicht erörtern. Der Mensch kann z. B. durchaus so zur Verfügung stehen, daß er ein Leben der Kontemplation führt, genau wie Maria von Bethanien im Evangelium: sie hat den besten Teil erwählt; sie will nur Gott, nur die Liebe Gottes. Und diese kontemplative Liebe ist das Fruchtbarste, was es in der Christenheit gibt. Warum wäre sonst die Kleine Theresia Patronin aller Missionen geworden? Dann die aktiven Lebensformen in der Kirche: dem Reich Gottes zur Verfügung stehen, für alles, was es braucht. Dann die Möglichkeiten, die sich heute eröffnen und wie die Säkularinstitute sie leben – im weltlichen Beruf für das Reich Gottes zur Verfügung stehen: Ich arbeite an meinem Posten, als Jurist, als Arzt, als Journalist oder was immer; und warum soll ich das nicht in einer Liebe tun, die das Evangelium erlaubt?
Charles de Foucauld hat einmal den Gedanken geäußert, daß alle diese Lebensformen unmittelbare Nachfolge Christi seien, der 30 Jahre als Arbeiter in der Welt gelebt hat, der 40 Tage in der Wüste allein in Gebet und Fasten verbracht hat, und der schließlich drei Jahre, höchstens drei Jahre, im Dienst, im aktiven apostolischen Dienst dem Reich Gottes zur Verfügung stand. In der Welt, im Kloster, im Priestertum, überall ist es dieselbe eine Liebe, die, menschlich gesehen, ein Verzicht ist (der Verzicht ist in den Räten ausgesprochen) und doch als Liebe nie auf den Verzicht schaut, sondern sich einfach zur Verfügung hält. Räte sind dazu da, damit der Mensch Raum gewinne für Gott, für die Bedürfnisse Gottes.
Nun sagt uns aber Paulus im ersten Korintherbrief, daß der Geist dieser Räte in jeder christlichen Existenz vorhanden und wirksam sein muß, weil jeder Christ mit Christus der Welt gestorben ist, dem alten Adam, dem alten Menschen, und als neuer Mensch mit Christus auferstanden ist, nicht etwa in einen fernen Himmel hinein, sondern in die neue Welt, die Jesus Christus, der Auferstandene, selber ist. Weil dem so ist, daß jeder Christ diesen vollen Verzicht schon in der Taufe geleistet hat, im Taufbund, im Taufgelübde, darum sollen die Besitzenden sein, als besäßen sie nicht, und die Verheirateten, als wären sie nicht verheiratet, und die Verfügenden, als verfügten sie nicht. Alle weltlichen Punktionen sind da, und doch sind alle überhöht in die eine Liebe Gottes, in das Absolute der Liebe hinein, die aus der Höhe (und nicht aus der Ferne) alles überherrscht. Möglich, daß das nicht leicht ist und daß wir die Spannung fühlen unsere christliche Existenz hindurch und uns jeden Tag neu fragen müssen: wie bringt man denn das zusammen? Fertige Rezepte gibt es hier keine. Es kann nur gelebt und durchgestanden werden. Und in der christlichen Entscheidung jedes Tages und jeder Stunde erhebt sich die Frage: ist das Geforderte jetzt, daß ich gebrauche, genieße, oder daß ich mich erhebe und verzichte und für Größeres zur Verfügung stehe? Und wenn ich gebrauche und wenn ich genieße, dann muß es in einen höheren christlichen Gesamtsinn und Gesamtplan der Existenz hineinpassen. Das ist die Freiheit, von der Paulus im Galaterbrief redet. Diese Freiheit wird erreicht in der positiven Askese der Liebe. Denn positiv ist wohl nur die christliche Askese ganz. Wir sagten schon: der Philosoph, der Mensch außerhalb des Christentums ist vom Menschen her unterwegs zu Gott. Er sucht das Absolute. Darum ist die Tendenz außerhalb des Christentums immer – wagen wir das starke Wort – weltflüchtig. Indien – Sokrates – Platon – Stoa – Neuplatonismus – immer fällt ein Schatten auf die Endlichkeit, immer scheint der Schleier der Maya niederzufallen. Im christlichen Bereich wird Gott Mensch, und der ganze Mensch wird Ausdrucksmittel der Liebe Gottes. Da ist es eine Freude, asketisch zu sein, das heißt sich zu einem Instrumentar christlicher Liebe durchzugestalten. Das ist ein Bild des Menschen, das sich lohnt, wo wir im Grunde auf keine echt-menschliche Funktion zu verzichten brauchen – etwa auf Leidenschaften, wovon die Stoiker uns sagen, daß sie böse seien. Nein, sie sind gut, wenn sie in der Ordnung sind. Und auch die leibliche Liebe – und welche Liebe ist nicht immer auch leiblich; gibt es denn eine rein geistige Liebe? So wenig wie einen rein geistigen Menschen – auch die leibliche Liebe gehört zum Menschen und bedarf derselben positiven Durchklärung durch die höhere, größere, größtmögliche Liebe. Die Liebe selbst ist die strengste Askese, denn die Liebe fordert ja dauernd die Selbstlosigkeit und die Freundlichkeit und die Dienstfertigkeit und die Gastfreundlichkeit und was immer es geben mag. Lesen Sie einmal bei Paulus ein bißchen in den Ermahnungen, die er an die Gemeinden gibt: es gehen eigentlich alle Gebote auf in Aspekte und Fazetten der Liebe. Überall muß der Mensch auf etwas verzichten, damit er etwas zu geben hat.
Diese Selbstzwecklichkeit oder Zweckfreiheit der Liebe sollen wir auch nicht verzwecklichen; sie ist schön so wie sie ist, sinnvoll in sich selbst. Man kann auch Gott, der die Liebe ist, nicht verzwecklichen. Was fange ich an mit dem Kapitel der Nächstenliebe? Gar nichts, ich lasse es, ich lasse es sein, ich lasse es blühen. Sie ist das Absolute, das in unserer Zeit schon lebt und webt. Das Wichtigste an allem ist das freie Geschenk. Und die Frage, die der Mensch an sich stellen muß und mit der wir schließen wollen, ist diese: Wie kann ich mich ganz verflüssigen, verschenken, zu reinem Licht und zu reinem Wasser machen – zu dem, was Paulus nennt ein Duft für Gott und für die Menschen?
Hans Urs von Balthasar
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Askese
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Saint John PublicationsYear:
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