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Warum wir Nikolaus Cusanus brauchen
Hans Urs von Balthasar
Originaltitel
Warum wir Nikolaus Cusanus brauchen
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Themen
Technische Daten
Sprache:
Deutsch
Sprache des Originals:
DeutschImpressum:
Saint John PublicationsJahr:
2022Typ:
Artikel
Die Leidenschaft für Gott
Es gibt vom Cusaner einige Gelegenheitsschriften, die konziliare, kirchenpolitische, ökumenische Fragen behandeln. Die überwältigende Mehrzahl seiner Schriften, jene, die sein persönliches Anliegen widerspiegeln, handeln mit einer beinah konsternierenden, den Leser oft ermüdenden Eintönigkeit immer und immer nur von einem einzigen Thema: von Gott. Wie vielleicht nur noch einer, der ihm deshalb ein geheimer, verehrter Lehrer war, Meister Eckhart, ist sein Denken angefroren an dem einzigen Punkt. Es wird auch von der Welt geredet, aber nur um zu fragen, wie sie neben oder besser in Gott möglich sei: wie ein Nicht-Göttliches überhaupt Raum finde, wie es vom Bildlosen ein Bild geben, wie mit der unendlichen Macht und Freiheit und Geistigkeit zusammen noch eine «andere» Macht und Freiheit und Geistigkeit existieren könne. Sagen wir’s rund heraus: diese ungeheure, wahrhaft einzigartige Leidenschaft für den Gottesgedanken, ein Leben lang durchgetragen und von Werk zu Werk unerbittlicher, logisch unausweichlicher sich einbohrend, weil sich nichts, überhaupt «nichts anderes» als das zu denken verlohnt und «nichts anderes» denkerisch gesichert werden kann, falls dieses «Nicht-andere» (nämlich Gott) in der rechten Weise gedacht wird: diese Leidenschaft ist’s, was uns Heutigen am schmerzlichsten abgeht und bittersten nötig wäre.
Die Gottlosigkeit unserer Tage hat zwei Formen: es ist Gottlosigkeit derer, die nicht an Gott glauben, und Gottlosigkeit, oder wenn man lieber will: Gottvergessenheit derer, die über Gott Bescheid wissen und deshalb nach ihm gar nicht zu fragen brauchen. Sie wissen: «Es gibt einen Gott», – aber was heißt schon: «es gibt» angewendet auf das Absolute, was heißt «einen» angewendet auf die Einheit, und was heißt «Gott», wenn die zwei ersten Begriffe klar verraten, dass der Redende sich unter Gott «das Andere» oder «den Andern» vorstellt, wo doch eine Schrift des Cusaners «Vom Nichtandern» heißt, und nachweist, dass Gott auf keinen Fall einen Gegensatz haben kann? Aber der heutige Mensch, der heutige Christ hat ja wohl «Gescheiteres» zu tun, als sich mit solchen Haarspaltereien abzugeben; «gescheiter» heißt in diesem Fall: über Sachen nachdenken, bei denen etwas «herauskommt», sich etwas machen lässt, sich etwas bewegt. Das sind die Dinge innerhalb der Welt, die ja immer in Bewegung ist, und in der sich manches Nützliche und Gottgefällige ausrichten lässt. Was bewegt die heutige Christenheit? Nicht eigentlich Gott. (Es gibt ja, anscheinend wenigstens, keine Häresie gegen die Trinität oder gegen die Menschwerdungslehre, die verurteilt werden müsste, und den Atheismus nochmals zu verurteilen, lohnt sich wohl kaum.) Sondern sie selber, ihre Gestalt, ihre ständische Gliederung, ihr Gottesdienst, ihr Verhältnis zur Offenbarung, die Wiederherstellung der verlorenen kirchlichen Einheit. Lauter sehr wichtige Dinge, die aber nur so lange nicht schal werden, als das Salz des leidenschaftlichen Gottverhältnisses sie frisch hält.
