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«Heilig öffentlich Geheimnis»
Zum Glaubensartikel «Geboren aus der Jungfrau Maria»
Der Titel des vorliegenden Aufsatzes stammt aus Goethes Gedicht «Epirrhema».
Mit dem Geheimnis Marias ist es eine eigene, sehr geheimnisvolle Sache. Nach dem noch tieferen Geheimnis Christi, der Mensch ist wie wir und doch Gott, hat keines die katholische Christenheit durch alle Jahrhunderte stärker beschäftigt; ungeheure mariologische Summen wurden verfaßt, aber seltsamerweise brechen die aufgetürmten Begriffsgebäude nach einer oft fieberhaft arbeitenden Periode wie kraftlos in sich zusammen. Auf solche Perioden folgt dann eine der entmutigten Desinteressiertheit: doch wohl deshalb, weil das «heilig öffentlich Geheimnis» Marias auf echt frauliche Art durch alle Begriffsgespinste der Theologen, aber auch durch alle aufgehäuften Superlative der Prediger und Hymnologen hindurchgeht wie der Wind durch einen Stacheldraht: gleichsam selber an den Subtilitäten und Superlativen desinteressiert. Ist es, weil das Geheimnis der Frau überhaupt, und gerade das der Frau aller Frauen sich zwar immerfort offenbart und sogar preisgibt (warum sonst die vielen Marienerscheinungen?), aber nie so, daß es von den Empfängern durchschaut, gar «aufgearbeitet» werden kann? Das Paradox geht noch weiter: Das Geheimnis der jungfräulichen Mutterschaft Marias ist nicht nur ein geistiges, sondern zugleich ein ganz leibliches Wunder, und die Keuscheste aller Frauen verbietet der Christenheit nicht, sich Gedanken über das Intimste ihrer Leiblichkeit – die Vereinbarkeit zwischen echter Mutterschaft und echter Jungfrauschaft – zu machen und alle Hypothesen bis zu den ungereimtesten darüber aufzustellen, sie läßt ihr Geheimnis «öffentlich», aber deshalb nicht weniger «heilig» sein. Nichts in ihr ist nicht übergeben und in den Dienst aller gestellt, und gerade dies ist das Königliche an ihr. So hat das Nachgrübeln über ihr Mysterium sich immer wieder in einen schlichten Hin-Blick aufzugeben, und die fromme Rhetorik angesichts der Einfachheit der Magd des Herrn betreten zu verstummen. Monstranzen haben ihren Sinn, doch wie sehr werden sie von dem Stückchen Brot widerlegt, das sie umrahmen; der Glaube verfertigt sie, aber er bedarf ihrer nicht: genießbar ist nur das Brot. Ein wenig so verhalten sich auch die Mariologie und Maria. Was wir im folgenden von ihr sagen, versucht ohne Rhetorik auf ihr heilig-offenbares Geheimnis zu verweisen.
Die Mutter ist Jungfrau
Natürlich muß das Mysterium des Sohnes zuerst wahrgenommen und angeeignet werden, ehe innerhalb seines Lichtes das von ihm abhängige und es ergänzende Licht der Mutter aufscheint. So in der Bibel: erst in den späteren Evangelien taucht das marianische Geheimnis auf: bei Mattäus ganz hinbezogen auf Christus – Jungfrauengeburt als Erfüllung messianischer Weissagung –‚ bei Lukas sehr viel eingehender – nun werden alle Geschlechter sie selig preisen, … weil sie geglaubt hat –‚ bei Johannes in bedeutungsvoll symbolische Szenen eingeborgen: Kana und Golgotha. So auch in den ersten Jahrhunderten: erst muß das Mysterium Christi bis zur letzten Konsequenz durchdacht werden –* «wirklich* Gottes Sohn», «homoousios» –‚ damit gleichzeitig der (christologisch geforderte und gedeckte) Titel der Jungfrau-Mutter: Theotokos, Gottesgebärerin, seit Nikäa (325) auftaucht. Aber schon lange vorher sah man die Parallele zwischen der ungehorsamen Jungfrau und Mutter der Lebendigen: Eva, und der gehorsamen Jungfrau Maria, die damit zur Mutter des ganz neuen Lebensspenders geworden war: sie war ein Jemand, an den man bald auch Gebete zu richten begann (der Papyrus mit dem «Unter deinen Schutz fliehen wir, o Gottesgebärerin …» kann bis aufs Ende des 3. Jahrhunderts zurückgehen).
