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Die Katholizität Pauls VI.
Paul VI. hat seinen katholischen Glauben in einem Credo formuliert, das ihn für viele als den Hort einer Orthodoxie von gestern, wie manche oberflächliche Progressisten sagen, vorkonziliaren Stils erscheinen läßt, was ihn wiederum manchen der Vergangenheit zugewandten Traditionalisten empfiehlt. Als ob ein geistig bedeutender Mann der Kirche, wenn er den Stuhl Petri besteigt, dazu verurteilt wäre, in einer gleichsam rein formalen und überpersönlichen Art das Gesamt der Glaubenssätze zu verteidigen, als ob, um es anders zu sagen, ein Papst nur seinen diplomatischen Gesten ein persönliches Gepräge geben könnte und nicht auch der Weise, wie er den katholischen Glauben versteht und artikuliert. Und doch scheint, wenn man das ungeheure Œuvre des gegenwärtigen Heiligen Vaters zu überblicken versucht, nichts evidenter als der durch die Persönlichkeit bestimmte Charakter, der freilich gerade mit dem vom Träger des höchsten kirchlichen Amtes Erwarteten vollkommen harmonisiert. Diese Einheit des Personalen und des Amtlichen läßt ihn für viele von den innerkirchlichen Wirren Verstörten, bisweilen auch durch einen berechtigten Widerstand gegen allzu konservative oder allzu progressive oder unentschlossene Bischöfe Verunsicherten, aber schließlich für alle Katholiken, deren Blick durch keinen blinden antirömischen Affekt getrübt ist, zu einem immer zuverlässigen Kompaß oder Leuchtturm werden.
Es ist schwer, in kurzen Worten aus der Überfülle seiner Reden und Schriften ein hinreichendes Bild seiner persönlichen Intuition der Katholizität zu zeichnen, die er amtlich vertritt, aber nach allen Seiten hin denkend durchmessen hat; mehr als ein paar dürftige Stichworte, die seine eigenen Wendungen zu gebrauchen suchen, sind hier nicht möglich. Daß er dabei auf der ganzen Tradition und insbesondere auf den von ihm abgeschlossenen Zweiten Vatikanischen Konzil aufbaut, ist selbstverständlich. Daß er sich durch keine Gleichgültigkeit seiner Botschaft gegenüber entmutigen läßt, ist bewundernswert. Oft genug fällt sogar das Wort «Optimismus», in scheinbarem Widerspruch aller realistischen Skepsis den billigen Fortschrittstheologen gegenüber.
Die Welt ist wie nie bisher in einem Einigungsprozeß begriffen; die Kirche, deren Wesen die Einigung aller Menschen im Neuen Adam ist, hat sich ausdrücklicher als je im letzten Konzil zu dieser werdenden Einheitswelt geöffnet, können doch beide Universalismen nicht umhin, einander zu begegnen. Paul VI. läßt es sich angelegen sein, an jenen Punkten der Welt einzusetzen, wo diese Begegnung stattfinden kann oder muß: bei den Vereinten Nationen in New York, beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, dort wo Kontinente ihren Nationalismus zur Einheit hin übersteigen: in Bogotá, in Kampala. Dort auch, wo die Religionen sich einigen könnten: die monotheistischen in Jerusalem, wo die getrennten Kirchen sich einigen oder begegnen müßten: nochmals in Jerusalem, nochmals in Genf beim ökumenischen Kirchenrat. Schon das Konzil «strebte eine Ökumenizität an, die total und universal sein wollte», und der Papst betont, daß die Katholizität der Kirche, eben weil sie eine Entscheidung zur Universalität einfordert, von sich her «kein Element der Spaltung bilden kann».
Was im Begegnungspunkt als «Botschaft» vorgetragen wird, ist zugleich doppelt und einig. Es ist einerseits die klare Ausformulierung dessen, was die einheitsuchende Welt im tiefsten will oder konsequenterweise wollen muß: den Frieden. Dieser ist, wie der Papst nicht müde wird, zu betonen, kein gratis zufallendes, sondern pflichtgemäß unter dauerndem Entsagen zu erstrebendes «zerbrechliches» Gut. Nur wo der «gute Wille» zum «Recht aller», zur «Brüderlichkeit», zur «Solidarität» – insbesondere mit den Schwachen, Rechtlosen, Hungernden, Ausgebeuteten –, zur selbstlosen «gegenseitigen Hilfe» herrscht, was alles den Primat eines inneren Friedens im eigenen Herzen und die Bereitschaft, Unrecht nicht zu rächen, sondern zu verzeihen, voraussetzt, kann auf echten Frieden gehofft werden, der nicht heuchlerischer Vorwand für Wettrüsten der Großmächte ist. Das alles ist nichts als Aufruf zu wahrer Humanität, die den Menschen als innerweltlichen Höchstwert über die Arbeit und die technischen Fortschritte stellt.
