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Patristik, Scholastik und wir
1. Die Fragestellung
Wir leben in einem Zeitalter stürzender Götter- und Götzenbilder. Die geistigen und kulturellen Traditionen des abendländischen Raumes sind fragwürdig geworden, ja, mehr noch, sie werden rasch und verhältnismäßig schmerzlos liquidiert. Wie der Baum im Herbst ohne Schmerz und Bedauern seine Blätter fallen läßt, um sich innerlich wieder zu sammeln, seine Kräfte zu erneuern in winterlicher Ruhe, so entlaubt sich der Baum der Kultur. Freilich liegen im Spätherbst die Blätter dicht unter unseren Füßen – und die Bücher dicht in den Buchhandlungen –‚ aber wir täuschen uns keinen Augenblick darüber, daß dieses bunte, gelbe, rote Gewimmel höchstens noch vom Winde, nicht mehr vom Leben selbst beseelt wird. Eine kleine Trauer mag da wohl erlaubt sein, so wie der Herbst eben die Zeit der elegischen Lyrik ist, aber wer wollte sich deswegen in ein eschatologisches Pathos hüllen! Wir vertrauen den Kräften der Natur, ihrer weisen Ökonomie und den Gesetzen ihrer Erneuerung.
Unter dem fallenden Laube befindet sich manches christliche Blatt. Das Christentum hat im Verlauf seiner zweitausendjährigen Geschichte sich mannigfachen Ausdruck in den Formen abendländischen Geisteslebens geschaffen, ja es hat an der Hervorbringung und Entwicklung dieser Formen den bedeutendsten Anteil gehabt. In einem labilen, stets wechselnden Verhältnis hat es diese kostbaren Kunstwerke des Geistes zu seinen Wohnstätten, Ausdrucksformen, Kleidern, ja oft beinahe zu seinem Leib gemacht. So ist es fast selbstverständlich, daß heute, wo diese Wohnungen baufällig zu werden scheinen, ja wo der weltliche «Leib» der Kirche wegzusiechen scheint, das Christentum in gleicher Weise wie die weltliche Kultur selbst vor die Frage nach seinem lebendigen Wesen und Kern gestellt wird, der als schöpferischer Grund jener Formen mit ihnen eben nicht identisch sein kann. Und es ist weiterhin leicht verständlich und naheliegend, daß bei dieser Selbstbesinnung der Blick zeitlich nach rückwärts schweift, daß er Epoche um Epoche stromaufwärts verfolgt, um zu jenem lebendigen Ursprung zurückzufinden, der hinter allen kulturellen Ausdrucksformen liegt. Es kann dabei nicht ausbleiben, daß die Geschichte dieser Formen, unter dem Gesichtspunkt der heutigen Fragwürdigkeit betrachtet, als ein allmähliches Abrücken vom Eigentlichen erscheint, als ein immer subtilerer Ausbau zwar, ein fortschreitendes Sichverästeln, aber zugleich als ein langsames Vermenschlichen des Göttlichen, ein Säkularisieren des Heiligen und damit als ein Vorgang, der den Todeskeim gleichsam schon in sich trägt. Die Verleiblichung der Kirche in den Räumen der weltlichen Kultur erscheint fast als ein progressiver Abfall von ihrem lebendigen Wesen. Wenn wir etwa die Periode der sogenannten Renaissance- und Barockscholastik betrachten, so mag sie uns fast wie ein epigonenhaftes Verfallsprodukt der mittelalterlichen Hochscholastik erscheinen, und dem Denken des 19. und 20. Jahrhunderts werden wir, in Vogel- und nicht in Froschperspektive gesehen, gewiß noch weniger schöpferische Kraft zugestehen. Aber ist nicht die Scholastik selbst schon ein Irrweg gewesen, mit ihrer «Rationalisierung» des Dogmas, ihren dialektischen Spitzfindigkeiten und seiner allzu naiven Verwendung weltlicher Denkformen? Viele sagen es heute rund heraus, viel mehr noch denken es still oder halblaut. Wir sind müde geworden dieses «reinen Denkens», wir haben auch keine Zeit mehr dazu. Könnte man den vielgepriesenen «Dom der philosophia perennis» noch mit ein paar Blicken umfassen, wie seine Brüder, die steinernen Dome, denen wir wohl auf einer Autotour eine freundliche halbe Stunde schenken! Aber der fordert Jahre von uns – wer kann sich das heute leisten? Ganz abgesehen von dem Latein, das uns immer peinvoller wird. Und so lassen wir uns gerne überzeugen, daß die Scholastik nicht nur unmodern und unpraktisch ist, sondern mehr oder weniger Schuld an der heutigen Situation trägt. Kurzum, wir machen einen weiteren Schritt zurück und werden «Patristiker».