Dabei war die Jungfrauschaft von Mattäus und Lukas klar bezeugt, so daß man weniger sie als Marias echte Mutterschaft (gegen die leibfeindlichen Gnostiker) verteidigen mußte. Für Paulus war diese evident: «Geboren vom Weib, dem Gesetz untertan» (Gal 4,4). Niemand kam auf den Gedanken, dieses marianische Paradox von anderswoher zu sichten als vom Alten Testament, dessen klare Überbietung es darstellte: nicht nur die Unfruchtbaren (wie Sara, Hanna, Elisabet) gebären durch Gottes Kraft, sondern nunmehr gebiert ausdrücklich die vom Mann unberührte Jungfrau, in der diese Pneuma-Kraft Gottes endgültig die Alleinherrschaft gewinnt. Und zwar deshalb, weil das «Heilige», das Maria gebären soll, «Sohn des Allerhöchsten» (somit nicht auch noch der eines irdischen Vaters) sein wird. Damit erhält die Jesajaprophezeiung der «jungen Frau», die empfangen wird, um den «Gott mit uns» zu gebären (die Septuaginta übersetzt «die Jungfrau», was im alten Zusammenhang nur heißt, daß die junge Frau noch unberührt ist), ihre überschwengliche Erfüllung. Der Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Bund ist so klar, daß an fremde Einflüsse nicht zu denken ist. Und gerade vom Alten Bund her betrachtet wird die Mutterschaft keine mythologisch-gnostischen Züge tragen dürfen: wird dann aber die Jungfräulichkeit mit ihr – jetzt nicht bei der Empfängnis, sondern bei und nach der Geburt – noch vereinbar sein?
Die Väter ringen darum. Einigen wenigen (die aber schon im vierten Jahrhundert unter die Häretiker gerechnet werden) scheint es glaubhaft, daß Maria nach Jesu Geburt andere Kinder auf natürlichem Wege gehabt habe, eben die «Brüder Jesu» im Evangelium. Dies erschien besonders Ambrosius mit der Gottesmutterschaft nicht vereinbar. Aber «Jungfräulichkeit bei der Geburt» selbst? War das nicht entweder Doketismus oder dann ein Widerspruch zu den Folgen, ja geradezu den Prärogativen der Mutterschaft?1 Gegen alle Bedenken setzt sich seit der Zeit des Ambrosius und Zeno von Verona auch dieser dritte Aspekt der marianischen Jungfräulichkeit durch, weder aus Gründen manichäischer Leib- und Geschlechtsfeindlichkeit, noch aufgrund von Nachwirkungen früher Apokryphen (des zweiten Jahrhunderts, in denen eine Hebamme die Unversehrtheit Marias nach der Geburt prüft), sondern genau deshalb, weil das «inkarnatorische Gewicht» jungfräulicher Intaktheit aus der Reflexion über die «Immaculata Ecclesia» deren realsymbolisches Zentrum in der einzigen wirklichen Immaculata, in Maria gefunden hatte.
Natürlich steht im Hintergrund solcher Einschätzung der physischen Integrität eine Ganzheitsschau des Menschen, der Frau insbesondere, die unserem Zeitalter weitgehend verlorengegangen ist2. In dieser Ganzheitsschau besagt Jungfräulichkeit – die geistig und physisch ohne jede Kasuistik als Einheit gesehen wird – einen Zustand menschlicher Unversehrtheit, aber auch radikal-unbegrenzter Bereitschaft3, der durch den Geschlechtsverkehr aufgehoben und ins Partikuläre des Generationenprozesses abgetrieben wird. Dieser Zustand ist ein gesamtmenschlicher, in dem alles Seelische und alles Leibliche ununterscheidbar integriert. Wird nun dieser Zustand in Maria zum inkarnierten Ausdruck sowohl der ganzen Glaubenshaltung Israels wie der ganzen Verfaßtheit der Ecclesia – die nach der Ansicht der Väter (Origenes u. a.) aus ihrem Zustand des Dirnentums durch den Erlöser in den der Jungfräulichkeit zurückversetzt, geradezu physisch re-virginisiert wird, dann beginnt man zu ahnen, weshalb Marias Integrität in und nach der Geburt von theologischem Belang ist.
Dazu kommt ein anderes, das wir heute deutlicher sehen als die christliche Antike und das Mittelalter. Jedes Kind – also auch Jesus – wird zu seinem menschlichen Selbstbewußtsein durch den Anruf des Mitmenschen, zunächst der Mutter, erweckt und empfängt Gehalt und Gestalt seines Weltbewußtseins von ihr. Eine Christologie, die wie die des Thomas von Aquin das Kind Jesus allenfalls etwas von Dingen, nicht aber von Personen lernen lassen will4‚ weil die potentielle Wahrheit in den Dingen untrüglich sei, während die aktuelle in den Köpfen der Mitmenschen verfälscht sein könne, hat wohl nie das Verhältnis von Mutter und Kind überhaupt, und dieser Mutter zu diesem Kind insbesondere theologisch bedacht. Das Kind, das in sein aktuelles Gottessohnbewußtsein eingeführt werden muß (soweit diese Funktion wenigstens partiell einem Menschen zufällt), kann einzig von einer in jeder Beziehung unversehrten Mutter auf diesem Weg geführt werden.
Aber wie kann ein ganz jungfräuliches Wesen zugleich ganz Mutter und mütterlich sein? Die Antwort liegt beim überschattenden Heiligen Geist, der der Jungfrau das Kind des ewigen Vaters schenkt und damit ihre glaubende und hoffende Liebe zu Gott verwandelnd hinlenkt auf dieses Gottesgeschenk, das Gott in Menschengestalt ist. Wird aber – so müssen wir weiterfragen – Maria damit nicht zu einem völlig unirdischen Wesen, das jeden Kontakt mit unserer rauhen, brutalen Sünderwelt verliert? Um als jungfräuliche Mutter dieses Kind zu erziehen und in seine Sendung einzuführen, muß ihrer Jungfräulichkeit auch vollkommene Heiligkeit entsprechen: gehört sie aber dann noch zu unserer Welt?
