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Die Metaphysik Erich Przywaras
Das Vorwort zum ersten Bande der Metaphysik Erich Przywaras1 läßt den zwanzigjährigen Weg zu diesem Werke als einen fast beispiellos geradlinigen erscheinen. Zwischen dem ersten Studium der fundamentalontologischen Programmschrift von Thomas «Über Sein und Wesen» bis zu dieser Grundlegung der Metaphysik im Sein-Wesen-Problem steht freilich die Assimilation der ganzen Philosophiegeschichte, aber alle Fülle kristallisiert sich nur um den stets gleichbleibenden Kern. Zwar bringt dieser Band erst das Methodische, die Frage nach der formalen Struktur von Metaphysik überhaupt, noch nicht die inhaltliche Metaphysik des Bewußtseins («Metanoetik») des Seins («Metaontik») und der Welt (als deren Ineinander), diese verspricht der zweite Band. Aber vom formalen Problem aus wird notwendig doch schon das Ganze überschaubar und beurteilbar. Eine inhaltliche Darstellung der in diese 150 Seiten gepreßten Denkwelt – sie entsprechen vielleicht 1000 normaler philosophischer Epik – ist freilich unmöglich, wir müssen uns mit drei Fragen bescheiden: der nach dem Denktypus, der sich hier ausprägt, der Einflußsphäre und dem Grundgehalt des Werks.
I. Der Denktyp
Wenn es das innerste Geheimnis jeder Seele ist: eine neue einmalige Verflechtung von zwei Grundtendenzen: Macht und Liebe, Bewältigung und Hingabe, Beherrschung und Bescheidung, dann hat diese Spannung für den theoretischen Menschen die besondere Form eines Stehens zwischen den Polen allgemeinster theoretischer Beherrschung des Wißbaren in systematischer Totalität, und Hingabe an die unschließbare Vielfalt der empirisch-wißbaren Welt. Alle Denker neigen dem einen, rationalistisch-systematischen, oder dem andern, irrationalistisch-unsystematischen Pol zu. In seltenen Fällen mag die Denkleidenschaft gleich intensiv von beiden angezogen werden. Das bezeichnet aber eben den Denktyp, dem Przywara einzureihen wäre. Sein dynamisches Denken entsteht in der äußersten Spannung zwischen zwei Gegensätzen des Denkprozesses.
Inhaltlich besagt das ein Ineinander einerseits eines unbedingten Willens zur Durchleuchtung bis ins Mark, mit einer fast rationalistischen Abneigung gegen alle unsachliche, gerüstlose Erlebnisphilosophie, eines Denkens, das «durchdringt, bis es Seele und Geist, Gelenk und Mark voneinander scheidet», – anderseits eines nicht minder radikalen Wissens um die Unschließbarkeit jeder Denkbewegung, eines Antirationalismus bis ins Letzte, absoluten Mißtrauens gegen System-, wie Denk- und Seinprinzipien, aus denen irgend etwas deduziert oder systematisch ausgebaut werden könnte.
Formal besagt es das Ineinander einerseits eines extremen Willens zu Stil, zu Ordnung in der Darstellung, der sich gelegentlich als ein mehr virtuoses denn überzeugendes «Zum-Stimmen-Bringen» äußern kann, aber positiv zu einer staunenswerten Durchmathematisierung der philosophischen Sprache und Technik führte, die an Hegel gemahnt und jedes Buch, jeden Aufsatz zu einem durchsichtig komponierten Kosmos macht – anderseits eines ebenso extremen Willens zur Zerstörung aller sogenannten Stilreinheit des Denkens, aller Unmittelbarkeit zur Wahrheit, «alles glatten Errechnens» zugunsten eines «alles Menschliche relativierenden Theozentrismus2». Aber in dieser größten Nähe zu Hegels theozentrisch-dynamischem Denken unterscheidet es sich eben darin grundsätzlich von ihm, daß «alle Gegensatzlehre», die sich formal aus Przywaras Analogieprinzip ergibt, «so wenig letzte und subtilste menschliche Konstruktion (ist), daß sie vielmehr das entscheidende In-die-Knie-Brechen aller menschlichen Konstruktion wesenhaft besagt3». Damit hängt zusammen das unbekümmerte Hinweggehen über den traditionellen fachwissenschaftlichen Apparat, in den Philosophen sich gerne verschanzen, das Wissen also, daß eine äußerlich zur Schau getragene «Exaktheit», die in den Realwissenschaften ihren Platz hat, nicht identisch ist mit der