Die weite Welt der Kirchenväter, die sich uns damit eröffnet, und die nach rückwärts unmittelbar in die Periode des Urchristentums, der Apostel und des Evangeliums selbst ausmündet, gibt sich uns von vornherein als die Region der Ursprünge, der unverfälschten Quellen, der Urtradition, die noch durch keine Rationalisierung verdeckt oder gar verbogen ist. Und weiterhin: diese patristische Periode besitzt eine eigentümliche Gesetzlichkeit, die sie gerade für uns besonders zeitnah und fruchtbar erscheinen läßt: sie ist, zumal in ihrem griechischen Zweige (dem bei weitem wichtigeren und fruchtbareren, dem ja der lateinische Hieronymus, Ambrosius, Augustin so gut wie alles verdankt), von einer entschlossenen Welttranszendenz, welche den Kontakt mit der Sphäre des Staatlichen so völlig vermied, als es anging. Es war im Grunde, von den unumgänglichen Kämpfen um dogmatische Formeln gegen Häretiker abgesehen, eine mystisch-liturgische Gemeinde, ein «pneumatisches» Christentum, in welchem jene ursprünglichen christlichen Erfahrungen und. Wirklichkeiten noch «existentiell» gelebt wurden, und auch der sichtbare hierarchische Aufbau der römischen Kirche mit seiner immer wachsenden Zentralisation, seinem Beamtenapparat und seiner Unpersönlichkeit erst in den Anfängen stand.
So wenigstens glauben wir heute die Väterzeit sehen zu müssen, und eine fast romantische Sehnsucht zieht Theologen wie Laien in dieses verlorene Paradies zurück. Zwar gleicht die Patristik nicht selten auch darin einem verlorenen Paradies, daß die wenigsten es mit eigenen Augen zu sehen bekommen: das geordnete Schlachtheer der Migne Bände bietet einen gar zu schreckhaften Anblick. Man kennt die Väter vom Hörensagen, von Zusammenfassungen oder kurzen Übersetzungen her. Freilich haben wir dafür gleichsam einen Ersatz in jenen Formen des Christentums, welche uns wie durch ein Wunder der Zeitlosigkeit den Geist der Patristik mehr oder weniger unverändert bis heute hindurchgerettet haben: die verschiedenen Gestalten des ostkirchlichen Christentums. Ihnen wendet sich darum heute ein ganz hervorragendes Interesse zu, denn hier sind uns Möglichkeiten des urchristlichen Denkens und Feierns, der urchristlichen Kunst überliefert, die – wie der Mönch von Heisterbach – gleichsam die Jahrhunderte in einem ekstatischen Schlummer übersprungen haben und die uns demnach von der ursprünglichen, transzendenten Reinheit des Christentums berichten können. Griechisch-byzantinisch-russische Liturgie (gegen die volksfremde Liturgie des Westens und deren stillose Surrogate die Volksandachten aller Arten), griechisch-patristische «Gnosis», zum Teil wiederauflebend in der neurussischen Gnosis (gegen die säkularisierte «Ratio» des scholastischen Abendlandes), östliche liturgisch-existentielle Mystik (gegen die «Überbetonung» der hierarchischen Beamtenkirche einerseits, gegen eine human-psychologische Mystik wie die spanische anderseits): das sind einige der Anliegen des gegenwärtigen deutschen Katholizismus, wie sie aus der Rückbesinnung der Gegenwart auf die lebendigen Ursprünge sich ergeben haben.