Zwischen den Äonen
Die wirkliche Antwort auf diese Frage wird vom Sohn und von seinem Auftrag her erfolgen. Aber sie war nicht leicht zu finden. Denn zunächst war klar, daß Maria vollkommen solidarisch sein mußte mit der Menschheit, in deren Namen sie ihr Jawort zu Gott sprach, und dies besagte doch, daß sie, anscheinend wenigstens, unter dem Gesetz dieser Menschheit, also der erbsündigen Verfallenheit der Adamskinder gestanden haben mußte. Konnte sie etwas anderes sein als der zusammengefaßte, persongewordene Schrei des ganzen Geschlechts nach Erlösung, wenn auch hinaufgeläutert zu einem reinen, hoffenden Glauben: «Ach, daß Du die Himmel zerrissest und herabkämst!» (Jes 63,19). Hätte Maria nicht des Gereinigtwerdens von der gemeinsamen Verfallenheit bedurft, wie hätte sie dann mit uns solidarisch sein können?
Dieser Gedanke war im Geist vieler Kirchenväter und noch der großen Scholastiker bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts so verwurzelt, daß er darin gleichsam ungestört neben dem andern Gedanken lebte, daß die Mutter Jesu ohne Zweifel der reinste und heiligste aller Menschen war: Panhagia, die Allheilige, nannten sie die Griechen (und tun es bis heute), auch wenn sie an der durch Sündenfolgen bestimmten Konstitution Marias festhielten (und gerade heute, nach der Definition der unbefleckten Empfängnis, mehr als je festhalten).
Ohne hier auf die Geschichte des Problems im einzelnen eingehen zu können, sei nur angedeutet, in welcher Richtung man die Lösung suchte: die endgültige Reinigung, so nahm man durchschnittlich an, vollzog sich im Augenblick der Überschattung durch den Heiligen Geist: hier wird die an sich unvollkommene – wenn auch noch so geheiligte – irdische Materie endgültig der vom Himmel her eingeprägten Form zugestaltet. Später rückte man den Zeitpunkt dieser Reinigung noch weiter zurück: bis zum Augenblick nach der (passiven) Empfängnis Marias. Nur so schien beides gewahrt werden zu können: daß Maria selbst der erlösenden Kreuzesgnade bedarf und daß sie dem ganzen Menschengeschlecht solidarisch bleibt.
Entsprechend schrieben ihr manche Kirchenväter Unvollkommenheiten zu; der Gedanke des Origenes, sie sei unter dem Kreuz beim Anblick der Gottverlassenheit des Sohnes von Zweifeln befallen worden, wirkte lange nach. Andere, wie Chrysostomus, schrieben ihr Vordringlichkeit (bei Kana, beim Verwandtenbesuch) usf. zu. Wäre sie sonst ein echter Mensch gewesen?
Antworten wir nicht allzu rasch mit einem beherzten Ja; bedenken wir vielmehr die Verluste, die die menschliche Natur durch Einbuße ihrer paradiesischen Privilegien und ihren Fall in die Vergänglichkeit, in die «vanitas» (Röm 8,20) erlitten hat: in Leiden, Krankheit, Tod, in Unwissenheit und Angst, in Fehlleistungen, weil falsche Ziele angestrebt werden, in Begierlichkeiten, die aus einer Gespaltenheit zwischen Trieb und Geist hervorgehen und eigentliche Sünden erzeugen, in Leidenschaften (pathe), die – schon in Platons Rossegleichnis – dem lenkenden Verstand nicht gehorchen … Wie schwer ist es, in dieser Aufreihung einen Grenzstrich zu ziehen! Was davon ist (in unserem Sinne) erbsündig, was ist schuldhafte Folge dieser Erbschuld und was ist schuldlose?
Die Griechen und die westlichen Theologen nach Augustinus zogen diesen Grenzstrich verschieden. Für die Griechen, die den westlichen Erbsündebegriff nicht kennen, ist jede Art von Unwissenheit, von Schmerz und Tod, von Regung der Leidenschaft ein Symptom unserer Entfremdung vom paradiesischen Zustand, und ohne Zweifel hat Maria an alldem trotz ihrer vollkommenen Heiligkeit teilgehabt. Augustin und die ihm Folgenden dagegen verstanden die Erbsünde als den Verlust der Gnade und Freundschaft Gottes und die Fesselung der menschlichen Freiheit, die aus eigener Kraft das ursprüngliche Gottesverhältnis nicht mehr herstellen kann. Damit wird das Unverständnis der Orthodoxen und ihr Widerstand gegen die Definition der Unbefleckten Empfängnis begreiflicher.
