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Heiligkeit im Alltag
Adrienne von Speyr
Originaltitel
Heiligkeit im Alltag
Erhalten
Themen
Technische Daten
Sprache:
Deutsch
Sprache des Originals:
DeutschImpressum:
Saint John PublicationsJahr:
2023Typ:
Artikel
Ein Mensch geht morgens an seine Arbeit; er denkt an nichts, da fliegt ihm von der Straße eine Schlagermelodie zu, er hört sie, er verfolgt sie, schließlich verfolgt sie ihn, und er wird sie den ganzen Tag nicht mehr los. Oder es ist ein böses Wort, das er wie zufällig hört, er weiß nicht einmal, ob es ihm gilt; es hakt sich ein, er denkt darüber nach. Vielleicht erklang es im gleichen Augenblick, da eine Autotür zuschlug, und jedes mal nun, wenn er im Laufe des Tages ein ähnliches Geräusch hört, steigt das Wort wieder auf.
Unser seelisches Leben ist irgendwo immer wehrlos und ausgesetzt, äußere Einflüsse, Anregungen können es gestalten, stimmen, gefangen nehmen. Und die tägliche Beschäftigung der meisten Menschen ist so beschaffen, daß sie nicht ihre ganze Aufmerksamkeit bindet und in ihren Bann zieht. Sie läßt in ihnen eine ganze Zone inneren Lebens wie unbenützt. Ohne daß es der Arbeit hinderlich ist, kann einer sich von einer Melodie oder einem Gedanken tagsüber begleiten lassen, und wenn er auch selber das Bewußtsein hat, er könnte noch intensiver, noch hingegebener arbeiten, so wird doch niemand der erledigten Arbeit anmerken, daß der Arbeiter zerstreut oder nicht bei der Sache war; oder in welcher guten oder bösen Stimmung, von welcher fixen Idee besessen er sein Tagewerk hinter sich gebracht hat. Aber vielleicht wird er, wenn er die beiden Tage betrachtet: den Tag der Melodie und den Tag des bösen Wortes, doch erschrocken sein beim Gedanken, daß seine persönliche Innenwelt so sehr durch den Zufall beeinflußt worden ist. Und er wird sich fragen, ob der Mensch nicht doch imstande sein könnte, statt von solchen Bagatellen sich stimmen und bestimmen zu lassen, aus einer verborgenen, substanziellen Nahrung zu leben, aus einer innern Wahl und Entschiedenheit, aus einer Quelle, die ihn unsichtbar durch den Alltag begleitet und sein Leben zu einem wesentlichen, christlichen und heiligen Leben macht. Wenn das Nichtige schon solche Kraft über uns besitzt, oder besser gesagt, wenn wir soviel Kraft, so tiefe Innenräume besitzen, die im Alltag unbenützt sind und die vor lauter Leere sich den Nichtigkeiten des Alltags zur Verfügung stellen, wie müßte dann ein Leben aussehen, das diese freibleibenden Möglichkeiten einer wahren Wirklichkeit, der Wirklichkeit Gott anböte?
Wir sind Christen. Wir glauben. Wir erfüllen die Minimalforderungen Kirche. Aber wir tun es vielleicht so, wie jener Mann seine Arbeit verrichtet: sauber, loyal, unanfechtbar; nur ist ein leerer Raum da – vielleicht sehr größer als der durch die «kirchlichen Pflichten» beanspruchte –‚ den wir uns vorbehalten, in dem wir für uns selber leben, uns mit uns selber eingerichtet haben. Aber wie, wenn das Wort Gottes in uns die Stelle einnähme, die der Zufall und der periphere Genuß jetzt besetzt halten? Das Wort Gottes erhebt Anspruch auf diese Sphäre. Es will in uns so leben, wie der Same Gottes in Maria gelebt hat: allbeherrschend und wachsend. Wir sollten uns nicht als Glaubende und als Christen bezeichnen, wenn wir gewisse Türen unserer Seele dem Wort verriegeln. Vorbehalte machen. Nur einen Teil unserer selbst dem Wort zur Verfügung halten. Glauben heißt: ein Träger des Wortes sein, und das heißt wiederum: sich ganz und immer mehr vom Worte tragen lassen.