2. Die Methode
Wir haben vereinfacht. Denn es ist klar, daß kein Katholik, der etwas von der Verheißung des Geistesbeistandes durch alle Zeiten und Epochen hindurch weiß, die Geschichte der römisch-katholischen Kirche als die einer progressiven Verirrung auffassen wird, aus der wir erst heute wieder zurückfänden. Er wird seine Rückbesinnung keinen Augenblick in dem Geiste verstehen wollen, in dem Luther sie vollzog. Nicht einmal in dem modernistischen Sinn, als ob die progressiven weltlichen Formen der Kirche, angefangen von der römischen Hierarchie über die Scholastik bis zum Vaticanum, natürliche, wenn auch anerkennenswerte Stufen einer rein-weltlichen Weiterentwicklung der ursprünglichen Offenbarung bedeuteten. Daß in der Kirchengeschichte selbst eine übernatürliche Fügung und Führung liegt, das zu leugnen, denken wir nicht. Aber – kann nicht gerade auch unsere Rückbesinnung auf die Urzeiten, selbst die destruktive Tendenz, die darin liegen mag, ihren Sinn und Platz in dieser Führung durch den Geist besitzen? Ist das Katholische nicht stete Rückschau nach der Tradition? Entsteht alles Echte und Neue nicht als ein Wiederanknüpfen über eine Zeit des Vergessens hinweg? Und wird uns dieses Tun nicht heute geradezu aufgedrängt durch die Zeichen der Zeit? Vielleicht. Aber, so lautet die Gegenfrage: Ist die konkrete Form dieser Rückkehr wirklich ein Deuten der Vergangenheit aus der höchsten Kraft der Gegenwart (wie Nietzsche es forderte), ist sie geboten und diktiert aus der Einsicht in das Gebot der Stunde und in das Gesetz der Gegenwart, oder besitzt sie vielleicht Züge, die einer Art von «Flucht aus der Zeit» zum Verwechseln ähnlich sehen? Es ist zum Beispiel seltsam, zu verfolgen, wie zu Anfang der bolschewistischen Revolution alles sich darüber einig war, daß der tiefste Grund ihrer Möglichkeit in der Weltfremdheit, in der gnostisch-pneumatischen Isoliertheit der Ostkirche gelegen sei, die in den letzten Zeiten sich krampfhaft die Augen vor den harten Realitäten der Welt verschloß. Warum hört man heute nichts mehr von dieser Einsicht? Wir erwähnten schon manche Gründe für unsere Ablehnung der Scholastik: sie ist uns zu weitläufig, zu anstrengend; sie übersteigt unsere geistigen Möglichkeiten. Unser Zurückgehen ist also nicht überall, was es doch sein müßte, ein Überwinden aus Stärke, sondern ein teilweises Nicht-mehr-gewachsen-sein. Und schließlich: muß nicht alles Lebendige wachsen und sich wandeln? Auch der irdische Leib der Kirche? Wer würde einen Knaben, der seinem Schulfreund vor dreißig Jahren zum Verwechseln ähnlich sieht, als eben diesen Freund anreden? Und selbst wenn dieser Vergleich mit dem organischen Wachstum wegen des übernatürlichen Charakters der Kirche nicht völlig treffend erschiene: woher wissen wir, daß die erste Epoche der Kirchengeschichte das Ideal des Christlichen am reinsten verkörpert? Es ist vielmehr a priori nicht festzustellen, ob dieses Ideal in den ersten oder in den mittleren oder in den letzten Zeiten am hellsten und unverfälschtesten erstrahlte.