Aber es wird außerdem einsichtig, wie geheimnisvoll Maria, auch wenn sie ohne (augustinisch verstandene) Erbsünde empfangen wurde, teilnimmt an den Verfallenheiten der Menschennatur und so mit allen Generationen nach Adam solidarisch sein kann. Nun kann sie mit ihren Verwandten zusammen von Jesus als Beispiel für jenen «alten Äon» verwendet werden, den seine Jünger verlassen sollen, sie kann dem Zwölfjährigen gegenüber «Nichtverstehen» zeigen, das sich zweifellos fortsetzt und durch Ängste steigert, da ihr Sohn Dinge unternimmt, die ihn den Verwandten als «wahnsinnig» erscheinen lassen. Und wenn Origenes von «Zweifel» unter dem Kreuz spricht (denen ähnlich, wie sie der Täufer im Kerker erfuhr), wie nah könnte er, trotz allem Irrtum, der Wahrheit kommen, da die Mutter sicherlich irgendwie an die Gottverlassenheit ihres Sohnes teilnahm – der sich inmitten dieser Finsternis von ihr lossagte: «Siehe da deinen Sohn!»
Wo lebt in Wahrheit diese Frau? Unfestlegbar zwischen den Äonen: paradiesisch lauter, aber innerlich und äußerlich aller Unbill der gefallenen Welt ausgesetzt, wie keine andere als Jungfrau dem Neuen Bund zugehörig, und doch als die Mutter von «Fleisch und Blut» als Exempel für den Alten dienend … In ihrer rein-menschlichen Weise nimmt sie teil an der Existenzart ihres Sohnes, der, «nicht von dieser Welt», in sie hinabsteigt, um ihr in allem gleichzuwerden außer der Sünde, aber gerade die Sünde, das ihm Fremde, am Kreuz auf sich lädt, um sie durch gottverlassenes Leiden «hinwegzutragen».
Im Sohn – so sagten wir anfangs – liegt der Schlüssel dafür, daß auch die Mutter zwischen den Äonen lebt. Und zwar insofern als der Sohn das bloße «Mit-Sein» intensivieren kann zu einem «Für-Sein». Dieses «Für-Sein» (das «pro nobis» des Credo) ist das Zentrum des urchristlichen Glaubens, an ihm ist alles übrige aufgehängt: die Gottheit Jesu, die Trinität Gottes, die eschatologische Hoffnung der Menschheit. Bloßes Mit-Sein ist unter Sündern ja nichts Heilvolles; sofern die Freiheit aller im letzten gefesselt ist, kann kein «Erbsünder» den andern zu Gott hin befreien; alle sind wir, nach dem Wort des Schächers, «in derselben Verdammnis» (Lk 23,49). Nur der, der schon frei ist, kann andere zu Gott hin befreien, kann, indem er vollkommen für die andern eintritt, sich zu einem von ihnen und mit ihnen machen.
Was Maria angeht, so war für die Theologie am Ende eine Entscheidung notwendig: sollte ihre Solidarität mit der Menschheit letztlich auf dem Mit-Gebundensein in der Gottferne aufruhen oder auf dem Für-Sein des Sohnes, jenem Für-Sein, zu dem durch seine Befreiungstat auch alle Christen nachträglich hinübergerufen werden in das Für-Sein? Da diese Mutter aber als ganze für den für-seienden Sohn dasein sollte, ergab sich die letzte Entscheidung von selbst, zumal als Duns Scotus als erster zeigte, daß Maria die Begnadung zu solchem Für-Sein wie die übrigen Christen, nur auf intensivere Art, vom Erlösungswerk des Sohnes her erhielt.
Das letztere erklärt denn auch, daß Maria keineswegs als ein himmlisches und präexistentes Wesen, wie der Sohn, in die menschliche Kondition herabstieg, sondern, in der Geschlechterreihe aus Adam her von menschlichen Eltern abstammend, ein Mit-Sein besaß, das durch die Gnade Gottes von vornherein zu einem Für-Sein intensiviert wurde. So wird die natürliche Teilnahme an den Leiden und natürlichen Gebrechen der menschlichen Natur nicht aufgehoben, aber von vornherein mit dem Index einer von Christus herstammenden Fruchtbarkeit versehen.
Äußerlich betrachtet steht die Mutter Jesu zwischen den Äonen; tiefer gesehen steht sie ganz im Neuen Äon, der aber deshalb der Neue ist, weil er die Verfallenheiten des Alten in sich übernommen und im Werk des Kreuzes überwunden hat.
Man kann zuletzt fragen, ob Maria gestorben ist, da Tod doch Sündenfolge besagt. Aber warum sollte sie nicht gestorben sein, da ihr schuldloser Sohn für alle starb? Sehr wohl aber kann ihr Tod mehr ein Sterben-Für als bloßes Sterben-Mit (den Sündern) gewesen sein; doch die einzelnen Momente ihres Hinübergangs – vom Abschied aus dieser Welt bis zu ihrer vollkommenen, seelisch-leiblichen Aufnahme in die Herrlichkeit, wo sie die Mitte des himmlischen Jerusalem, der Braut des Lammes bildet – bleiben uns verborgen.
