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Die Kirche als Mysterium
Adrienne von Speyr
Originaltitel
Die Kirche als Mysterium
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Themen
Technische Daten
Sprache:
Deutsch
Sprache des Originals:
DeutschImpressum:
Saint John PublicationsJahr:
2022Typ:
Artikel
Wenn einer ernstlich zu glauben beginnt, dann weiß er, dass das Größte die Liebe ist – Paulus hat es eindringlich genug gesagt –, dass die Liebe ein Bestandteil seines Glaubens zu sein hat, dass er seinen Glauben nicht anders vergrößern und vertiefen kann, als indem er liebt. Seine ersten Versuche werden tastend und enttäuschend sein, weil er zwar einen Begriff der Liebe hat, aber noch keine Erfahrung. Er versteht, dass er lieben darf, weil Gott ihn zuerst geliebt hat, nicht nur Gott im Himmel, sondern Gott, der aus Liebe zu ihm Mensch geworden ist, und weil viele Menschen aus Liebe zum Sohn und zum dreieinigen Gott seine Nachfolge darin angetreten haben. Aber der ganze Kreislauf des Liebens bleibt ihm etwas beinahe Theoretisches, das außerhalb des realen menschlichen Kreises in sich abgeschlossen ist. Er hört davon, es klingt wie eine Mahnung, deren Sinn aber nicht vollkommen klar wird. Der Mensch versucht zu lieben, er setzt Akte, aber sie fallen in sich zusammen. Es fehlt ihnen die Dauer. Sie scheinen von einer Laune, einem Augenblick abhängig. Und da es ihm aufgeht, dass er nie und nimmer die Fähigkeit besitzt, recht zu lieben, bittet er um die Liebe. Er fleht zu Gott, zur Mutter des Herrn, zu den Heiligen. Und er beginnt die Geheimnisse der Liebe zu betrachten: Er sieht, wie etwa eine kleine Therese das Alltäglichste innerhalb eines Liebeswillens verrichtet, kleine Dinge für ihren Nächsten getan, kleine Opfer dem Herrn dargebracht hat aus Liebe, in der Meinung, Gott nehme sie an, vervollständige sie und gebe ihnen dort, wo er sie braucht, einen höheren Wert, der ihr selber unsichtbar bleibt, aber im Reich des Unsichtbaren, Geheimnisvollen doch seine Wirkung tut. Der Glaubende betrachtet vor allem das Leben des Herrn und sieht, wie dieses ganze Leben aus Liebe besteht: zum Vater und zum Geist, zum Werk des Vaters, dem Menschen. Jedes Wort, jede Tat bleibt hier Aussage der Liebe. Und irgendeinmal geht ihm das Wesentliche auf. Er versteht, dass er nur von dort aus, wo Gott selber die Liebe eingesetzt hat, zu lieben vermag. Und Gott hat die Liebe nicht nur im kleinen Alltäglichen und nicht nur im Geheimnis der Verborgenheit seines dreieinigen Lebens geübt, sondern den Menschen seine Liebe in der Kirche geschenkt. Die Kirche ist in ihrem wahren Wesen nichts anderes als der Ausdruck der Liebe des Sohnes zu den Menschen. Und so geht sie vom Kreuz zum Kreuz. Vom Kreuz, indem der Herr von dort die Urzelle der Kirche, seine Mutter und Johannes, entlässt: Johannes beschenkt mit der Mutter des Herrn, die Mutter anvertraut dem Jünger seiner Liebe. Das Gesetz dieser Gemeinschaft, ihrer Gründung und ihres Lebens, hat mit dem Gesetz der Natur nichts zu tun und müsste unverständlich bleiben, wenn nicht dahinter, für einen Augenblick gelüftet, das innerste Geheimnis der kirchlichen Liebe hindurchschimmerte. Einer Kirche, die jeden Glaubenden aufnimmt, um aus ihm einen Liebenden mit Beziehungen der Liebe zu machen. Die Aufnahme in die Kirche und das Lebendürfen in der Kirche sind voll von Geheimnissen des Herrn wie von Geheimnissen der Kirche. Würde ein Einzelner sich prüfen, um zu ersehen, ob sein Glaube, sein christliches Leben, seine Teilnahme an den Sakramenten ihn berechtigen, am Kreislauf der kirchlichen Liebe teilzunehmen, so müsste er es verneinen; erst recht müsste er Nein sagen, wenn es um die Frage ginge, ob seine Zugehörigkeit zur Kirche den Schatz an Liebe in der Kirche vermehre. Er würde höchstens das Gefühl haben, er vergeude das, was ihm angeboten wird. Und so wird die Liebe in der Kirche auch zu einem Geheimnis des Einzelnen in ihr, dort, wo er sich in diesem Leben der Liebe geborgen weiß, ohne es im geringsten mehr zu verstehen.