für Metaphysik geforderten Methode. Darum treffen die Vorwürfe des «Intuitionismus» und «Konstruktivismus» doch nicht das Eigentümliche dieser Denkweise. Wenn das Sein des Seienden, der Grund des Seins der Gegenstand der Metaphysik ist, dann fordert dieses neue Objekt auch ein ganz eigen geartetes «Tiefensehen» durch die äußeren Erscheinungsweisen des Seienden hindurch, einen Vorgang, der der Akkomodation des Auges oder des Mikroskops nicht unvergleichbar ist. Dieses Transparentwerdenlassen verschiedener Problem-Tiefenschichten ist es nun eben, was die Denkweise Przywaras kennzeichnet. Stets kehren die Formeln wieder: eine Frage «wird durchsichtig» in eine tiefere, eine «Sicht eröffnet sich» auf, ein Problem «bricht durch» in ein tieferes. Die Einflüsse der Phänomenologie kamen so hier einer mitgebrachten Begabung entgegen. Um dieses «Sehen» aber nachvollziehbar zu machen, bedient sich Przywara in steigendem Maße einer Methode synthetischer «Konstruktion». Überwiegt scheinbar in seinen ersten Werken (Newman- und Scheler-Darstellungen) die «Analyse», so in den späteren scheinbar solche «Konstruktion» (im Kierkegaard- und Kantbuch, in den Typen der Analogia Entis). Aber tiefer gesehen ist es nur ein Fortschritt innerhalb derselben Technik: die Sichtbarmachung eines Denktypus oder einer Tiefenstruktur vollzieht, sich immer weniger aus den «philologischen» Texten, sondern wachsend aus dem in diesen Texten tiefer sich Anzeigenden, Momenten, die jeder philologischen Analyse unzugänglich bleiben. Solche Methode fordert freilich Vertrauen in die Ehrlichkeit des Sehens wie die Gewissenhaftigkeit des Studiums, aber sie bleibt doch nicht minder auf die Erfüllung solcher Forderungen nachprüfbar.
In diesem inhaltlich wie formal spannungshaften Denken offenbart sich eine grundlegende Polarität der Denkdimensionen überhaupt; es ist einerseits horizontales In-die-Breite-Denken, das nicht stillsteht, ehe die ganze Fülle der historischen Fläche aufgearbeitet ist, und eingeformt in die Einheit des Weltbilds. Thomas und Hegel sind die Ahnen dieser Seite. Wie bei letzterem die Struktur des Dialektischen die Mannigfaltigkeit der Geschichte meistern muß, so wird hier die zunächst scheinbar ganz ahistorische Analogie zum beherrschenden Ordnungsprinzip für alle philosophischen und geistesgeschichtlichen Erscheinungen. Es ist aber ebenso ein vertikales Durchbruchsdenken in die Tiefe, das sich mit einem Minimum an Problemboden begnügt und alles Entscheidende in der Tiefendimension aufdeckt. Augustinus ist hier der Urtyp, Heidegger heute der Verwandteste.
So resultiert eine Philosophie, die den archimedischen Punkt bezieht, welcher zugleich radikalste Formeinheit und radikalste Aufhebung aller Systemeinheit bedeutet, die Formel findet, jede Formel zu vernichten, indem sie den Riß im Kreatürlichen bis ins Letzte hinab aufzeigt und anerkennt. Vertikal und Horizontal, Augustin und Thomas binden sich so, daß die ganze Problembreite auf den ursprünglichsten Ansatz reduziert wird, dieser Ansatz dann aber in der reflexen Entfaltung der Breite sich als Struktur unverändert durchhält. Ja, diese Unverändertheit des Ansatzes in aller Durchführung, das radikal «Inchoative» des Ganzen ist die Gewähr dafür, daß es kreatürliche, nicht usurpiert-göttliche Metaphysik ist. Wo also Thomas einen naiv-offenen Systembau aufführt, als «Summe» alles, auf keinen letzten Nenner zu bringenden Wissens, da ist – dem Anspruch moderner «Systematik» gehorchend und ihn zugleich richtend – ein Systemprinzip gefunden, diese Unschließbarkeit auch reflex und architektonisch darzustellen. Und so ordnet sich schließlich die Seite der «Bewältigung» notwendig und restlos unter der Seite der «Bescheidung», die ordnenden Kräfte dieses Denkens treten ganz in den Dienst des Nichtzubewältigenden, die brillante Kunst der Klärung, Ordnung, Durchleuchtung wird Technik und Werkzeug, um gerade das Nichteinzufangende in seiner reinsten Sicht erscheinen zu lassen.