Die Mutmaßung über Gott
Bei Jesus Sirach steht: «Gott ist Alles» (Sir 43,27), bei Paulus: «Damit Gott Alles in Allem sei» (1 Kor 15,28). Wie kann Gott Alles sein, und die Welt dennoch Etwas? Das ist Grundfrage aller Philosophen: «Auf dieses Einzige hinblickend, haben sie versucht, das Eine auf vielerlei Weisen auszusagen». Cusanus denkt innerhalb des Weltdenkens, das für ihn von Indien und den Vorsokratikern über die griechischen Klassiker, Plotin und Proklos, Augustin und Boethius zu Thomas und Eckhart reicht, und von ihm auf deutlichen Wegen weitergeht zu Ficino, zu Leibniz, zu Schelling, Hegel, Baader, Solowjew. Wenn wir Gott Sein nennen, müsste man dann nicht die Welt Nichtsein nennen? Oder wenn wir das landläufig begegnende Weltliche als Sein bezeichnen, müsste man dann nicht Gott Nichtsein heißen? Soll man sagen, er sei in allem Seienden das Sein? Soll man – eine Redeweise, die Cusanus nach vielen andern besticht und die er oft übernimmt – Gottes Verhältnis zur Welt beschreiben wie das von «Eingefaltet» zu «Ausgefaltet», ähnlich etwa, wie der Kreis die Ausfaltung des raumlosen Punktes ist? Soll man sagen, Gott sei der «Ganz Andere» (wie Dionysios wollte und es heute wieder Mode ist), oder eben der «Nichtandere», weil er so ganz anders ist, dass er nicht einmal einen Gegensatz hat?
Aber wie könnte dann das Geschöpf sich Gott gegenüber situieren, wenn Gott allein das absolute Sein und damit die absolute Wahrheit ist, wenn deshalb das Geschöpf nur ein Bild von Sein, sein Denken auch nur ein Bild, eine Annäherung, ein Gleichnis von Wahrheit ist? Nur Gott weiß exakt; alles geschöpfliche Denken über das Sein ist Mutmaßung. Wohl hat der Mensch, als echtes Bild des absoluten Geistes, eine schöpferische Möglichkeit, einen Bereich der Exaktheit, aber dieser Bereich kann nicht das Reale, sondern nur das Irreale sein. Der Mensch hat die Zahlen. Die Mathematik. Die Technik. Er kann eine «eingebildete» Welt aufbauen, die solange in der gottgewollten Ordnung bleibt, als er ihre Irrealität durchschaut und sie – wie sich selber als Ganzen – nur als Bild und Gleichnis versteht. Darum liebt es Cusanus, aus der «exakten» Mathematik Gleichnisse zu ziehen für die Metaphysik, für die «Mutmaßung» über Gott.
Weil die Systeme der großen Denker als Mutmaßungen sich zum Teil widersprechen, zum Teil ergänzen, wird der wahre Gottdenker sich über keine der möglichen Theorien verwundern oder gar entsetzen. «In all den verschiedenen Mutmaßungen wird der Schüler der Gottlehre nichts finden, was ihn zu verwirren brauchte. Ihm sagt der nicht weniger, der behauptet, dass überhaupt nichts von dem sei, was erscheint, als der, der behauptet, alles sei. Und der sagt nicht wahrer, der behauptet, Gott sei alles, als jener, der sagt, Gott sei nichts oder er existiere gar nicht; weiß er doch, dass Gott über alle Bejahung und Verneinung unaussprechlich erhaben ist» (De fil. Dei). Man beachte wohl, dass Cusanus immerfort in der höchsten Anstrengung des Denkens verharrt, wie schon seine Buchtitel sagen: «Von der Suche nach Gott», «Von der Jagd nach der Weisheit», «Von der gelehrten Unwissenheit», «Von den Mutmaßungen», «Vom Ursprung der Dinge», «Vom Schauen Gottes» (wobei Gott der Sehende ist, der sein Geschöpf an seiner Allschau teilnehmen lässt), «Vom verborgenen Gott». Keinesfalls gilt eine billige Selbstaufgabe des Denkens, um Gott bloß im christlichen Glauben