Gott hat die Menschen sosehr geliebt, dass seine Liebe ausreicht, dass sie die Taten der Menschen zu verwandeln vermag; sein Schatz an Liebe geht so über alles Maß, dass es nie zur Neige gehen kann, ja, dass er sogar auf jeden angewiesen ist, um sich richtig zu verschleudern, um im Unmaß des Sohnes Gottes sich den Menschen hinzugeben.
Dies höchste Geheimnis der Liebe, hinter das kein Mensch je ganz kommen wird, berührt und bestimmt das ganze Leben in der Kirche. Es adelt das Amt, es füllt die Sakramente, es schafft das Vorhandensein einer aktiven Kraft der Liebe in jedem Gebet, in jedem Opfer, in jedem christlichen Gedanken. Und es eint die Menschen, es macht aus ihnen, so wie sie sind – und der Gedanke wäre lächerlich, wüssten sie nicht um das Vorhandensein dieses Geheimnisses – eine Gemeinschaft der Heiligen. Nicht so, dass der Sünder irgendwo steht und dass er, als Heiliger, gleichzeitig anderswo stünde. Aber die Liebe lebt in ihm durch die Kraft Gottes und der Liebenden in der Kirche, und die Kraft des sich mitteilenden und verbreitenden Geheimnisses so, dass immerfort eine Einheit geschaffen wird zwischen dem Heiligen, der er zu sein hat, und dem Sünder, der er noch ist. Dieses Geheimnis der Wandlung ist ein Geheimnis intra muros; der Raum der Kirche ist gerade weit genug, um es aufzunehmen, gerade weit genug, um die Liebe des Herrn in sich lebendig zu erhalten. Es gibt kein Erkalten dieser Liebe und kein Sich-Abschwächen. Und auch keine Veruntreuung. Sie ist und lebt und bleibt. Und man kann sie spüren in den Taten der Kirche selbst; dort, wo Petrus steht und das Amt versieht, kann man sie erkennen als eine vielleicht definierbare Liebe. Man kann von ihr reden, sie ausdrücken, ihre Wirkungen feststellen. Aber sie lebt auch dort, wo Petrus zurücktritt und Johannes den Vorrang lässt, wo die Liebe zum Herrn beinahe Freundschaftscharakter erhält, das Amtliche verblasst und nur noch Vertrauen und Glaube und Hoffnung herrschen. Sie ist im Sakrament der Beichte, im Sakrament der Eucharistie, aber auch in den Sakramenten, die über ein ganzes Leben hin zu wirken haben: in der Ehe, in der Weihe; auch dort, wo der Mensch sich vom irdischen Leben trennt, um vor Gottes Gericht zu treten.