Glaube heißt nicht, sich langsam, sukzessiv, in gemessenen Stufen und Abständen dem Wort Gottes nähern, sich nach einem vielleicht klugen Plan allmählich zum Wort Gottes bekehren, es vielleicht zuerst mit den scheinbar leichteren Worten Christi versuchen und so Zeit gewinnen, um die schwereren, die alles fordernden für ein unbestimmtes später zu vertagen. Glaube heißt, sofort das Ganze wagen, sofort auch die unglaublichsten, unübersetzbaren Worte in sich aufnehmen und bejahen. Um plötzlich ausweglos dem Absoluten gegenüberzustehen und ausweglos diesem Absoluten, «Unmöglichen», den geforderten Platz einzuräumen. Einen Platz, der nichts mehr zu tun hätte mit jenem indifferenten, flauen Offensein für alle Zufälle der Straße, der der innere Platz in mir wäre, von dem aus alle andern Orte und Plätze der Seele besetzt und geordnet werden können. Ein solches Wort könnte der Ausspruch des Herrn sein: «Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist». Oder das Wort Gottes im Alten Bund: «Seid heilig, weil ich heilig bin». Die Forderung also, unsern ganzen Alltag mit seinem Kleinkram in die Seligkeit Gottes hineinzuwerfen, unser Sündenelend und den Jahrmarkt unserer Unvollkommenheiten in der Heiligkeit des Vaters untergehen zu lassen. Überhaupt an der Stelle unserer selbst in uns für Gott Raum zu schaffen.
Derjenige, der dieses scheinbar Unmögliche fordert, ist der Sohn Gottes, der nur einen einzigen Willen kennt: den des Vaters. Der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als diesen Willen erfüllen. Der, Mensch-werdend, unsern Alltag auf sich genommen hat, um ihn mit dem ewigen Tag des Vaters zu füllen. Der, von oben nach unten steigend, aus seiner Ewigkeit heraus nach der Zeitlichkeit gegriffen hat, um sie zum Gefäß des ewigen Lebens zu machen, unabgeschwächt, unverdunkelt, kompromißlos. In dieser Herabwürdigung ist die ganze göttliche Würde enthalten: Er vergibt sich nichts, indem er das tut: er ist auch als Mensch heilig, so wie Gott der Vater heilig ist. «Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?» Er lebt die Vollkommenheit so, daß sie zu uns hin geöffnet ist. Indem er das Unglaubliche vollbringt, lädt er uns ein, es mit ihm zusammen im umgekehrten Sinn zu vollziehen: von unten empor uns in diese Heiligkeit, die ja bestimmt ist von der Heiligkeit des Vaters, hineinzuwerfen, um sie, unserer persönlichen Art und Sendung entsprechend, darzuleben.
Dieser Sprung und Wurf ist vor allem und zuerst eine Tat des Glaubens. Wenn wir versuchen, etwas von dieser Forderung des Sohnes – vollkommen zu sein wie Gott – zu verstehen, dann wird uns sofort evident, daß sie unmöglich rein rational, rein theoretisch und von außen einsichtig gemacht werden kann. Sie ist für den Verstand, der weiß, was es um Gott ist und was es um das Geschöpf, ja um den Sünder ist, geradezu absurd. Wenn wir uns rein verständlich als das betrachten und einschätzen, was wir sind, dann wird eindeutig klar: wir können diese Forderung nicht erfüllen. Wollen wir aber den Herrn nicht Lügen strafen, so müssen wir sagen: Was er verlangt, ist möglich. In einer Bewegung, einem Vollzug, der durch die Kraft des Herrn in uns vollzogen wird, bei dem wir uns so betragen, daß wir den Herrn wirklich vollziehen lassen, bei dem wir also auch, unter anderem, unbedingt auf den Maßstab unseres eigenen Begreifens und Messens verzichten. Kein Glaubender wird je seine eigene Heiligkeit sehen, verstehen, behaupten können, und doch wird er ebenso wenig im Glauben behaupten dürfen, Gott könne sein Wort in ihm nicht wahrmachen. Er überläßt die Einsicht und das Begreifen Gott.