II. Die Einflußsphären
Diese «Brechung» schon im Ansatz verbietet alle reine Logik, als Unmittelbarkeit zum Logos (darum auch alle Prinzipienmetaphysik), sie meint aber auch nicht das gebrochene Erfassen des Logos im «dia» der Dia-lektik, dem Taumel zwischen hegelscher Erfassung des Göttlichen als Widerspruch zu sich selbst und barthscher Abscheidung vom Göttlichen als vom Widerspruch (zur Welt), sondern sie meint geklärtes, distanzhaltendes geschöpfliches «Hinlieben» zur Sophia («Philo-sophie»), Empordenken zum Logos, (ἀνὰ τὸν λόγον λογίζεσϑαι), in welchem Denken der Logos, obwohl immanente Regel des Ordnens und Schreitens («ano» als «gemäß», «der Reihe nach»), doch als solche Regel über allem Ordnen und Schreiten transzendent und unerreichbar bleibt («ana» als «oben», «empor»). Das als Prinzip heißt gegenüber Logik und Dialektik: Analogie.
Weil aber das «über» des reinen Logos vor seinem «in (der Welt)» ist, – wenngleich dieses erhabene «über» (Gottes) anzeigt, daß das Analogische (die Welt) von ihm her zu ihm hin ist, – weil darum «Analogie» wesentlich Philosophie von Gott her und Erscheinung der Unbegreiflichkeit Gottes besagt, so ist die oben geschilderte methodische Spannung nur der Ausdruck der Verfassung des Objekts der Metaphysik selber: Analogie ist grundlegend Analogie im Sein: analogia entis. Das «ana» des weltlichen Seins, sowohl seine innere «Reihung» (immanent-zeitliche Dynamik) wie sein transzendierendes «empor» (in dem es sich zugleich als von Gott zu Gott offenbart) zeigen es als ein selbst «analoges» an: nicht ist es «gleichberechtigt» Sein neben dem göttlichen; nur Gott ist Das Sein, – Welt neben ihn gestellt «wie nichts», und nur auf den Hintergrund des Nichts gehalten «nicht-Nichts». Als «Sein» offenbart sie Gott in sich, als «Nichts» offenbart sie ihn tiefer als den Unbegreiflichen über sich. Ja, erst wenn Geschöpf in seinem Innersten, Eigensten steht, in dem, was es «aus sich» ist, in seinem Nichts, steht es vor seiner ihm geziemenden «unbedingten Wahrheit» wie vor seinem sachlich geforderten Gegenstand4. «Indem das Geschöpf durch alle peripheren Begreiflichkeiten durchdringt in das unbegreifliche Gegensatzgeheimnis seines Wesens (zwischen Sein und Nichts), schlägt es sein wahres Auge auf zum wahren Gott5.»
Hierin zeigt sich, wie für Przywara Metaphysik, nicht Erkenntnistheorie die «prima philosophia» ist und wie sehr ferner «im Ansatzpunkt der gesamten Philosophie bereits ein bestimmtes religiöses Verhältnis mit enthalten ist6.» «Es bleibt im Grunde nur die Wahl zwischen einer aller Wirklichkeit widersprechenden Gleichsetzung des Veränderlichen und Endlichen mit … (dem) unveränderlichen Unendlichen, oder die Anerkenntnis des Tatbestandes, den die philosophia perennis mit der analogia entis bezeichnet hat7.» Das heißt aber: Metaphysik ist schon in der Wurzel nicht rein theoretisch-uninteressiert, sondern hat immer schon ethischen «Entscheidungscharakter», ohne dadurch alogisch zu werden.