Die Einheit der Mariologie
Mit steigender Eindringlichkeit fragt die moderne Mariologie, ob und wie die diversen Aspekte des Mariengeheimnisses, wie sie sich durch die evangelische Geschichte, aber auch durch die dogmatische Reflexion hindurch entfaltet haben, aus einem einzigen Blickpunkt her in ihrer Einheit geschaut werden können. Gewiß kann es bei Glaubenswahrheiten, die wesentlich auf einer Offenbarungsgeschichte aufruhen, nie darum gehen, die Einzelaspekte aus einem Begriff heraus zu deduzieren (nicht einmal so, wie Hegel, die christliche Offenbarung in eine Geschichtsphilosophie einbeziehend, ihre Rationalität aus dem Gesamtereignis des sich explizierenden Geistes erklärt); wir bleiben in der Mariologie nicht minder als in der Christologie, in der Lehre von der Gestalt der Kirche und ihrem Verhältnis zur Welt usf. immer angewiesen auf die aus nichts Vorgegebenem ableitbare Art, wie Gott in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sich selbst auslegt: als der ewig Dreieinige, als der die Welt bis zur Hingabe seines Sohnes Liebende, als der uns seinen und Christi Geist in die Seele Eingießende. Ohne die Abfolge der geschichtlichen Ereignisse gäbe es keinerlei Möglichkeit, solche Grundwahrheiten auch nur als möglich zu ahnen, geschweige denn sie von einem Begriff her als wirklich zu postulieren.
Aber gibt es, wenn dies zugegeben ist, nicht doch in der Christologie so etwas wie eine mögliche Zusammenschau der Hauptgesichtspunkte, sogar über die Schlüsselformel von Chalkedon hinaus, die zwar den soteriologischen Aspekt voraussetzt und ihn schützen und wahren will – nur einer, der zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch in einer (göttlichen) Person ist, kann wirksam durch sein Fürleiden die Menschheit von ihren Sünden erlösen und sie mit Gott versöhnen –‚ aber diesen Aspekt nicht ausdrücklich mitformuliert? Ordnet sich, wenn man Christus in der Weite und Offenheit dieser Formel betrachtet und dabei seine Erlösersendung vom Vater her im Heiligen Geist mitbedenkt, nicht alles harmonisch vor dem geistigen Auge? Ist er, als das ewig vom Vater ausgehende Wort und sein geliebter, gleich-wesentlicher Sohn nicht dazu prädestiniert, derjenige zu sein, in dem und für den eine Welt – falls Gott eine solche schaffen will – als in ihrem Urbild und Endziel entstehen wird, und der – falls diese Welt sich in der Sünde von Gott entfremdet – als der vom Vater Ausgehende (processio) auch vom Vater gesendet werden wird (missio), sie durch sein Leiden heimzuholen? Liegen für einen solchen betrachtenden Blick nicht die drei «Ämter» Christi notwendig ineinander: daß er als das Wort und die Weisheit Gottes der Lehrer der Welt ist, als der Versöhner am Kreuz ihr ewiger Hoherpriester, als der Auferweckte und zur Rechten des Vaters Erhöhte ihr endgültiger König? Offenbart er in seinem Ausgang und in seiner Rückkehr zu ihm (in dem er durch den Heiligen Geist die Welt einbezieht) nicht auch unmittelbar die innertrinitarische Lebendigkeit Gottes? Christologie hat, gerade wenn man das Evangelium und seine kontemplativ-dogmatische Auslegung zusammenschaut, eine verblüffende, immer überzeugendere Einheitlichkeit.
Kann man dasselbe von der Mariologie sagen? Die neueren Bemühungen um das Auffinden eines marianischen Formalprinzips scheinen das nicht zu befürworten, da sie sich in der Festlegung dieses Prinzips nicht einigen können. Die meisten möchten es in Marias Mutterschaft erblicken, die natürlich zunächst eine physische ist, aber als solche das vorherige geistige Jawort einschließt und voraussetzt, ein Jawort, das in seiner vollkommenen Offenheit auch das Ja zum Kreuz einfaßt, wo die Kirche geboren wird und wo Maria, als die vom Kreuz her Vorerlöste, mit ihrem Sohn zusammen und durch seine ausdrückliche Verfügung auch Mutter der Kirche, der Christen, aller erlösten Menschen wird. Von diesem Zentrum aus würden dann auch die übrigen Geheimnisse Marias verständlich: Jungfräulichkeit, Unbefleckte Empfängnis, leibliche Aufnahme in den Himmel. Aber geht das wirklich so einfach? Ist dieses Verhältnis von Vorerlöstsein – das für Maria notwendig ist, um physische Mutter des Gottessohnes werden zu können – und von Miterlösen – wodurch sich das mütterliche Verhältnis zum Sohn in ein solches der «Gehilfin», der geistlichen «Braut» verwandelt, durchsichtig? So nämlich, daß man im ersten Aspekt den zweiten, im zweiten den ersten mitsehen könnte? M.J. Scheeben hat in seiner Dogmatik diese Einheit vertreten, indem er die Gottesmutterschaft Marias als «matrimonium divinum» bestimmte und von «gottesbräutlicher Mutterschaft» und «gottesmütterlicher Brautschaft» sprach. Aber dazu ist zweierlei kritisch zu sagen. Einmal, daß die Kirchenväter zwar das Bild der bräutlichen Vereinigung gern auf die Einigung der Gottheit mit der (gesamten!) menschlichen Natur im Schoß Marias anwandten, aber nicht Maria selbst als die Braut ansahen. Sodann, daß seit dem zweiten Jahrhundert (Irenäus, aber durchaus schon auf Paulus 2 Kor 11, Eph 5 gründend) die eigentliche Braut Christi die Kirche und nicht Maria ist.
