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«Gott von Gott, Licht vom Licht…»
Die anscheinend immer zunehmende, beinah hektisch zu nennende Rastlosigkeit um die Christologie, da Buch auf Buch über Jesus von Nazaret erscheint, zeigt zur Genüge, daß die Welt weniger als je mit dem rätselhaften Manne fertig wird. Der glaubende Christ und Katholik kann dem Schlachtgewühl nicht – auf sein Credo gestützt – gelassen zusehen. Er muß jetzt und heute bereit sein, seine Entscheidung zu verantworten, sie deshalb auch je neu den Anfragen und Angriffen gegenüber zu überprüfen. Er kann es freilich mit einer innern Ruhe tun, weil er weiß, daß der, dem er seinen Glauben geschenkt hat, nicht nur unerfindbare Worte gesprochen, sondern auch ein unüberholbares Lebens- und Todesschicksal erfahren hat. Was hätte noch Sinn, wenn dieser Inbegriff alles Sinnes zusammenbräche? «Herr, zu wem sollten wir gehen? Wort-Taten (rēmata) ewigen Lebens hast du» (Joh 6,68).
Wir stellen in gedrängtester Kürze drei Fragen: 1. Kann die von der Urkirche entworfene Christologie ein Mythus sein? 2. Ist das Geschick Jesu deutbar als bloße Kundgabe des Wohlwollens Gottes für die Welt? 3. Kann Jesus ein echter Mensch sein, wenn man von ihm sagt, er sei «eine göttliche Person»?
1. Was immer am Ostertag geschehen sein mag, sicher ist, daß an ihm etwas wie eine geistige Atombombe geplatzt ist. Wenn Jesus im Jahr 30 gekreuzigt wurde und Paulus sich 32 (spätestens 34) bekehrt hat, und wenn dieser Paulus bezeugt, er habe die kernhaft alles enthaltende christologische Formel überkommen erhalten (1 Kor 15,3-5), wenn er in allen seinen Briefen vorpaulinische christologische Akklamationen, Hymnen (mit den offenkundigsten Aussagen über Jesu Gottgleichheit, Schöpfertätigkeit, Präexistenz) und Glaubensformeln verwendet, deren Kenntnis er bei den Adressaten voraussetzen kann, dann erhebt sich die Frage: genügen diese zwei bis vier Jahre – oder wenn man den Zeitraum bis zu den Briefen einrechnen will, diese zwanzig Jahre –, um einen Mythos aufzubauen, der in seiner Einheitlichkeit trotz vager Vergleichbarkeit mit heidnischen Mythen, in seiner historischen Durchschlagskraft seinesgleichen nicht hat? Der verfügbare Zeitraum reicht weder für den von den Religions- und Redaktionsgeschichtlern angesetzten Migrationsprozeß von der aramäisch sprechenden Jerusalemer Urgemeinde zu hellenistisch-judenchristlichen und von da zu heidenchristlichen Gemeinden, zumal man heute weiß, wie stark das damalige Jerusalem selbst hellenistisch durchtränkt war1. Weder der Kyriostitel (dem aramäischen mar, vgl. maranatha, entsprechend), noch der Sohn-Gottes-Titel (der sich vom Alten Testament her erklärt), noch die Präexistenz- und Sendungsformel (die in der jüdischen Weisheitstradition präformiert ist) bedürfen zu ihrer Erklärung eines Durchgangs durch das religiöse Denken des Hellenismus. Die Behauptung des Vorhandenseins eines «gnostischen Erlösermythos» zur Zeit Pauli, worauf noch die Hypothesen Bultmanns aufruhen, wurde unterdessen als unstichhaltig zurückgewiesen2. Auch wenn Jesus den Messiastitel wegen seiner Mißververständlichkeit für sich abgelehnt haben sollte, ist er doch laut der Kreuzesinschrift als (falscher) Messias gekreuzigt worden, und nichts lag näher, als ihm nach Ostern auch diesen Titel sogleich beizulegen3. Aber alle diese Titel erhielten aufgrund der völligen Einmaligkeit seines Verhältnisses zum Vater (den er in nie-dagewesener Weise als «Abba» anredete) und der Einheit der beiden Ereignisse Kreuz-Auferstehung ein vollkommen anderes Gewicht, als sie es bei früheren Verwendungen hatten. Zudem hatte Jesus selbst für diese Aufsteigerung gesorgt durch die Autorität und den Anspruch, mit denen er auftrat: «Mehr als Jonas (die Propheten), mehr als Salomon (die Weisheitslehre)», mehr als Moses sogar, dessen Gesetz er berichtigt oder vertieft: «Zu wem machst du dich selbst?» So ist er, auch wenn ihm zu Lebzeiten keiner der späteren «göttlichen» Titel beigelegt worden ist, unbedingt selber Anlaß für die Aufteilung seiner Prädikate bis in die göttliche Sphäre. Wie rasch und konzentrisch es dabei zuging, zeigt das vorpaulinische Vorhandensein des «Für uns» («Für mich» Gal 2,20) als Auslegung des Kreuzesleidens: wirksame Entsühnung der Menschheit vor Gott – wirksamere als das ganze mosaische Gesetz sie zu bewerkstelligen vermochte – konnte einzig aus der göttlichen Sphäre her ergangen sein.