Die Einflußsphären sind damit gegeben: der Quellpunkt dieser auf eine Bindung von Philosophie und Theologie abzielenden Metaphysik (weil im «über» Gottes schon das Formalproblem der Theologie liegt), die je in der Breite der Transzendentalien (wahr-gut-schön) genommen ist (Metaphysik als Quell- und Zielpunkt von Logik-Ethik-Ästhetik), und die in sich zumal das religiöse Einstellungsproblem schließt; der lebendige Ursprung solcher Metaphysik ist allein Augustinus. Er muß stets als Urimpuls in Przywaras Denken festgehalten werden. Die angekündigte synthetische Übersetzung wird das von neuem bestätigen. Freilich was im Patristischen noch naiv-ungeklärt in großen Visionen zusammenliegt (vor allem Natur und Übernatur) klärt sich unter dem Einfluß von Thomas und der nachtridentinischen Scholastik methodisch auseinander, das subjektivreligiöse Problem erhält neue Einflüsse von Newman und (schwächer) von Scheler her. Aber Newman selbst wird von Przywara wesentlich als wiederbelebte Patristik gedeutet. Das methodische Problem klärt sich an Husserl, die endgültigen Schattierungen in der Fassung der analogia entis aber entstammen der lebendigen Auseinandersetzung mit Karl Barth und Heidegger und, durch beide hindurch, mit Kierkegaard, der aber, und mit ihm die ganze existentiale Dialektik, als eine «Vorläufigkeit zu Johannes vom Kreuz», zur mystischen Karmelnacht gedeutet wird. So ist es klar, daß Kant und die ganze erkenntnistheoretische Welt um ihn dieser Philosophie am fernsten liegen, wie denn auch das Kantbuch wohl das unlebendigste und am wenigsten beachtete Werk Przywaras blieb.
Aber da fehlt noch ein Zug: Augustinisch ist nicht nur die Problematik, ein Tieferes läßt beide auch in den subjektiven Voraussetzungen verwandt erscheinen: die Einheit haarscharfer Dialektik und unmittelbarer religiöser Lebendigkeit. Daß zugleich mit «Analogia Entis» der Liederband «Karmel» (1932) erschien, und neulich der wohl ästhetisch noch reinere «Homo»8, darf nicht übersehen werden: die Grundlagen beider sind dieselben, die mathematische Kurzsprache der «Analogia» läßt sich mühelos in die liedhaft-gelöste der Gedichte übersetzen. Daß Beten und Denken sich hier durchdringen, wird für die philosophische Problematik selbst von Bedeutung: sub specie aeterni – nicht als Weltfremde, sondern als konkreteste Nähe der Allwirklichkeit – kann sich die Bedeutungsschwere der philosophischen Fragen oft merklich verschieben. (Schleppt nicht die Neuscholastik noch immer zuviel von der Subtilitätsproblematik ihrer Verfallszeit mit sich und hindert sie so nicht sich selbst, die wahren ewigen Fragen zugleich mit betender Ehrfurcht und Denkleidenschaft zu stellen, wie die Mitwelt, ihre wahrsten Schätze zu sehen?) Das Schönste, was uns «Analogia Entis» schenkt, ist darum wohl der neue Ansatz, ein Anfang, jenseits aller Schulstreite, der praktisch nur dadurch möglich wurde, daß die am lebendigsten wachsende Wurzelspitze der Gegenwart (und nur sie interessiert Przywara an seiner Zeit) in den fruchtbarsten Boden philosophischer und religiöser Tradition eingetaucht wurde. Diese augustinische betende Ehrfurcht scheint so der Grund für jene von Dr. Alois Mager O. S. B. an Przywara beobachtete Eigentümlichkeit zu sein: «alle Fragen, mit denen er sich befaßt, neu und interessant erscheinen zu lassen, so alt und so oft beantwortet sie auch sein mögen». Das kann nur, wem nicht nur die Tiefe des Seins, sondern auch die des Denkens «heiliger Boden» ist. Das verleiht diesem Denken, ähnlich wie dem Augustins, jenen Schimmer, den man aus ästhetischen Kompositionswerken deuten wollte, der aber letztlich von der Leidenschaft des «realize» von selber ausstrahlt9.