zu erfassen: eine solche Haltung wäre des Menschen unwürdig, wäre die Verleugnung der großen Menschheitsüberlieferung und müsste zum Bankrott des Christentums führen. Aus seiner Denkanstrengung allein wird der Cusaner zu seiner überraschenden ökumenischen Theologie ermächtigt, von der man sich gewundert hat, dass sie nicht auf den Index gesetzt wurde, und die im Traktat «Über den Frieden des Glaubens» in einem himmlischen Konzil alle großen Weltreligionen unter dem Vorsitz des Logos versöhnt. Man kann diesem Entwurf, der später in Renaissance, Aufklärung, Idealismus, Historismus so viele Fortsetzer fand, Naivität und sogar einen unverhohlenen Liberalismus und Relativismus vorwerfen: der Kardinal war aber nicht nur äußerlich, sondern durchaus im Herzen ein getreuer Katholik, der auch an der «Absolutheit» der katholischen Kirche festhielt, ja in seiner philosophischen Erstlingsschrift bewiesen hatte, dass nicht nur Gott (wie der hl. Anselm sagte) das ist, «worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann», sondern dasselbe von Christus gelte, der als Einheit von Gott und Welt das Summum an möglicher Gott-Offenbarung sei. Trotzdem brachte er es fertig, auch die übrigen Religionen als durchsichtig auf den wahren Logos zu sehen, oder vielmehr ihr Undurchsichtiges auf Christus und auf das innere Geheimnis des dreifaltigen Gottes der Liebe durchsichtig zu machen. Das gilt auch gerade von seiner «Sichtung des Korans», in der er die Konvergenzpunkte des Islam mit dem Christentum herausstellte. Beide Werke wurzeln in der Philosophie vom Absoluten, die einsichtig macht, warum auch die einmalige Selbstoffenbarung Gottes in Christo für unsern Geist die Gestalt des Gleichnisses annehmen muss.
Selten so klar wie beim Studium des Cusanus wird der Mitvollziehende sich bewusst, wiesehr das Menschheitsdenken eine Einheit ist und sich als solche verstehen kann und muss. Auch der Gedanke der Evolution, der schon früh philosophisch durchbricht, dann christlich-geschichtstheologisch entfaltet wird, dann bei Fichte und Hegel auch die Natur miteinbezieht, fällt aus dieser Denkeinheit nicht heraus. Schöpfung ist für Cusanus «Anruf» der Materie und ihr Rückruf in Gottes Einheit durch alle Wesensstufen hindurch. Teilhard de Chardin denkt philosophisch in der alten Linie Plotins.
Das Denken aus dem Ursprung
Cusanus hat sich aber nie mit einem Nachdenken der Tradition begnügt; alles was er anfasst, denkt er frisch, als sei es noch nie gedacht worden. Daher nennt er sich «Idiota» (der Ungelehrte) und stellt sich in demütig-stolzen Gegensatz zu allem scholastisch-schulmäßigen Betrieb. Er gleicht einem Bergführer, der mit seinen Kunden lauter Erstbesteigungen macht, und wie den Gemsen scheint es ihm nur auf den schwindligsten Pfaden wohl zu sein. Als kundiger Führer hat er für die Ängstlichen gute Seile mitgebracht: so streut er verschwenderisch in seine dunkeln Untersuchungen eine Fülle von lichtvollen Bildern ein, die doch nicht Konzessionen sind, weil ja auch der abstrakte Begriff für ihn immer nur Bild und Gleichnis der Wahrheit sein kann. Nur einer, der so aus dem Ursprung denkt, hat Chance, auf seine Zeit und in die Zukunft zu wirken. Die wohlgefeilten Summen der Thomasnachdenker sind heute vergessen, Thomas dagegen hat, wie Cusanus, die Kraft der Urzeugung in sich, und beide können sie lebendig, in elektrischen Schlägen, vermitteln.