Aber angesichts der Welt, wie sie wirklich ist, ist Paul VI., anders als Teilhard de Chardin, von einer realistischen Skepsis erfüllt. Schärfer noch als das Konzil sieht er die durchgehende Zweideutigkeit alles dessen, was sich Fortschritt nennt und es zum Teil wirklich ist. Eben das, was den Menschen befreit, versklavt ihn. Einmal hat er das «Prinzip Hoffnung» einer tiefkritischen Analyse unterzogen. Er versteht das Mißtrauen der Jugend dem prometheischen Rausch, dem babylonischen Turmbau der technischen Zivilisation gegenüber, auch jene, die «sich damit abgefunden haben, daß das Leben eines Sinnes und Zieles entbehrt», die es «unmöglich finden, Frieden zu erreichen und seinen Besitz durch irgendwelche Einrichtungen auf die Dauer zu sichern». Das von der Welt her absolut und aus aller Kraft Anzustrebende ist von ihr her unvollendbar.
Sollte die Kirche dazu berufen sein, das Gebäude zu vollenden? In seiner hochbedeutsamen Ansprache bei der Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Konzils taucht bezeichnenderweise das Wort «Berauschung» nochmals auf. Die Kirche ist, wie nie bisher, auf der Suche nach ihrer Identität, ihrer Definition, «unsere Seelen werden berauscht von einer unverkennbaren und doch geheimnisvollen Erfahrung»: das Volk Gottes zu sein. Aber, fährt Paul VI. hier (und später noch öfter) fort: «Bei diesem Akt der Reflexion begegnet die Kirche nicht nur sich selbst, sondern Christus»: nur in diesem Spiegel erkennt sie sich, nur sein Licht «soll über dieser Versammlung aufleuchten». Christus ist die Begegnung Gottes mit der Gesamtmenschheit, und nur sofern die Kirche diese totale Begegnung zu bezeugen und darzustellen hat, «gehört ihr die gesamte Menschheit». Pauls VI. gesamtes Denken ist nicht ekklesio-, sondern christozentrisch, das wird vielleicht am deutlichsten in seinen zahlreichen marianischen Schriften und Reden, zuletzt im Schreiben «Marialis cultus», wo alle marianischen Dogmen restlos auf Christus und von ihm her gedeutet werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Kirche überhaupt katholisch, das heißt universal und darf sie sich erkühnen, der nach der «Ordnung des Friedens» strebenden und doch unvollendbaren Welt (z.B. in «Gaudium et Spes») die Wege, die ihrem Ziel entgegenführen, anzubieten. Gott in Christus, und niemand sonst, Gott, «der die abgründigen Stufen seiner Transzendenz herabsteigt, der am Ende aus der immer lichtvolleren Wolke der Weissagungen hervortritt», um als Mensch in unsere Geschichte einzugehen: Er allein läßt, von innen und von oben zugleich, den Bau der Schöpfung sich vollenden.
«Unsere Botschaft», sagt Paul VI. vor der Generalversammlung der UN, «ist ganz auf die Zukunft gerichtet», auf das durch die Unumkehrbarkeit der Menschheitsentwicklung morgen Mögliche, weil schlechthin Notwendige, wenn die Menschheit sich nicht selber zerstören soll: auf jenen Frieden, für dessen Durchsetzung der Papst eine Fülle ganz konkreter Vorschläge macht. Aber ist dieser Friede nicht «eine große Utopie, würdig zu den edelsten Kräften zu zählen, die die Geschichte bestimmen, aber doch dazu verurteilt, Trugbild zu bleiben?» Die Antwort lautet: «Er mag als ein Traum erscheinen, aber ein Traum, der Wirklichkeit wird kraft einer neuen und höheren Idee vom Menschen.»