III. Grundgehalt
Es ist kein Zufall, daß die drei lebendigsten Unternehmen, Moderne und Scholastik zu binden, den Weg des «Dynamismus» gingen. Zuerst Maurice Blondels «L’Action» (1893), dann Maréchals «Le Point de Départ de la Métaphysique» (1922f.), endlich Przywaras Analogielehre. Blondel ist ein Ringen gegen den Phänomenalismus und Positivismus: Ausweg wird das Faktum des dynamischen Wollens, das die Phänomene erst möglich macht, indem es sie in seinen Dynamismus einbettet. Dieser grenzt aber letztlich ans Absolute, als an das Wahlobjekt katexochen: Wahl des Seins (Gottes) erfüllt die Leere des Wollens, der nur in dieser Selbstaufgabe sich vollendet, erfüllt zugleich alle Phänomene zur seienden Welt. Nichtwahl verschließt ihn in selbstherrliche, letztlich satanische Macht, als Ohnmacht. Blondel streift mit diesem durch Fichte gesehenen Aktualismus aristotelischer Prägung den Modernismus: Gott als Erfüllung der exigences personelles, Theologie wird ver-immanentiert, fast deduziert. So kann das dialektisch und mystisch sprühende Buch keine wahre Lösung bringen. Maréchal unterbaut daher den Aktualismus Blondels mit thomistischer Metaphysik. Aber weil sein Kampf sich einseitig gegen Kants Formalismus richtet, den er wiederum nur (wie mit ihm etwa Kroner und Herrigel) durch das dynamisch-finale Moment in der kategorialen Synthesis überwinden zu können meint, gelangt auch er in eine gewisse Nähe zum Ontologismus: Über dem kategorialen Verstand thront als einzige, höchste Vernunftidee das «Sein» (als überbegrifflich-existentiale Fülle), in ihr allein vermag sich die «Einheit der Apperzeption» zu vollziehen. Mag Maréchal auch eine Intuition des (überkategorialen, analogen) Seins abstreiten, seine Dynamik des Denkens und Wollens geht geradewegs in Gott hinein, ja vollzieht sich je schon in Gott, sofern der Verstandesdynamismus sich je in dieser überbegrifflichen Seinsform bewegt. Ein platonisierender Ontologismus ist hier doch letzte Konsequenz, und wiederum eine Vernatürlichung der Übernatur (sofern die visio beatifica Erfüllung des Grundstrebens der Natur ist).
Przywara, von beiden völlig unabhängig, hat ihnen gegenüber von vornherein leichteren Stand. Wo Blondel aus einem flachen Phänomenalismus, Maréchal aus einem formalistischen Kant erst wieder zum Numenalen und zur Metaphysik durchstoßen müssen, findet er dank dem prinzipiellen Objektivismus der Phänomenologie, dem Hegelinteresse und der Existentialphilosophie und -theologie im Nachkriegsdeutschland bereits metaphysischen Boden vor. Durch Husserls «Wesen» wie durch Heidegger-Barths «Aporetik» schaut Plato-Augustinus unmittelbarer, durch Hegels dynamisches Weltsystem Aristoteles-Thomas.
Husserl bietet die wertvollsten methodischen Ansätze zu wahrer Metaphysik in seiner Trennung von Wesens- und Tatsachenwissenschaften. In einer entschieden realistischen Wendung, wie sie etwa seine Schülerinnen Hedwig Conrad-Martius und Edith Stein vollzogen, ergibt sich daraus eine methodisch klare Scheidung von Metaphysik und Realwissenschaften10, die zur aristotelischen Wissenschaft des Seins als Sein (ὂν ᾗ ὄν) und des konkret ausgegliederten Seienden in seinem erscheinenden Sichgeben führt. Klärte Husserl das Methodische, so erhebt nun Heidegger die metaphysische Grundfrage mit einem lange nicht gehörten Pathos: τι τὸ ὄν, was ist das Sein? Und seine Antwort: es ist «Zeit», als konstitutives «im Nichts», fundamental mit sich nicht identisches, schlägt unerwartet eine Brücke zum Herzproblem der Scholastik und Schlüsselproblem ihrer neueren Schulen, zur «distinctio realis», als der Nichtidentität von Wesen und Dasein im endlichen Sein. Diese