Heiligkeit ist ein Wort, das seine Wahrheit in Gott hat und im Glaubenden nur in Gestalt einer Forderung lebt. Er kann sein Leben unter das Motto dieser Forderung stellen: Seid heilig! Seid vollkommen!, er kann sie aber nie als erfüllt betrachten. Und letztlich ist er gar nicht frei, diese Forderung anzunehmen, er muß es tun. Glaubend stellt er sein Leben unter eine von Gott übernommene Wahrheit, der zu dienen er sich bereit erklärt. Die Wurzel der Heiligkeit ist also Gehorsam. Glaubensgehorsam, und zwar geradezu blinder Gehorsam, der im tiefsten weiß, daß es aus menschlicher Kraft hier nichts zu sehen, zu betrachten, zu verstehen gibt. Und doch wiederum nicht absurder oder verzweifelter Glaube, der es heimlich doch besser weiß als Gott, sondern ein demütiger, offener Glaube, der der Hoffnung des Werdens den breitesten Raum überläßt. Es ist wie bei den Wundern des Herrn. Ich bin von Geburt gelähmt, und der Herr sagt zu mir: Steh auf! Ich werde aufstehen; nicht darum, weil meine Vernunft sich zur Einsicht in die Richtigkeit und Vernünftigkeit des Glaubens empor- und herangearbeitet hat, sondern indem ich das Wort Gottes in mich aufnehme und im Befehl des Wortes den Glauben – ganz abrupt, ohne Überlegung, ob mein Glaube hinreicht –, es zu leisten. In einer ungebrochenen Hinnahme des Glaubensgeschenks, das der Herr mir in seinem Befehl macht. Die Kraft, aufzustehen, liegt in dem geglaubten Wort: Steh auf! Alles, was mit dem Vorgang des Aufstehens gemeint ist und mit ihm zusammenhängt, ist in diesem enthalten. Ich werde nicht aufstehen, um zwei Schritte machen zu können und den dritten nicht mehr. Oder wieder hinzuliegen. Das Aufstehen meint das Gehenkönnen und enthält es in sich. Aufstehend werde ich die Kraft des Aufstehens nicht verbrauchen; die Forderung wird innerhalb der Leistung verbleiben und die Kraft ebenfalls. Ich werde auch morgen wieder aufstehen und jedes Mal, wann die Forderung es will, die einen lebendigen Zustand des Aufstehens, des Im-Aufstehen-bleibens geschaffen hat. Auch im Alltag schenkt der Herr Worte, die sich an Kraft von seinen Wunderworten in nichts unterscheiden. Sie haben das Leben je-jetzt in sich und befähigen den, der sie annimmt, je-jetzt zu leben und dem Wort zu dienen, wobei dem Dienenden jede Abstufung, jedes Einschätzen von Nähe und Ferne entzogen wird. Das Wort bleibt absolut, und der Dienende hat nicht das Recht, es in sich zu relativieren.
In der Relativierung läge unweigerlich der Anfang des Unglaubens, zumindest die Kleingläubigkeit, die die Forderung des Herrn für übertrieben und unverwirklichbar hält. Daß i c h unvollkommen, ja der ärgste der Sünder bin, tut hier nichts zur Sache. Das Wort steigt deswegen nicht aus seiner Absolutheit herab. Es schwächt sich nicht ab, es bleibt das absolut Lebendige, das lebendige Absolute. Das Nichtwollen des Unglaubens kann es seiner Kraft nicht berauben. Vom Glaubenden aber ist nur gefordert, daß er sein Leben dem Leben des Wortes in ihm zur Verfügung stelle, damit es in ihm die Kraft besitze, die es in sich selber besitzt.