Der Gott des Cusaners
Fragen wir zum Schluss: Wer ist der Gott des Cusaners? Wenn wir einmal von den drei, vier seiner stärksten Anreger und von ihren Formulierungen absehen – Proklos, Dionysios Areopagita, Johannes Erigena, Eckhart –: was bleibt dann als unverwechselbarer Kern seines Gottesbildes? Keineswegs (wie bei den zwei ersten der Vorgenannten) der Gedanke der negativen Theologie: Gott über alles Sagbare hinaus der ewig Unbekannte. Nicht einmal das, was er mit dem großen Systematiker der Karolingerzeit, Johannes Erigena, gemeinsam hat: Gott als die eingefaltete (und darum transzendente) Einheit alles in der Welt Ausgefalteten, der erhöhte Konvergenzpunkt aller Weltdinge und Weltprinzipien, und deshalb der Punkt jenseits des Zusammenfalls der Weltwidersprüche (coincidentia oppositorum). Sondern etwas Intimeres, auch dem biblischen und augustinischen Gottesbild viel Näheres, etwas, das ihn in große Nähe zu Meister Eckhart stellt. Es tritt wohl am reinsten in dem wundervollen Buch «De videndo Deo» («Vom Schauen Gottes») zutage, das in den alten Ausgaben als «Liber pius», frommes Buch, bezeichnet wird, und das man jedem Laien, der Cusanus kennen lernen will, als erste Lektüre empfehlen möchte. Der Denker geht aus von einem jener Portraits, die, wo immer man sich aufstellt, rechts, links, in der Mitte, einen unverwandt anblicken, ja während man sich bewegt, überallhin mit den Augen folgt. Gott ist das absolute unbegrenzte Sehen. Er sieht überall und alles, aber so, als ob er immer gerade nur mich anschauen würde. In diesem unendlichen Blick existiere ich, bin ich Geist, kann auch ich ihn sehen. Unendliche, uneinholbare Priorität des schöpferischen Auges, das nach Cusanus reine Sorge um mich, reine Liebe zu mir, reine Offenheit und Gnade für mich ausdrückt. Dieses unendliche personale Verhältnis verhindert bei Cusanus jeden Übergang in die – spekulativ naheliegende – Identität zwischen dem absoluten und dem relativen Subjekt in die Besitzergreifung der absoluten Schau, wie sie im deutschen Idealismus von Fichte bis Hegel statthaben wird. Cusanus geht den umgekehrten Weg, da er in seinen späten Schriften über Gott («De Possest», «De apice theoriae» 1460, 1464) die Allmacht zum höchsten Gottesnamen macht: nicht nur das tatsächliche Zusammenfallen in Gott des Möglichen und Wirk-Möglichen durch das Wirkliche: Gottes Wesen ist die absolute Freiheit (ein Grundgedanke Eckharts), Gott ist, weil er frei ist. Und in dieser Freiheit ist er erst wirklich und christlich all das, was die griechischen Denker von ihm ausgesagt hatten: der über alles Erhabene, das lautere Licht, die rein sich verströmende Güte. Das ist der Lohn für die übermenschliche Denkanstrengung des Cusanus: er hat alles höchste Denken der Menschheit über Gott eingeholt, und überholend gerechtfertigt. Darum ist von ihm aus jedes Religionsgespräch eröffnet, durchaus auch das mit Asien.
Es sei hingewiesen auf das schöne Buch von Karl Jaspers: Nikolaus Cusanus (Piper, München), dem man es nicht verargen kann, wenn er viele seiner Grundanliegen in dem offenen Denken des Cusaners wiederfindet: die Transzendenz des Geistes, das Erkennen als Mutmaßung (Jaspers: in Chiffern), der «philosophische Glaube», der ja neuplatonischen Ursprungs ist und deshalb natürlich auch bei Cusanus begegnet. Schön verteidigt Jaspers seinen Helden gegen den Verdacht geheimer Ketzerei in der Kirche, er ist ein Gehorsamer, aber einer auch, der den Gehorsam in den höchsten philosophischen Akt zu integrieren weiß. Es ist auch falsch, in ihm einen Vorläufer des Protestantismus zu sehen. Auch für gewisse Schattenseiten des großen Mannes, der gewiss kein «Heiliger» war, ist innerhalb des ruhig anerkennenden Buches Raum.