2. Aber hier setzt unsere zweite Frage an. Warum sollte nicht das Leiden eines Unschuldigen (der vielleicht nachträglich durch Auferweckung von Gott «beglaubigt» worden ist) das Zeichen dafür sein, daß Gott sich nicht als der zürnende Richter, sondern als der barmherzige Vater bekunden wollte? Das heute einmütige Anrennen gegen die (bisher klassische) Stellvertretungslehre des hl. Anselm ist ein verdächtiges Zeichen dafür, daß im Hinterkopf mancher, auch katholischer Theologen diese rein symbolische Kreuzesdeutung spukt, die das Gottsein Jesu unnötig machte. Wenn der Vater den «Sohn» schon aus Liebe «sendet» und «preisgibt» (Röm 8,32; Joh 3,16), dann braucht er ja gar nicht erst «versöhnt» zu werden! Wer sich mit diesem Gedanken begnügt, hat auf jeden Fall die neutestamentliche Offenbarung um ihr unverwechselbares Gottesbild gebracht: daß Gott in sich trinitarische, selbstlos-hingegebene Liebe ist. Er hat nicht bedacht, was Gott der Schöpfer gewagt hat, wenn er freie Geschöpfe schuf, die ihm ins Angesicht widersprechen können. Soll er sie verdammen? Dann hat er das Weltspiel verloren. Soll er sie einfach begnaden? Dann hat er ihre Freiheit nicht ernstgenommen, bzw. sie gewaltsam überspielt. Wie also konnte er das Wagnis eingehen? Nur wenn von Anfang an (und hier versteht man die Schöpfermittlerschaft Christi: 1 Kor 8,6) der ewige Sohn sich als Bürge für die Sünder durch eine absolute Solidarität mit ihnen bis in die Gottverlassenheit anbot. Nur dann kann diese entsetzliche Welt von Gott als «sehr gut» bezeichnet und ins Dasein gesetzt worden sein. Dann freilich sehen wir durch das aufgestochene Herz des Gekreuzigten hinab in das Herz des Vaters und erkennen beider unerforschlichen gemeinsamen Liebesgeist, erkennen den dreieinigen Gott, der ewig-göttlich «gewöhnt» ist, alles bis zum letzten Tropfen hinzugeben (der Vater dem Sohn, der Sohn dem Vater, und der Geist beiden als ihr einiger Geist letzter Enteignung: Armut und Reichtum sind eins) und dies immer schon göttliche Gebaren dann auch in Freiheit der geschaffenen Welt gegenüber zu betätigen.
Von hier versteht sich der den Kirchenvätern so teure Gedanke, daß sich seit Schöpfungsanfang Gottes Sohn in das Mitsein mit den Menschen «eingewöhnte» (Irenäus), um dabei auch den Vater daran zu «gewöhnen», die Welt im Sohn anzublicken. Es gibt nicht nur eine allgemeine Gegenwart des Logos in Natur und Geschichte, sondern einen Prozeß auf die endgültige Menschwerdung und das endgültige Kreuz zu4. Der Ausweis dieser Kontinuität ist eines der Themen der letzten großen, eben auch deutsch erschienenen Christologie, derjenigen Louis Bouyers5. Daß nachchristlich der Erhöhte zugleich der eucharistisch Gegenwärtige bleibt, erklärt ohne weiteres, wie die Vorgeschichte in eine Nach- und Endgeschichte (der Welt in Christus) sich fortsetzen kann. Die Weltgeschichte kann nun als ganze wirklich Freiheitsgeschichte sein, aber in christlichem Glaubensverständnis eine solche, die sich im umwölbenden Raum einer ewigen, innergöttlichen, doch zu uns geöffneten Freiheitsgeschichte sich ereignen darf.