Nichtidentität wird zum ersten unerschütterlichen Ausgangspunkt Przywaras. Jedes Endliche ist in seinem Sein «gespannt»: sein Wesen hat eine Notwendigkeit, die sein Dasein nicht hat, Wesen und Existenz sind in ihm nur «faktisch», nicht «wesenhaft» eins. Mag nun der Neuthomismus mehr das «nichtwesenhaft» betonen und daraus seine Theorie der konstitutiven «Seinsteile» (ens quo) ableiten, mag der Suarezianismus mehr das «faktisch» betonen und darauf seine Theorie der tatsächlichen, nicht notwendigen Identität (distinctio rationis cum fundamento in re) bauen, die Tatsache der realen Nicht-Identität liegt vor beiden Schulen. Diese allein ist der Ausgangspunkt für Przywara11. Die beiden Fassungen sind für ihn letztlich nur Vergröberungen des tiefsten Seinsgeheimnisses ins «breite Schulformat»12, während es hier doch geht um eine «gedanklich eigentlich nicht mehr vollziehbare Schwebe zwischen einem Sein, das ‹so› und ‹da› ist, und dessen ‹so› doch eigentlich immer nur ‹zu erreichen› ist, so daß es als reines ‹so› eigentlich nie ‹da› ist13.» Daraus ergibt sich seine Grundformel: Sosein in-über Dasein. Das ist aber die Formel eines wesentlich dynamischen, zuinnerst werdenden, auf-sich-zu und über-sich-hinaus gehenden Seins. Es ist also, im Gegensatz zum psychologischen Dynamismus Blondels und Maréchals, im Gegensatz etwa auch zum vitalen der Gegensatzlehre Guardinis ein fundamental-ontologischer.
Und das berechtigt nun Przywara in einer zugleich historischen und systematischen Grundlegung diesen Dynamismus des Weltseins aus der aristotelischen Grundlegung der Metaphysik im Widerspruchsatz sich entwickeln zu lassen. Wenn Aristoteles das Sein wie das Denken in einer (selbst historisch-systematischen) Ad-absurdum-Führung reiner Identität (Parmenides) und reiner Nichtidentität (Heraklit) als eine schwebende Mitte zwischen beiden Polen festlegt, so ist hier der Widerspruchsatz Ausdruck dieses wesenhaft dynamischen Seins und Denkens. Er ist in seiner negativen Aussage (etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein, nicht zugleich wahr und nicht wahr sein) die Formel für ein «Minimum an Boden» sowohl für das Sein wie für das Denken. Diese Werdehaftigkeit des Seins drückt sich bei Aristoteles ontologisch als Dynamismus von Möglichkeit (dynamis, potentia) zu Wirklichkeit (energeia, actus) aus14, aber so, daß nicht eine eindeutige «Flußrichtung» entsteht (als ob Sein-werdende Selbstverwirklichung wäre), sondern so, daß das eine werdende Sein nach rückwärts zu seinem Ursprung hin gesehen Verwirklichung von «reiner» aus sich ohnmächtiger Möglichkeit, nach vorwärts zielhaft aber als «geladene» Möglichkeit (Entelechie) erscheint. Diese unaufhebbare Zweideutigkeit von Möglichkeit (als Kraft und Ohnmacht) ist nur ein neuer Ausdruck für das in der Tatsache der Realdistinktion sich aussprechende Geheimnis des geschöpflichen Seins. Es ist als Werden zugleich kräftig und nichtig – beides untrennbar. Nun wird Przywaras doppelte Kampffront erst ganz sichtbar: sie steht zuerst gegen eine Dynamik, die das «nichtig» leugnet: Hegels Dialektik, in der Gott selbst werdend, der Widerspruchsatz als Dialektik zur Form des göttlichen Seins (Identität) wird. Sie steht aber ebenso gegen eine Dynamik, die das «kräftig» leugnet: Heideggers und Barths Dialektik, wo das Geschöpf reiner, ohnmächtiger Widerspruch zum Sein (Barth), reine Geburt des Nichts, der Zeit (Heidegger) wird. Zwischen diesen zwei Dialektiken eines Gottwerdens und Nichtswerdens steht das wahre, im Gegebenen, wenn auch Rätselhaften wurzelnde Werden des Geschöpfs, das (zum Ursprung hin) zugleich aus dem Nichts wie aus Gott, das (zum Ziel