Wir haben einen Tag lang mit der Schlagermelodie im Ohr gelebt. Wir könnten dasselbe zu tun versuchen mit einem Wort des Herrn; so wird uns seine Heiligkeit, die ja unendlich machtvoller ist als eine Melodie, aufs eindringlichste begleiten. Die Melodie kann schön sein, aber sie nützt sich ab, wird banal, unerträglich. Das Wort des Herrn geht je-jetzt in seiner Frische aus dem Munde Gottes hervor. Und wir können es in dieser Nähe, dieser Dringlichkeit, dieser ewigen Unverbrauchtheit und Neuheit aufnehmen. Auch in seiner Unbegreiflichkeit, denn wer ahnt nur die Vollkommenheit des Vaters! Allein der Sohn und der Geist kennen sie. Und dennoch sollen wir hinein und dürfen nicht relativieren. Wenn wir die Heiligkeit des Vaters an der uns erreichbaren, uns verständlichen zu messen versuchen, wenn wir um sie uns vorzustellen, alle Werte und Vollkommenheiten der Welt zusammenrechnen und ins Unendliche aufsteigern und sagen: So ist der Vater! und seufzend hinzufügen: Und noch viel größer!, dann sind wir immer in Gefahr, Gottes Vollkommenheit zu entwerten. Denn sie wird in der Weise unseres endlichen Erkennens nur zu leicht zu einer Art unendlicher Kette kleiner menschlicher und weltlicher Vorzüge, und es geht ihr das einzige ab, was sie in Wahrheit auszeichnet: das Absolute, das Göttliche. Und wenn wir nun gar auf einer solchen Berechnung zu handeln versuchten und meinten, durch Addition einer Anzahl oder Unzahl von kleinen und kleinlichen Akten und Tugenden uns langsam der göttlichen Vollkommenheit heranzuarbeiten und stufenweise die Forderung des Sohnes zu erfüllen, dann hätten wir nur das eine sicher erreicht: wir hätten das Absolute in unserem Leben getötet.
Wer im Glauben das Gute tut, der muß immer auch bekennen: Es ist – soweit es auf mich ankommt – nichts, es kommt nicht in Betracht. Aus der Addition von solchen Nichtsen schließlich doch etwas Großes als Ergebnis nachweisen zu wollen, wäre nicht nur unvernünftig, sondern verstieße gegen den Glauben. Wir sollen nicht das Geheimnis des Glaubens, das wir nicht sehen, in den kontrollierbaren Tatsachen dieser sichtbaren Welt wiederfinden wollen. Wir können darum nur eins tun: dauernd unser ganzes Sein in die absolute Forderung hineinstellen, dauernd versuchen, mit allem in uns das Wort Gottes aufzunehmen und die ganze Antwort, die der Herr bildet, zu erwarten als die Folge seiner Forderung. Zu erwarten innerhalb eines Glaubensaktes, der nicht mehr zerlegbar ist. Im Befehl, vollkommen zu sein, ist die Zerstörung jeder Stufung enthalten. Was wir tun – soweit es ein menschlich erfahrbares Tun ist – ist unsagbar gering. Was den Ausschlag gibt, ist die Forderung des Herrn, vollkommen zu sein wie der Vater. Reflektieren wir auf das Nichtssein oder Etwassein dieses Nichts, so wird unsere Tat zum Hindernis zwischen uns und dem Wort des Herrn. Je mehr gute Taten wir verrichten, die wir als solche erkennen und einschätzen, um so höher türmt sich das Hindernis, das uns unfähig macht, das Wort des Herrn ungebrochen, das heißt im Glauben anzunehmen. Das Gute, das, was wir als solches betrachten, kann uns ebenso hindern, zu Gott zu kommen, wie irgendein Böses und eine Sünde.