Dies letztere ist so evident, daß man in neuester Zeit versucht hat, in Maria nicht sosehr den (Mit-)Ursprung der Kirche zu sehen, als vielmehr die von Christus am Kreuz erlöste Kirche als das umgreifende Prinzip zu verstehen, von dem her Marias Funktion als eine den andern Christen analoge, wenn auch daraus hervorragende begreiflich würde. Ist doch jeder durch Christus Erlöste an seinem Ort durch Gnade zur aktiven Miterlösung bestimmt; Maria stünde dann unter dieser «breiteren, allgemeinen Kategorie»5 als ein eminenter Einzelfall. Diese Sicht wird dem traditionellen Gedanken, den das Zweite Vatikanum aufgewertet hat, gerecht, daß Maria wesentlich Glied der Kirche ist, gerade sofern sie die vollkommen und damit Höchst-Erlöste ist; aber es wird nun schwer, deutlich zu machen, wie sie leiblich-geistig die Mutter Dessen sein konnte, von dem her und durch dessen Tun und Leiden es allererst Kirche gibt.
Daß der einheitliche Blick schwer gewonnen wird, zeigt schon der große Einsatzpunkt der kirchlichen Mariologie: die Parallele Eva-Maria-Kirche in der Theologie des zweiten Jahrhunderts (besonders bei Irenäus). Denn das Verhältnis Evas zu Maria ist nicht identisch mit dem Verhältnis Evas zur Kirche: Eva hat durch ihr Ja zur Schlange, ihren Ungehorsam Gott gegenüber die Sünde und Entfremdung in die Welt gebracht, Maria war durch ihr gehorsames Ja zu Gott Anlaß zur Menschwerdung des Erlösers: hier herrscht der Gegensatz vor. Aber Eva war die «Mutter der Lebendigen» für die irdische, sterbliche Menschheit, die Kirche (aus der Seite des Gekreuzigten hervorgehend wie Eva aus Adams Seite) ist durch Wort und Sakrament die «Mutter der Lebendigen» für die zum ewigen Leben berufene Menschheit. Hier herrscht nicht Gegensatz, sondern Analogie. Dieses Unterschieds wegen bleibt durch die ganze Väterzeit hindurch Maria (als physische Mutter Jesu) ein «Typus» der Kirche, die als die eigentliche «Braut» und Gehilfin Christi durch ihn zur Mutterschaft ihren geistlichen Kindern gegenüber befähigt wird. Die Spannung möchten die modernen Mariologen beheben, vornehmlich in der Nachfolge Scheebens. Aber ist sie behebbar?
Wir wollen, um uns einer Antwort zu nähern, an einem Punkt ansetzen, der von den Theologen zwar selbstverständlich gewußt, aber kaum je ausdrücklich reflex bewußt gemacht wird. Der Mann ist in geschlechtlicher Hinsicht eindeutig, sowohl was seine körperliche Zeugungsfunktion wie was sein Verhältnis zur Frau betrifft: dieselbe Frau ist seine Gattin und die Mutter seines Kindes. Die Frau besitzt diese Eindeutigkeit nicht: zwei Zonen ihres Körpers sind geschlechtlich belangvoll: die eine für ihren Gatten, die andere für das Kind, das sie ernähren wird. Womit das Wichtigere gesagt ist, daß sie sich als geschlechtliches Wesen zwei Personen gegenüber in einem wesentlichen Verhältnis befindet: dem zeugenden Gatten und dem erzeugten Kind. Wir können, von aller Frauenfeindlichkeit der Griechen absehend, ihnen doch in der Feststellung zustimmen, daß die Dyas, die Zweizahl, der Weiblichkeit zuzurechnen ist (es besteht ja im trinitarisch denkenden Christentum keinerlei Anlaß, die Zahl Eins höher zu schätzen als die Zahl Zwei, was für die monistisch denkenden Griechen verstehbar ist).
Das Gesagte gilt für den zweigeschlechtlichen Menschen, sofern dieser innerhalb des in unserer (gefallenen) Welt «normalen» Gebrauchs und Verlaufs der Geschlechtlichkeit betrachtet wird, wo eine Generation die andere ablöst, eine die nächste erzeugt, um selber im Tod zu verschwinden. Daß es jenseits dieses «Werde und Stirb» ein Verhältnis zwischen Mann und Frau geben könnte, insbesondere ein Verhältnis, das den Dualismus zwischen Gatte und Kind überwinden könnte, ist von der geschichtlichen Erfahrung her nicht absehbar. Nur ganz abstrakt und unanschaulich könnte man sagen, daß ein derartiges Verhältnis in Einheit das erschöpfende Für- und Zu-Einander von Mann und Frau darstellen müßte, das jetzt unaufhebbar in das geschlechtliche Doppelverhältnis der Frau zum Gatten und zum Kind auseinanderfällt. Wollte man dieses unanschauliche Idealverhältnis auf die erfahrbare geschlechtliche Ebene projizieren, so käme man in die Nähe dessen, was S. Freud den Ödipuskomplex genannt hat: das Kind (das ja nach Freud im Mutterleib seine ideale, ganz bei-sich-seiende Existenzperiode hatte) drängt in den Schoß zurück und sucht sich die Stellung des Vaters, bzw. des Gatten zu sichern: Laios wird (unbewußt) umgebracht und Ödipus vermählt sich mit Jokaste, ein Verbrechen an der geschlechtlichen Natur, das gesühnt werden muß und noch in Söhnen und Töchtern als Fluch fortzeugt.