vorwärts) zugleich in das Nichts wie zu Gott wird. So klärt sich der Sinn von analogia noch mehr: das «ana» als «der Reihe nach», der ewige Vorübergang des Seins vom Nichts ins Nichts ist untrennbar zugleich «ano» als «gerichtet», «empor» gemäß einem «oben», ein sinnvolles Gehen aus Gott zu Gott. So bedarf es für Przywara neben dem einen «Prinzip» des Widerspruchs, das auch selbst kein «Satz», sondern nur die Formel der Seinssituation selber ist, keines «Prinzips» vom zureichenden Grund mehr, da doch Sein in seinem primärsten Sichgeben schon als dynamisch gerichtet, zielhaft und so sinnhaft erscheint. In der Transzendenz des Weltseins enthüllt sich Gott als Ursprung und Ziel über aller Welt. Der Vollsinn der Analogie entschleiert sich hier: durch das ohnmächtig-mächtige Weltwerden blickt ein unfaßbares all-mächtiges Sein (als Wesensidentität von Wesen und Sein). Nur Gott ist das Sein. Das Geschöpf am Rande des Nichts ist vor ihm nur in analogem Sinn als Sein zu bezeichnen. Und wenn sein Dynamismus von Möglichkeit zu Wirklichkeit, von Nichts zu Sein es in ihm selbst zu analogem Sein macht, so ist diese innergeschöpfliche Analogie das direkte Sinnbild seines Verhältnisses zu Gott; es verhält sich zu ihm wie das Nichts zum Sein. «Das innergeschöpfliche ‹ist› … ist so sehr innerlich (im Wesen des ‹Werdens›) ein ‹ist› im ‹nicht› … daß es zwischen-gott-geschöpf-lich sich als ‹Nichts› zum ‹Schöpfer aus dem Nichts› verhält15».
Aber Aristoteles vollzieht seine dynamische Grundlegung zwischen Identität und Widerspruch nicht nur für das Sein, sondern auch für das Denken. Und das scholastische Axiom «Wirkweise folgt aus Seinsweise» läßt ein solches dynamisch-analoges Sein auch entsprechend analog an der Wahrheit teilhaben. Gegenüber Blondel und Maréchal ist hier erst Przywara völlig konsequent. Bei den Franzosen wirkt der Grundirrtum Bergsons nach, werdendes Denken sei auch Denken (Intuition) des Werdens. Dieser Irrtum, der mit Bergsons Pantheismus und seinem Versuch zusammenhängt, den Begriff des Nichts, der Ohnmacht und Kreatürlichkeit aus dem Werdensbegriff auszuschalten, hüllt die wahre Lage kreatürlichen Denkens in Dunkel: seine Dynamik ist nicht, wie Blondel und Maréchal glauben machen, einsinnige Finalität, sondern eine ewige Bewegung zwischen zwei undurchführbaren Extremen und erst so eine ohnmächtige Mächtigkeit. Wie sich Sein in der ursprünglichsten Werdenstatsache als analoges erweist, so Denken in der ursprünglichsten Bewußtseinstatsache: der unauflöslichen Spannung von Denken und Denkinhalt, (noesis und noema), von Bewußtsein und Sein. Zwischen ruhendem Besitz des Seins (Identität von Denken und Sein) und unerreichbarer Jenseitigkeit des Seins (Widerspruch, als Agnostizismus) liegt die Dynamik des Werdedenkens: Wahrheit in-über Akt: ἀνά τὸν λόγον λογίζεσϑαι.
Jede kreatürliche Metaphysik wird darum diese Analogiestruktur an der Stirne tragen. So vermag Przywara seiner grundlegenden Ableitung der Seinsanalogie ein formales Gerüst vorzulagern, das die reine Strukturform jeder kreatürlichen Metaphysik darstellt. Es baut sich im wesentlichen aus vier formalen Spannungen (als Zueinander von Gegensätzen) auf: 1. Bewußtseinsmetaphysik und Seinsmetaphysik, 2. transzendentale Metaphysik (aus deren Einheit Logik-Ethik-Ästhetik fließen) und metaphysischer Transzendentalismus (Logik-Ethik-Ästhetik als auf eine Metaphysik konvergierend), 3. apriorische und aposteriorische Metaphysik (beides sowohl für den Gegenstand [das Sein] wie den Akt), 4. philosophische und theologische Metaphysik. Aus der Gesamtheit dieser Spannungen ergibt sich das Antlitz, das jede menschliche Metaphysik tragen muß.