Die ganze Möglichkeit, die Kluft zu überspringen, liegt im Sohn. Er kam in die Welt, um die Welt durch seine Liebe zum Vater zurückzuführen. Er beraubte sich, indem er Mensch wurde, weder des göttlichen Seins noch der Kenntnis Gottes; aber, wie sein Auftrag als ganzer ein Auftrag der Liebe war, so war er es nicht nur in der Ausführung, in der Aktion, sondern auch in der Vorstellung, in der Kontemplation. Er sieht den Vater auch als Mensch, aber auch diese Schau ist während seiner Sendung nichts von ihr Isoliertes, nicht ein bloßes persönliches Vorrecht, von dem er etwa zu seiner Stärkung Gebrauch machte, sie hat vielmehr ihr Maß und ihren Sinn in seiner Sendung der Liebe. Der Sohn kennt den Vater und sieht seine Vollkommenheit innerhalb seiner sohnlichen Liebe. Seine Schau ist mehr Zustand als Akt, sie ist die Hellsicht seiner Liebe und seines Gehorsams. In der Liebe zum Vater also stellt er das Maß auf zwischen Gott und Mensch und schlägt die Brücke zwischen beiden. Er paßt nicht den Vater der Welt an, sondern zeigt der Welt den absoluten Vater. Und er liefert in seinem Leben den Beweis dafür, daß die Menschen so leben können, wie Gott es erwartet: in der Liebe zum absoluten Vater. Es ist eine Huldigung an den Vater, daß er als Mensch vollkommen ist, weil er dadurch die Schöpfung des Vaters rechtfertigt. Aber seine Vollkommenheit ist ein Akt und eine Leistung seiner Liebe zum Vater und zu den Menschen. Seine Liebe ist so groß, daß sie die Heiligkeit des Vaters in Menschengestalt darzuleben vermag.
Er lebt keine Heiligkeit, die er in stillen Stunden der Andacht entfaltet, fern vom Getriebe der Alltagswelt. Seine Heiligkeit ist sich immer gleich, in jeder Lage seines Lebens. Sie ist sich selber gleich, weil sie immer dem Vater gleich ist. Und dem Vater ist sie gleich, weil sie immer aus seiner Liebe fließt und in seine Liebe zurückfließt. Und weil er diese Heiligkeit des Vaters als Mensch lebt bis zum Gehorsam des Kreuzestodes, darum kann er sie in der Gnade auch Menschen mitteilen. Wo immer er an die Menschen eine Forderung hat, da hat er sie selber im voraus erfüllt, und aus dieser Erfüllung gibt er ihr die Kraft der Erfüllbarkeit; gibt er seinem Wort je die größte Nähe zum Vater. Nirgends kann der Mensch dem Vater näher sein als im Wort des Sohnes. Und wenn er gar fordert: Seid wie der Vater!, so ist es, als würfe er in diesem Augenblick die Menschen unmittelbar in die Arme des Vaters. Er vernichtet den Abstand, indem er selbst zum überbrückten Abstand wird, als Sohn, der zugleich das Wort ist.
Die Worte des Herrn sind alle in einer geschichtlichen Situation gesprochen, die wir in den meisten Fällen kennen. Aber sie sind über diese Situation je-jetzt gültig, weil in der historischen eine ewige Situation durchschimmert, weil der Sohn diese Worte von jeher als Ausdruck seines Wesens in sich trug und keines von ihnen in irgendeinem Widerspruch zu seiner ewigen Liebe des Vaters steht. Sie sind irgendwie in unsere Geschichtlichkeit eingepaßt, damit wir sie als irdische Menschen vernehmen können, aber sie sind nicht angepaßt den Gesetzen unserer Zeit, weil sie ja unsere Zeit in die Ewigkeit aufnehmen, darum nicht in der Zeit verklingen und abgestumpft werden. Sie sind das ewige Leben, weil sie die Liebe des Sohnes zum Vater sind und alles zum Vater zurückführen.