Dennoch könnte der auf der sexuellen Ebene unmöglich erfüllbare Wunsch, das reine Zueinander von Mann und Frau darzustellen, einer Sehnsucht des Menschen entsprechen, die man mit aller Vorsicht als archetypisch bezeichnen könnte, wovon – der Vergleich ist wiederum mit aller Vorsicht und mit jedem erforderlichen Vorbehalt zu ziehen – das gnostische Ideal der Götter-Syzygien eine Projektion bildete. Aber diese Archetypen und Projektionen müssen völlig zurückgelassen werden, wenn wir uns jetzt dem Verhältnis Christi zu Maria nähern wollen. (Es wäre denkbar, daß die Kirchenväter sich wegen der damals noch lebendigen griechischen Mythen scheuten, das Verhältnis zwischen Maria und der Kirche anders zu deuten denn als solches zwischen Typos und Antitypos.)
Zunächst: soll so etwas wie bräutliche Mutterschaft Marias ihrem Sohn gegenüber (nach Scheeben) überhaupt in Frage kommen, so ist eine Vaterschaft Josefs apriori ausgeschlossen, nicht allein deshalb, weil Jesus in einem solchen Fall allen Ernstes zwei Väter hätte6‚ sondern weil er unmöglich, auch nicht in geistlichem Sinn, an den Ort rücken könnte, wo Josef gestanden hat. Dies weist von einer neuen Seite auf die Notwendigkeit der Jungfräulichkeit Marias hin. Sie ist dann erfordert, wenn Marias Sohn in Wahrheit und Ganzheit der Sohn des göttlichen Vaters sein und bleiben soll; aber auch dann, wenn Maria, die Mutter, in einer geistlichen Weise zur Braut ihres Sohnes werden soll. Dies kann in keiner Weise die naturhaft-geschlechtliche Ebene berühren, muß aber trotzdem ein Aspekt jener unaufhebbaren Beziehung sein, in der Mann und Frau einander zugestaltet sind, ohne Zweifel auch noch im ewigen Leben, wo «nicht mehr geheiratet und zur Ehe genommen wird» (Mt 22,30), aber die Differenz der Geschlechter sowenig aufgehoben ist wie die wesentliche Fruchtbarkeit des Menschen.
Nun ist das Moment der Bräutlichkeit der Mutter Jesu ihrem Sohn gegenüber von der Schrift her nur über den Gedanken an die Kirche zugänglich, und deren Bräutlichkeit erscheint als die Vollendung und letzte inkarnatorische Konkretisierung des Verhältnisses Jahwes zu seinem Volk. Die alttestamentlichen Stellen, wo von dieser Bräutlichkeit die Rede ist, sind so deutlich, ja zuweilen (wie im Fall Hoseas) so tragisch-konkret, daß von einem bloßen literarischen Vergleich keine Rede sein kann. Diese Stellen weisen aber doch erst voraus auf eine Vollendung des Verhältnisses, auf die Zeit, da die untreue, vielfach befleckte Braut so gereinigt sein wird, daß sie von Gott als «immaculata Ecclesia» (Eph 5,27) heimgeführt werden kann. Die Verheißung, sie werde gewaschen werden, erfüllt sich dort, wo der Bräutigam sie in seinem eigenen Blute wäscht (Apk 1,5; 7,14), um sie als «keusche Jungfrau» (2 Kor 11,2) sich zuzuführen. Nun kann diese Verbindung gerade in der inkarnatorischen Erfüllung noch weniger abstrakt oder bildlich sein als im Alten Bund; die «Braut» muß gerade als «immaculata» eine personale Realität haben, und zwar nicht (wie der späte Augustinus meint) erst eschatologisch, weil, wie die kirchliche Reflexion gefunden hat, schon die Menschwerdung des Sohnes diese Immaculata voraussetzt. Unaufhebbar ist dieser Zirkel: daß jene, die das Produkt (als Kirche) dieses Mannes ist, ihn zugleich (als Mutter) hervorbringt, nicht als eine zweite, andere, sondern als die gleiche, sofern Maria als die Ganz-, das heißt Vor-Erlöste ihm, den sie gebiert, sowohl ihre unbefleckte Jungfräulichkeit wie ihre mütterliche Fruchtbarkeit verdankt. Man kann also nicht sagen, daß sie über der Kirche schwebt – sie ist Teil und Glied der Kirche –‚ aber auch nicht, daß sie nichts weiter ist als ein Glied, und daß alle eschatologisch (nach Tilgung der Erbsünde und all ihrer Folgen) Marias Stellung einholen werden, denn keiner andern als ihr und ihrem Jawort ist die Menschwerdung des Erlösers aller zu verdanken. Deshalb kann die Bräutlichkeit der ganzen Kirche, an deren Fruchtbarkeit jeder lebendige Christ teilhat – er kann Christi «Bruder, Schwester und Mutter sein» (Mt 12,56) – auch nicht einfach identisch sein mit derjenigen Marias und ihres Jaworts am Kreuz, wodurch sie, die selbst Vor-Erlöste, in ihrem kreatürlichen Rang die Existenz von Kirche miterwirkt hat.