Um einigermaßen sachlich über den Sinn der drei großen geistigen Perioden der Kirche: Patristik, Scholastik und Moderne zu handeln, scheint uns nur ein Weg gangbar: es gilt durch alle äußerlichen und nebensächlichen Eigenschaften jeder Epoche zu ihrem innersten Strukturgesetz durchzustoßen und dieses am Strukturgesetz des Christlichen, wie es uns im Evangelium entgegentritt, zu messen. Kein Zweifel freilich, daß dieses letzte nicht wie ein abstraktes Allgemeingesetz über der Geschichte und ihren Wandlungen schwebt, sondern sich in der Ebene der Geschichte in immer neuen Formen ausprägt, ohne daß man eine dieser Formen als die absolute ansprechen könnte. Dieser analoge Charakter der Vollendung ist nun einmal mit dem Gesetz von Raum und Zeit gegeben, welches das Anderssein, die Nichtidentität zur Basis irdischer Vollendung macht. Wie irreduzierbar zum Beispiel sind die Temperamente, die Altersstufen, die Geschlechter, Sippen, Völker, ohne daß doch eines davon von der Möglichkeit seiner Vollendung ausgeschlossen wäre. Und dennoch, so sehr dies auch für die Perioden der Kirchengeschichte gelten mag, so sehr also die Gesamtidee des Christlichen nur aus der Gesamtheit seiner möglichen Verwirklichungen ablesbar wird, ebensosehr gibt es doch in diesen Verwirklichungen selbst eine Sinn- und Rangordnung. Dies gilt schon darum, weil alle Geschichte ein Geschehen ist, eine Tendenz besitzt. Wir müssen also den Sinn der großen Epochen sowohl isoliert als in ihrem Zusammenhang zu verstehen versuchen. Im ersten Aspekt werden wir das Einmalige und damit auch Bleibende ihres Sinnes und ihrer Vorbildlichkeit entdecken, im zweiten ihre Einordnung in einen Gesamtzusammenhang und damit ihre Übergänglichkeit und Vorläufigkeit.
3. Das Grundgesetz des Christlichen: in Christus
Aber bevor wir den christlichen Gehalt jeder einzelnen Zeitstruktur herausheben können, müssen wir wenigstens einen allgemeinen Begriff davon haben, worin dieser christliche Gehalt zu suchen sein mag. Wir müssen uns also die Grundstruktur des Vorganges vor Augen zu führen suchen, der in der Menschwerdung und Erlösung Wirklichkeit geworden ist.
Des Menschen tiefste Sehnsucht ist es, zum Göttlichen aufzusteigen, Gott ähnlich, ja Gott gleich zu werden. Während das tägliche Leben ihn in die Kleinwelt des irdischen Alltags fesselt und bannt, entbrennt in ihm der Drang, die Fesseln dieser Sklaverei zu zerreißen und in die geheimnisvolle, dahinterliegende Tiefe durchzubrechen, in der er frei, ganz, weise und unsterblich sein könnte: frei von der Grenze seines engen Ich, den Gesamtzusammenhang der Ereignisse beherrschend, überlegen dem Schicksal und dem Vergehen. In allen Völkern hat sich ein Stand, eine Kaste ausgebildet, die diesem allgemeinen Sehnen sichtbaren, repräsentativen, gleichsam sakramentalen Ausdruck verleihen sollte. Aber wir wissen, daß die Schlange sich gerade dieses innersten Triebes des Menschen, zu Gott selbst vorzudringen, bemächtigt und ihn vergiftet