Aber die historische Konkretion des Analogie-Denkens heißt ebenso notwendig (aus dem Wesen der Denkdynamik) ein schwankendes, bewegliches Umkreisen dieses starren Gerüstes. Darum stellt Przywara an den Schluß die Charakteristik von vier überragenden Denkern der Analogie, die zugleich zu Typen ihrer Auffaßbarkeit werden: Plato, Aristoteles, Augustin, Thomas. In diesem wohl subtilsten Kapitel des Buches vollendet sich seine Kunst der phänomenologischen «Konstruktion». Man wird an die Technik der großen chinesischen Tusche-Meister gemahnt, deren Fertigkeit sich im fliegenden Entwerfen haarscharf treffender, das Wesen aphoristisch und einmalig-neu offenbarender Konturen erwies. Aber was «Impressionismus» scheint, war doch hier wie dort die Frucht geduldigsten Übens, Einlebens und Liebens – und so ebensosehr «Expressionismus».
Diese fragmentarischen Andeutungen über Przywaras Metaphysik sind nicht mehr als ein erster Hinweis auf diese Philosophie und können eine eigene, eingehende Auseinandersetzung mit ihr, zumal mit «Analogia Entis», in keiner Weise ersetzen. Aus solcher Diskussion könnte sich nur Fruchtbares und Lebendiges ergeben, weil es das Werk eines Lebendigen für Lebendige ist.
- Analogia Entis. Kösel & Pustet, München 1932.↩
- Analogia Entis. ebd. S. IV.↩
- Ringen der Gegenwart (Gesammelte Aufsätze) I, S. 373.↩
- Kant Heute, 1930, S. 99f.↩
- Ringen der Gegenwart, II, S. 928.↩
- Religionsphilosophie kath. Theologie, 1926, S. 26.↩
- Ringen der Gegenwart, I, S. 394.↩
- Kösel, München 1933. Der Titel ist in ähnlicher Weise doppelsinnig wie Augustins Confessiones, die «Bekenntnis» (dieses Menschen) und «Lobpreis» (des Menschen überhaupt) besagen. So ist «Homo» zugleich biographisch-konkret und allgemein-typisch.↩
- Der vielangefochtene Stil Przywaras rechtfertigt sich von hier aus: Seine Methode, zitierend das Dargestellte selber reden und erscheinen zu lassen, es in einen möglichst knappen Rahmen zu stellen, in dem es sich selber richtet oder empfiehlt, zeigt einen durchgehenden Dienstwillen. Es werden nur Wege gebahnt, Hindernisse weggeräumt, fördernde Winke gegeben. Er selbst kenn zeichnet die ideale Methode des Philosophierens: «Ein schaffendes Denken, das dem Strom des geschichtlich durchdauernden Denkens (einer lebenshaften philosophia perennis) nicht starres Gestein (‹unfehlbarer neuer Systeme›) in die Strömung sperrt (natürlich vergeblich), sondern das zuletzt nur im Dienste dieser steht, indem es (im Ideal-Fall) lautlos Mit-vollziehen der Strömung ist und hierin, über sich selbst hinaus». Das aber zugleich als ein «Eintreten in die Strömung möglichst von ihren Quellen her», (Plato, Aristoteles, die Scholastik), was aber wiederum nur möglich ist «in einem Leben der Quellen in ihrer Strömung jetzt». (Analogia Entis, S. 28-29.)↩
- Wie die phänomenologische Scheidung von «Ontologie» und «Metaphysik» keine endgültige sein kann, vgl. Conrad-Martius: Bemerkungen über Metaphysik und ihre methodische Stelle, Philos. Hefte 1932, S. 118f., und dazu «Analogia entis», S. 15f.↩
- Bekanntlich ist die historische Diskussion über den Sinn der distinctio realis bei Thomas noch in vollem Gange und keineswegs geklärt.↩
- Ringen der Gegenwart, I, S. 265.↩
- Die Problematik der Neuscholastik, Kantstudien 1928, S. 81.↩
- Nur daß bei Aristoteles die Begriffe sowohl realwissenschaftlich wie metaphysisch verwendet werden, während sie hier, nach dem früher Gesagten, als rein metaphysische gebraucht sind.↩
- Analogia Entis, S. 99.↩

Hans Urs von Balthasar
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Die Metaphysik Erich Przywaras
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Allemand
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AllemandMaison d’édition :
Saint John PublicationsAnnée :
2025Genre :
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