Warum diese beiden Zirkel auflösen wollen: den zwischen Kirche und Maria und den zwischen Mann und Frau (Christus und Maria)? Zum ersten muß man sagen, daß Maria nur auf Kirche hin und als ihr Urbild vorerlöst wurde, daß aber Kirche sich trotzdem Maria mitverdankt. Zum zweiten aber hat zu gelten, daß die Frau als die «Herrlichkeit» und als die Antwort auf den Mann aus ihm geschaffen wurde (was für «Adam» und Christus gilt), daß aber «wiederum der Mann durch das Weib da ist» (1 Kor 11,12) (was von den Nachkommen Adams, aber in einmaliger Weise von Christus wahr ist). Und wenn die Frau auch in Maria – weil sie Antwort auf das Wort bleibt – «zwei» bleibt, Mutter und Braut, so ist in ihr diese Zweiheit von einer solch einheitlichen Lebendigkeit, daß sie deshalb Mutter wird, weil sie nicht nur Jungfrau, sondern vorweg ein Teil der Braut ist, und daß die Braut (-Kirche) immer neu mütterlich fruchtbar wird, weil sie Anteil erhält an der Fruchtbarkeit Marias, die diese vom Heiligen Geist und vom dreieinigen Gott geschenkt erhält.
- Die Väter, die von der «Jungfräulichkeit während der Geburt» handeln, verbinden diese wohl etwas zu schnell mit dem Fehlen bei Maria aller seelischen Beschwernis und Bangnis der Schwangerschaft, die bis zum Augenblick der Geburt selbst unbedingt auch und gerade ihre leibliche Seite hat. Da Maria aufgrund ihres glaubenden Jaworts mit dem Kind begnadet wurde, können die Leiden ihres Advents durchaus als eine Art frauliche Vor-Passion aufgefaßt werden. Ihr diese ganze Erfahrung, die sie aufgrund ihres Glaubens macht, absprechen, dürfte in der Tat ein unbewußtes Relikt von Doketismus sein. Andererseits darf, wie noch auszuführen sein wird, die Integrität während der Geburt (wie immer man sie physiologisch erklären mag, durch eine Dehnung des Hymen zum Beispiel) als ein Wunder, das dem Wunder der jungfräulichen Empfängnis als Pendant entspricht, festzuhalten sein, aus den gleichen zu nennenden Gründen. Man beachte auch, daß die Deutung des kreißenden Weibes der Apokalypse auf die Kirche allein (unter Ausschluß Marias) von den meisten Vätern wohl auch deshalb so lange Zeit festgehalten wurde, weil es unmöglich schien, daß Maria, wenn sie in der Geburt jungfräulich geblieben ist, überhaupt Geburtsschmerzen gehabt haben könnte. Aber was bedeutet es denn für einen gewöhnlichen Menschen zu wissen, daß er den «Sohn des Allerhöchsten» zur Welt bringen und aufziehen soll? Die «Messiaswehen» sind nicht nur ein Mythologem, sondern eine aus dem Gedanken, daß die Erde etwas Überirdisches gebären soll, sich notwendig ergebende Folgerung.↩
- Dieses Zeitalter begnügt sich dann mit der eher armseligen, aber beruhigenden Annahme, daß Maria, die ein für allemal als Jungfrau empfangen hat, auch später, wenn ihr Hymen durchbrochen worden ist, mit Grund noch immer als Jungfrau bezeichnet werden kann. Man darf hier erinnern, daß Jovinian allem Anschein nach die virginitas Mariae in partu deshalb angriff, weil er gegen die kirchlichen Aszeten und Jungfrauen beweisen wollte, daß ihr Ideal im Grunde gar nicht mehr Jungfrau war. (Vgl. Cl. W. Neumann, The virgin Mary in the works of S. Ambrose. Fribourg 1962, S. 142ff., 221.)↩
- Dazu Louis Bouyer, Mystère et ministères de la femme. Paris 1976; dt. Frau und Kirche. Einsiedeln 1977.↩
- S. Th. III 12, 3c und ad 2.↩
- Alois Müller, Marias Stellung und Mitwirkung im Christusereignis. In: Mysterium Salutis III/2 (1969), S. 415.↩
- Ceterum duo jam patres habebuntur, Deus et homo, si non virgo sit mater. Tertullian, Adv. Marc. IV 10. Vgl. J. Ratzinger, Die Tochter Zion. Einsiedeln 1977.↩

Hans Urs von Balthasar
Original title
“Heilig öffentlich Geheimnis”
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Specifications
Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
Article