hat. Die Erbsünde sitzt nicht irgendwie peripher im menschlichen Wesen, sondern das «eritis sicut dii» ist die Perversion des ursprünglichen Kernes dieses Wesens selbst. Nicht als ob dieser Kern, in protestantischem Sinn, durch die Erbschuld selbst vernichtet wäre, aber er ist sündhaft «gefärbt», «durchwachsen», «verbogen». Das religiöse Ideal des nachparadiesischen Menschen, «Geist», «Weiser», «Mystiker», «Vollendeter» zu werden (um die reinsten und ehrwürdigsten Ideale zu nennen), bedeutet immer zugleich mit dem Echtreligiösen, das es enthält, eine Revolte gegen den Schöpfer: eine Absage an die Natur, in die hinein der Mensch gestellt und geschaffen wurde: die irdische, leibseelische, gemeinschaftliche, zeiträumliche Existenzweise. Der Mensch will nicht Mensch sein, sondern etwas anderes – wie er sich einbildet «Höheres» –; als «Religiöser» kündet er Gott den Dienst. Denn dieser Dienst bestünde ja in der schlichten Anerkennung und Ausübung seiner Natur. Anstatt die Urtatsache der Kreatürlichkeit als Basis und Ausgangspunkt aller seiner religiösen Bewegungen und Aspirationen zu nehmen, überfliegt er gleichsam diese Basis und sucht auf magische Weise die Einverleibung irgend eines geistigen Zauberapfels – die Seinsweise des Schöpfers selbst zu erreichen. Das, was das Geschöpf innerlichst und formell zum Geschöpf macht: das Bewußtsein, mit seinem ganzen Seinsbestand, seiner Essenz und Existenz unter dem Schöpferwillen, Wohlgefallen und Verfügen des Schöpfers zu stehen, das Bewußtsein mithin, daß ihm gegenüber ein absolutes Sein steht, dessen Wesen unbegreiflicherweise darin besteht, durch sich selbst zu sein, also das, was das Geschöpf wesentlich nie und nimmer werden kann, dieses Bewußtsein, das die erste, unaufhebbare und grundlegendste Wahrheit des Seins ausdrückt, wird in den Hintergrund geschoben. An seine Stelle tritt die Berechnung, daß, wenn man doch aus Gott ist, man auch etwas Göttliches enthalten muß, einen «göttlichen Funken», ein «Seelenfünklein»; daß man, wenn man auch der äußeren Existenz nach zufällig und bedingt ist, doch dem inwendigen «Wesen» nach ein ewiger Gedanke Gottes sein muß, gleichsam ein Stück und Bestandteil der ewigen Ideenwelt, die doch nichts anderes als Gott selbst ist. Man findet also in seinem Menschwesen eine Stelle – vielleicht nur einen Punkt, aber dieser Punkt genügt – wo man gleichsam «religiös» mit Gott auf gleichem Fuße verkehren darf, wo eine mystische Identität zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht. Diesen geheimnisvollen Identitätspunkt zu erreichen, gilt nun alles «religiöse» Bemühen: das Irdisch-Vergängliche erscheint in diesem Aspekt nur als eine äußere Schale, die den inneren Kern umhüllt und verdeckt, sie muß aszetisch durchbrochen, «verneint», transparent gemacht werden. Der Vollendete, der Erkennende durchschaut sie als Schein, denn alle Nichtidentität mit dem Göttlichen ist im Grunde ein Nichtsein; also auch das begrenzte Ich, die Individualität.