Wollte man die Liebe der Kirche in einem Maßstab zu ermessen versuchen, der allen Menschen zugänglich ist, ihnen etwas bedeutet, so könnte man nie ans Ziel gelangen; denn die eine Liebe Gottes in seiner Kirche verbreitet sich so allgegenwärtig und durch alle Ritzen und Fugen hindurch, dass man sie in keine Form und auf keinen Begriff bringen kann, dass keine Waage die nötige Schale besitzt, sie zu wägen. Stellt man sich alle Betenden vor, die den Herrn aufsuchen und ihn bestürmen mit ihren persönlichen und oft so geistlosen Bitten, oder versuchen, das Gebet der Kirche mitzusprechen und Worte, die Tausende und Abertausende vor ihnen brauchten, nachzusagen und ihnen einen Inhalt zu geben, der des Glaubens würdig ist, oder die einfach beten, um in der Nähe zu sein, um den Herrn zu begleiten in einer fortwährenden Bereitschaft, die nichts vorschreiben will: so müsste man jedesmal zur Einsicht gelangen, dass jedes Leben und jeder Gedanke, jeder Funke von Geist und jede Art von Liebe geborgen ist innerhalb des umgreifenden Geheimnisses der kirchlichen Liebe. Man kann einigermaßen den Weg verfolgen, den ein Mensch geht, um sich in dieses Umgreifende hineinzubegeben; aber dann kommt der Augenblick, da alles sich auflöst in das Geheimnis, das immer Geheimnis bleibt. So sehr der Herr sich selbst und seine Kirche geoffenbart hat, so sehr hat er gleichzeitig – auf dass wir vor den Abgründen dessen, was wirklich ist und vor der Größe der Liebe nicht zurückzuschrecken brauchen – das Geheimnisvolle, das mit dem göttlichen Leben und der vollkommenen Wirksamkeit ausgestattet ist, zurückgehalten; es aufgespart für die Offenbarung im ewigen Leben, aufgespart auch, damit die Menschen sich nicht durch den Abstand zurückgestoßen fühlen und damit sie die Fähigkeit behalten, Gottes Gebote zu halten und die ihnen auferlegte Hoffnung in sich lebendig zu bewahren. Das Geheimnisvolle des kirchlichen Lebens und das ganze Geheimnis der Liebe in der Kirche sind sowohl verhaltene wie überoffenbarte Dinge: Dinge, die so sehr offenbart sind, dass die Heiligen im Himmel und die Engel an ihnen sich satt sehen und im Zusammenhang mit ihnen die Schau Gottes besitzen. Denn sie erblicken darin Lebendiges, das zu Gott gehört, und sie dürfen Gott darin betrachten und besitzen. Überoffenbart auch, weil es letzte Durchsichtigkeit und Klarheit des ewigen Lebens ist. Und überoffenbart, weil diese Dinge unsere Sinne übertreffen: wir werden sie schauen, wenn wir von allem, was uns hindert und unsere Sinne trübt, befreit sind, auf dass dann das Geheimnisvolle als ein Offenkundiges erscheine.
Das Verschleierte in der Kirche, das dem Himmel vorbehalten ist, aber auf Erden den Menschen wirksam zuströmt, bleibt unfasslich. Aber auch diese Unfasslichkeit hat eine Art Allgegenwärtigsein. Wir können in irgendeine Kirche eintreten und scharfen Auges uns einzuprägen versuchen, was es zu sehen gibt: das Bauwerk, seine Anordnung, die Stufen zum Altar, die Vorgänge an ihm, die Aussetzung des Allerheiligsten und die Bewegungen der Priester und das Kommen und Gehen im Chor und das Heranströmen der Gläubigen und ihr Verweilen und Versunkensein im Gebet, und wie sie fortgehen, bereichert durch die verlebten Augenblicke: alles, was wir so sehen, hat eine unsichtbare Fortsetzung, alles bedeutet Ansatz, das in ein Weiteres, Verborgenes aufgenommen wird: so wie die Glaubenden in den Raum und in die sichtbaren Vorgänge der Kirche, so die ganze sichtbare Kirche in ein Unsichtbares, das in all ihrem Sein und Tun vorausgesetzt, geglaubt, geahnt und doch nie erfasst wird. Alles bedeutet viel mehr, als was uns, auch im Glauben, bewusst werden kann. Diese größere Bedeutung, diese Umwertung aller kirchlichen Dinge hinter der Hülle des Sichtbaren ist Zeichen des Lebendigseins der Kirche dort, wo Gott allein ist, also tiefer als alles, was wir uns als die äußersten, eben gerade noch möglichen Möglichkeiten vorstellen können. Denn die Freuden, die der Herr ausgießt, stammen aus den Freuden, die er bei seiner Himmelfahrt erlebt. Es sind Freuden der Rückkehr zum Vater und für uns Freuden der Schau von Vater und Sohn und Geist. Das Geheimnis der Kirche ist ein solches der Liebe und ebensosehr der Freude; und wo es als Leiden erscheint und schwer lastet, ist es für das Diesseits verfügt, auf dass noch mehr wegfalle von dem, was uns hindert zu Gott. Uns, die Einzelnen. Und uns, die Gemeinschaft der Heiligen. Alle jene, für die das Geheimnis der Kirche lebt.
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