Die Schrift ist als Buch zu einem Alltagsgegenstand geworden, durch welchen wir, wann es auch sei, auf das ewige Wort des Sohnes stoßen können. Aber wir begegnen ihm nicht nur, während wir lesen; das Wort kann in unserem Gedächtnis haften und durch unsern Willen jeden Augenblick lebendig aufgestellt werden. Es kann zum Maß unseres Tuns, zur Hülle unseres Daseins werden und solche Lebendigkeit entfalten, daß es gewissermaßen lebendiger ist als unser Leben. Es kann uns stetig in sich aufnehmen und bergen. Auch als Forderung, aber vor allem als Liebe. Wird diese Einsicht in uns lebendig, dann kommt der Augenblick, da uns alles drängt, einen vollen Gehorsam zu versuchen. Nicht nur öfters und mit Andacht an Gott zu denken, nicht nur seine einzelnen Gebote zu halten, sondern die gewaltige Nähe seines absoluten Wesens zur steten Begleitung unseres Lebens zu haben und darin die Liebe, und in der Liebe die Forderung nach Liebe zu begreifen. Im Unverstandenen (denn wer wollte letztlich das Absolute verstehen?) zu bleiben, aber in der Bereitschaft, gerade weil wir nicht verstehen, so zu bleiben, wie Gott es von uns erwartet, indem es ihm selbst überlassen bleibt, aus unserer Bereitschaft die Vollkommenheit zu gestalten.
Und dann gibt es noch die Heiligkeit der Heiligen in der Kirche. Ihre Heiligkeit besteht darin, daß sie sich dauernd innerhalb des Absoluten bewegen und bewegen lassen. Daß sie das Wort «genug» nicht kennen. Daß sie auch keine Maßstäbe anwenden. Daß sie in einem dauernden Gespräch mit Gott sich befinden, in welchem sie ständig die Richtung von Gott empfangen, eine Richtung, die selbst wenn sie für uns nicht immer ganz deutlich ist, auf jeden Fall immer den Willen Gottes zum Ziel hat. In etwa sind die Heiligen in ihrem Leben eine Art Fortsetzung des irdischen Lebens des Herrn. Ihr Leben läßt sich darlegen, verfolgen, es ist aus zahlreichen Begebenheiten zusammengesetzt, es entbehrt nicht der persönlichen Prägung. Und doch ist das alles wie sekundär. Das erste, das einzig Wesentliche ist die Hinrichtung der Seele auf Gott, das Geschehenlassen Gottes in der Seele, das alles übrige nur als Forderung dieses Einen erscheinen läßt. Auch die Heiligen haben ihren Alltag, wie Gott ihn auf Erden gehabt hat. Aber wenn sie wirklich Heilige sind, dann ist es, weil dieser Alltag zum Ausdruck für das Unalltäglichste, für das ewige Leben des Vaters geworden ist, seines Willens in ihnen und durch sie. Die Heiligen brennen vom Feuer des ewigen Lebens. Und wir sollen in unserem Umgang mit ihnen dieses Feuer nicht dämpfen. Wir sollen die Heiligen nicht verkleinern. Es ist uns gegeben, in ihren Alltag hineinzusehen. Wir können in die Pfarre von Ars und in den Karmel von Lisieux so hineinsehen, daß man darüber beinahe die Heiligkeit derer vergißt, die diesen Alltag bewohnt haben. Man soll diese Gefahr vermeiden. Man soll nicht im Zug der «Vermenschlichung» der Heiligen, wie sie heute oft üblich ist, die Größe des Geschenks übersehen, das Gott in ihnen der Kirche und der Welt gemacht hat. Anders wird es, wenn man ihren Alltag mitten in ihre Auseinandersetzung mit Gott zurückstellt. Dann ist das, was für uns wie Ruhe und täglicher Ablauf aussieht, ein stetes von Gott Bearbeitetwerden und dieser Bearbeitung Hingegebensein. Dann betrachtet man nicht mehr das Relative auch eines Heiligenlebens, auch einer heiligen Seele und eines heiligen Bewußtseins, sondern das Unmeßbare der Wirkung Gottes. Der Alltag und alles, was ihn füllt, ist dann nichts mehr als ein Rahmen für das andere, das eigentliche Leben des Heiligen, etwas, das uns erlaubt, dieses Unbegreifliche zu situieren. Aber auch dieses Situieren ist nur insofern wichtig, als es uns zur Unsituierbarkeit Gottes führt. Die Heiligen leben schon hier im ewigen Leben, sie sind eigentlich, im Augenblick, da sie die Schwelle der wirklichen Heiligkeit übertreten, reif für den Himmel und bräuchten deshalb nicht eigentlich mehr auf Erden zu leben. Leben sie dennoch weiter, dann in einer Art Freiwilligkeit für die andern, um ihnen – so wie der Sohn seinen ganzen Alltag auf Erden freiwillig gelebt hat – mit ihrer Liebe, ihren Opfern, ihren Leiden zu dienen und auch, um den andern ihren Weg zu schenken (Franziskus den Weg der Armut, Ignatius den Weg des Gehorsams, Therese den kleinen Weg), so wie der Sohn uns allen seinen göttlichen Weg geschenkt hat.