Das Erbsündige dieser menschlichen Religiosität besteht darin, daß die Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf, die mit der Tatsache der Gottesabkunft gegeben ist, nicht in das fundamentale Verhältnis des Nicht-Gott-seins des Geschöpfes hineingeschrieben wird. In der Tat hängt alles daran, daß jenes Nicht-Gott-sein des Geschöpfes als die rangerste, eben fundamentale Tatsache festgehalten wird. Daß Gott Gott ist, das ist der ungeheuerste und schlechthin uneinholbare Gedanke; er sagt mir, wenn er mich einmal im Tiefsten getroffen hat, mit einer absoluten, durch nichts überholbaren Evidenz, daß ich selbst, bis ins letzte hinein, nicht Gott bin und möge ich mich in alle Äonen der Äonen steigern und vervollkommnen, und möge ich mich auch selbst in einer unendlichen, liebenden Exstase aus mir selber hinauslehnen, und möge selbst Gott mich mit den Geschenken seiner Göttlichkeit überschütten. Wenn mich einmal dieser Gedanke getroffen hat, begreife ich zugleich, daß mein fundamentales Nicht-Gott-sein jene Wahrheit ist, die keinesfalls in Vergessenheit geraten darf, wenn ich nach «meiner Wahrheit» und meiner Vollendung streben will; daß vielmehr mein ganzes Streben, die göttliche Heimat zu erreichen, ausdrücklich auf diesem Fundament sich aufbauen muß. Anders ausgedrückt: im Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf halten sich Ähnlichkeit und Verschiedenheit nicht das Gleichgewicht, sondern die Unähnlichkeit ist das Radikalere. Und darum muß auch, als im Maße das Geschöpf Gott näher kommt und ihm «ähnlicher» wird, diese Unähnlichkeit immer mehr als das Grundlegende, als die «erste Wahrheit» erscheinen. Je mehr wir von Gott erkennen (und das heißt doch: je mehr wir «in Gott» sind, da wir Gott nur durch Gott erkennen können), um so mehr erkennen wir auch, daß wir nicht Gott sind und daß Gott, der immer weiter über alle Ähnlichkeit hinaus Erhabene, der immer Unwahrscheinlichere, immer Unfaßbarere ist. Oder, wie alle echten Mystiker es ausdrücken: je mehr wir Gott erkennen, um so weniger erkennen wir ihn. Wenn das Licht in «arithmetischer» Progression wächst, so wächst das Dunkel zugleich in «geometrischer». Niemals also wird in der Näherung an Gott ein anfänglicher «Zwischenraum» zwischen ihm und der Kreatur allmählich verringert und gleichsam in einer unendlichen Annäherung aufgehoben. Denn dies würde, in dem entwickelten Sinn, einen möglichen, wenigstens idealen Identitätspunkt zwischen beiden Polen voraussetzen. Sondern alle wahre Annäherung an Gott, wie immer sie nun auch bewerkstelligt werden mag, – ob naturhaft mehr vom Geschöpf aus oder gnadenhaft rein von Gott aus – steht von vornherein in diesem seltsamen, paradoxen Verhältnis, daß sie sich nur auf der Grundlage der immer überragenden Distanz aufbauen kann.
Aber diese «Kluft» zwischen den sich liebenden Wesen ist nur im Abstrakten betrachtet etwas Schreckhaftes und zur Verzweiflung Verlockendes. Sobald wir selbst die Liebenden sind und im Vollzug der Liebe stehen, verwandelt sich das Furchtbare gerade in das Süßeste und Beglückendste. Denn die Verewigung der Kluft ist zugleich diejenige des Sich-Gegenüberstehens und somit der Ermöglichung der Liebe selbst. Nur wo Nichtidentität ist, ist Liebe möglich. Und es ist schlechthin nicht wahr, daß die Liebe die Aufhebung der Personalität begehrt, daß sie das Du zu sein begehrt. Auch im menschlichen Bereich will sie vielmehr zugleich mit der höchsten Näherung und Gemeinsamkeit die immer größere Erhobenheit und Entrücktheit des Geliebten über uns selbst (– wie traurig, wenn es sich einmal herausstellte, daß er nur unser Maß und Format besaß! –), um einen immer unausschöpflichen Gegenstand der Bewunderung und «Vergötterung» zu besitzen. Und wenn uns gar der Geliebte versichert, wir seien ihm lieb so, wie wir sind, und er liebe gerade dieses unser eigentümliches und unvertauschbares Selbst, so werden wir, ihm zuliebe, trachten, dieses Selbst, das wir sind, immer vollkommener zu werden. Dieses menschliche Liebesverhältnis ist nur ein schwaches Abbild des religiösen Verhältnisses zwischen Gott und uns. Daß in ihm das Verhältnis des gegenseitigen Andersseins nicht allein die «Fremde» und «Ferne» des Knechtes gegenüber dem Herrn besagt, sondern tiefer in sich auch ein Geheimnis der Liebe birgt, dies ahnen wir aus der Offenbarung des Dreieinigen Gottes selbst, in dem die höchste Einheit und Gemeinschaft des Wesens gerade die Verschiedenheit der Personen fordert und begründet. So wenig ist also unser unaufhebbares Nicht-Gott-sein ein reiner Mangel und eine aufzuhebende Vorläufigkeit, daß wir gerade noch in diesem Negativen einen Abglanz der Gottähnlichkeit besitzen, nämlich den der Einzigkeit und Unvergleichlichkeit Gottes.