Idee? Ja, von der Welt aus gesehen. Aber: «Der Mensch ist ein Wesen, das seiner ganzen Anlage nach darauf hingeordnet ist, die Grenzen seiner selbst zu übersteigen; er ist auf Gott hin entworfen.» Daraus folgt: «Was für den Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich», deshalb hat das Streben nach dem Frieden und das Gebet um den Frieden «seine Logik im Glauben». Beides: die menschliche Anstrengung – sittliche, technische, ökonomisch-politische – wie das Flehen des Menschen um göttliche Hilfe ist wirksam über die natürlichen Kräfte des Menschen hinaus, nicht aus sich allein, sondern «durch die Liebe, die vom Himmel absteigt». Der Papst geht bis dahin, den Arbeitern des neuen Hüttenwerkes in Tarent zu erklären, sie seien in ihrer Fabrik «gewissermaßen wie in einer Kirche», sie kämen, im Kontakt mit den Gesetzen der Materie, dabei «mit dem Werk, den Gedanken Gottes, seiner Gegenwart in Berührung: Ihr seht, wie Arbeit und Gebet eine gemeinsame Wurzel haben.»
Bei aller innerweltlichen Problematik, ja Gefahr des kulturellen Fortschritts gibt es in der göttlichen Zone, die die transzendierende Bewegung der Menschheit auffängt, jeweils die Lösung für die sonst unlösbaren Menschheitsfragen. Die Brüderlichkeit, zu der die Vereinheitlichung der Welt unweigerlich hinführt, ist nur durch die innere Herzensbekehrung erreichbar, wie sie Christus ermöglicht und gefordert hat, kam er doch, um den Frieden, die Gerechtigkeit für alle, zumal die Benachteiligten, die liebende Einheit aller zu bringen: das auf göttliche Weise, wonach der Mensch strebt, ohne es aus eigener Kraft erreichen zu können. «Die wahre Soziologie des menschlichen Friedens kommt aus der christlichen Einheit.» Man hat gelächelt über die Botschaft des Papstes vor den UN: «Man wäre fast versucht zu sagen, daß Ihr Wesensmerkmal in der zeitlichen Ordnung in etwa das widerspiegelt, was unsere katholische Kirche in der geistlichen Ordnung sein will: einmalig und universal»; aber für ihn ist «das Ordnungsgefüge der Solidarität der Widerschein des Planes Gottes für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft auf Erden».
Aufgabe des Papstes ist dabei die dauernde Erinnerung, daß die humanen Werte nur in Gott, im Religiösen, ihre volle Entfaltung finden. Seine Parteinahme für die Unterdrückten und Hungernden in «Populorum Progressio» ist schlichte Erinnerung an das Evangelium. Seine Sorge um die Einheit der geschlechtlichen Liebe in «Humanae Vitae» gegenüber ihrer Zerfällung und Preisgabe dem sexuellen Egoismus dergleichen. Dabei ist er weit entfernt, übernatürliche Werte nur innerhalb der hierarchischen Kirche anerkennen zu wollen: alles Menschliche transzendiert, und Gott in Christus meint die ganze Welt, auch wenn die Kirche die von ihm beauftragte unentbehrliche Gründerin und Mittlerin der aufeinander zustrebenden Einheiten bleibt.
Man stellt mit Erstaunen fest, wie sehr dieser Papst, der für alle Kulturen und Kontinente und für allen menschlichen Fortschritt offen ist, gerade darin ein lebendiger Exponent des alten christlichen Europa bleibt. Er selbst, Bischof von Rom, erinnert daran, daß die «Pax Romana ihre Grundlage in der brüderlichen Gleichstellung aller Bürger hatte». Und während er mit «Bestürzung wahrnimmt, wie viele kluge Lehrer und Männer in öffentlicher Stellung in sich nicht Kraft genug verspüren, ein Kulturerbe zu verteidigen und schöpferisch neu zu beleben, das mit großen Opfern erkauft worden ist», fühlt er eben diese Kraft in sich, das scheinbar Utopische als die mit Gottes Kraft zu verwirklichende Realität vorzustellen. Den Protest der Jugend verständnisvoll hörend, warnt er sie dauernd vor Negativität und Eskapismus und zeigt ihr, in welchem Bereich die scheinbar unlösbaren Menschheitsfragen ihre Antwort finden. Und nochmals gut europäisch sieht er «Kirche und Staat aufeinander hingeordnet, sie sollen sich gegenseitig in der Durchführung ihrer gottgewollten Aufgabe unterstützen». Solche Wegweisung ist genug, denn mehr kann auch die geistgelenkte Kirche nicht bieten. Die Konvergenz der geschichtlichen Zukunft mit der absoluten Zukunft des Reiches bleibt Gottes Geheimnis.

Hans Urs von Balthasar
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Die Katholizität Pauls VI
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Deutsch
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Saint John PublicationsJahr:
2025Typ:
Artikel