3. Ist das aber nicht trotz allem ein heute unvollziehbarer Mythos? Bricht nicht dessen ganze Fragwürdigkeit auf an diesem Menschen Jesus von Nazaret, der doch gar kein normaler Mensch wäre, wenn gleichsam aus seinem Hintergrund, durch seine Natur wie durch ein Blasinstrument ein Anderer, ein Gott, sich kundgetan hätte? «Zwei Naturen, Gott und Mensch, und eine (göttliche!) Person», sagt Chalkedon, also ist die menschliche Natur nicht Person. Andererseits: Welche menschliche Persönlichkeit affimiert sich stärker, prägender, «maßgebender» (Jaspers) als die Jesu von Nazaret? Die verstiegensten, zum Teil hirnwütigsten Spekulationen haben versucht, mit dieser christologischen Quadratur des Kreies fertig zu werden. Wir möchten hier (in einem gewissen Anschluß an Blondel) in zwei-drei Sätzen etwas Einfaches zu bedenken geben. Der Begriff «Person» (hypostasis) im Unterschied zu «geistiger Natur» ist erst durch die Meditation über Christus in das abendländische Denken eingedrungen; er ist theologischer Herkunft. Was bedeutet denn das, was wir Person zu nennen gewohnt sind, anderes als individuelle Geistnatur, sowohl unmitteilbar (wie auch im untermenschlichen Bereich das In-dividuum unmitteilbar ist), wie sich-mit-teilen-könnend in geistigen und physischen Akten? Welcher Mensch aber kann sagen, worin qualitativ6 seine einmalige Differenz besteht? Niemand. Jeder weiß, daß er er selbst ist, aber keiner weiß, wer er ist. Nur Gott weiß, wer er selbst ist, nur Gott ist im Vollsinn Person. Und Jesus Christus weiß es auch, aufgrund seiner qualitativ einmaligen Sendung vom Vater, mit der er eins ist. Indem der Mann aus Nazaret sich identisch weiß mit einer – geradezu ungeheuerlichen – Sendung (die Welt zu Gott heimzubringen), weiß er, wer er ist. Durch ihn, den Weg zu Gott, geschieht qualitative Verpersönlichung von menschlichen Individuen. Mit einem alten Theologen: «Zu Gott kommend kommt der Mensch erst wahrhaft zu sich selbst. Von der Urpersönlichkeit Gottes gehalten, wird der Mensch wahrhaft persönlich.»7
Und mehr als dies, daß er die verkörperte Sendung Gottes des Vaters ist, die sich in der «Stunde» des Vaters in ihm bis zum letzten vollenden wird (in der «Stunde», auf die er wartet, und um deren Gekommensein er weiß), braucht der Mann Jesus auch gar nicht zu wissen, um mit vollem Recht von der Kirche als «Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott» gepriesen und angebetet zu werden.
- Zu alldem: Martin Hengel, Christologie und neutestamentliche Chronologie. In: Neues Testament und Geschichte (Cullmann-Festschrift 1972), S. 43-67. Ders., Judentum und Hellenismus, 21973. Ders., Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, 1975.↩
- C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, 1961.↩
- N.A. Dahl, Der gekreuzigte Messias. In: Ristow-Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, 1960, S. 140ff.↩
- Etwas darüber in meinem «Alter Bund» («Herrlichkeit» III/2,1), S. 199-275.↩
- «Das Wort ist der Sohn. Der Weg der Christologie», Johannesverlag Einsiedeln 1976, 544 S.↩
- Nicht bloß quantitativ, d. h. empirisch, aufgrund von Vererbung, Erziehung, Welterfahrung usf.↩
- Marheineke, Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, 1827, S. 381.↩
Hans Urs von Balthasar
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“Gott von Gott, Licht vom Licht…”
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