Auch die Heiligen sind nur eine Verdeutlichung der Heiligkeit Gottes. Die Heiligkeit der Heiligen darf keinen Augenblick von der Heiligkeit Gottes getrennt und für sich betrachtet werden. Sie leben von der Heiligkeit Gottes. Und weil diese immer unendlich ist, darum ist es unmöglich, die Heiligkeit der einzelnen Heiligen zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen. Die Heiligkeit ist immer eins und unteilbar, weil sie in Gott ist. Sowie auch das Wort und die Liebe, die uns die Heiligkeit Gottes erschließen, immer eins und unteilbar sind. Man muß sich Gott von oben her, nämlich von ihm selbst her nähern. Versucht man es von unten, indem man einzelne Tugendakte aneinander reiht und irgendeinmal auf sie zurückblickt als auf etwas Erreichtes, so täte man dasselbe wie ein Kind, das auf einen Stuhl steigt, um nach der Sonne zu greifen. Auch die Heiligen sind nicht vor allem Stufenleitern für uns, sondern Zeichen. Zeichen, daß Christus lebt. Sie stehen in einem unbedingten Zusammenhang mit der Menschwerdung Christi. Sie sind Geoffenbartes, Dahingegebenes. Für die wahrhaft Heiligen muß das Leben auf Erden eine Qual sein: sie sind verzehrt vom Wunsch, Gott zu schauen. Sie bleiben trotzdem, aus Gehorsam. Darum stehen sie dem Gehorsam Christi auf Erden so nah. Mit Christus zusammen heiligen sie den Alltag. Sie heiligen ihn aktiv, weil ihr Alltag passiv heilig ist, in einer Aktion, die aus der Kontemplation fließt. Ihr Leben ist ein Akt der Liebe innerhalb der Liebe des Sohnes zum Vater.
Der Sohn kam, um dem Vater die Welt zurückzugeben, und er hat in diesem Akt seine unendliche Liebe zum Vater bewiesen. Aber er will diesen Beweis nicht allein führen. Er führt ihn göttlich und vollkommen, aber zugleich öffnend und einladend. Als sei das, was er tut, nicht nur seine einmalige Tat, sondern zugleich und unbedingt Zeichen seines eucharistischen Seins und Wollens. Er will, daß Gott der Vater in seinen Erlösten die Liebe der Menschen zu ihm erkenne. Und so schenkt er jedem, der glaubt, seine Liebe. Wir dürfen diese Liebe des Sohnes nie als etwas Abgeschlossenes sehen, wir würden sonst seinem Gebot der Liebe zuwiderhandeln. Er liebt uns, um uns das Lieben beizubringen. Und in seinen Heiligen lebt diese Liebe mit einem Feuer, das aus dem seinigen stammt und ihm vergleichbar ist. Und so wird uns das, was wir von den Heiligen vernehmen und begreifen, immer wieder zum Vernehmen und Begreifen der Liebe zwischen Vater und Sohn, das aber nie ästhetische Betrachtung bleiben kann, sondern sofortige Forderung ist, mitzumachen, dabei zu sein, mit dem Sohn zusammen die Menschen und den Vater zu lieben. Die uns zugängliche Heiligkeit im Alltag ist dies, daß wir Eingeladene sind, die durch den Sohn an der Vollkommenheit des Vaters liebend teilhaben dürfen.
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