Dieses Verhältnis von radikaler Verschiedenheit als Wurzel aller Ähnlichkeit und Gemeinschaft mit Gott ist im Wesen, in der Natur aller Kreatur grundgelegt. Es ist also nicht so, als ob dem Moment der «größeren Verschiedenheit» der geschöpflichen «Natur», das Moment der Überwindung dieser Verschiedenheit etwa der spontanen Gnade Gottes zugeordnet wäre. Sondern Ähnlichkeit in wurzelhafter Verschiedenheit ist als solche der formale Grundriß, die Natur jedes möglichen Geschöpfes, und alle Begnadung von Seiten Gottes zerstört dieses Verhältnis nicht und hebt es nicht auf, sondern vollendet es durch die «Erhöhung», die sie ihm bringt. Gratia non destruit, sed perficit et extollit naturam. Auch im gnadenhaften Verhältnis zu Gott bleibt der formale Grundriß, gleichsam der goldene Schnitt, der gleiche, auch wenn die Ausmaße andere werden. Gerade der begnadende Gott, der uns unbegreiflich nah an sich und in sich hineingezogen hat, erweist sich dadurch als unbegreiflicher, als er uns jemals erscheinen konnte, solange wir der Gnade noch entbehrten.
An diesem formalen Grundriß also rüttelte die Erbsünde. Sie wollte in unvermittelter Weise «wie Gott sein». Anstatt in der wesentlichen Andersheit der menschlich-irdischen Natur seine Natur, sein Menschsein zu vollziehen und dadurch zu Lob und Dienst des Schöpfers ein Vollkommenes zu werden, das der Vollkommenheit des Vaters im Himmel ähnlich würde, will der sündigende Mensch aus dem Gesetz der Natur herausspringen und eine andere, höhere, engelgleiche, reingeistige, ja irgendwie göttliche Natur bekleiden. Diesem Versuch brauchte gar keine äußere Strafe Gottes zu folgen: die vergewaltigte Maschine, der zerstörte Organismus war sich selber Strafe genug. Die Mißachtung des Seinsgesetzes führt von selbst zur Qual und zum Tode.
Was die Menschwerdung Gottes zur Erlösung des Menschen von dieser Sünde allein bedeuten konnte, das ist nun plötzlich klar: die Wiederherstellung des richtigen Grundverhältnisses – in einem paradigmatischen Menschen vorgelebt – und dies eben als Weg zur unbegreiflichsten Erhebung des Menschen zur Gottesgemeinschaft. Die hypostatische Union, jener Berührungspunkt der Pole, den der Mensch in seiner Anmaßung allein zu erreichen gesucht hatte und der ihm nun in der Teilnahme und im Leben in Christus gleichsam berührbar wird, vollzieht sich ausdrücklich in der absoluten «Unvermischtheit» der beiden Naturen, ja geradezu in ihrer größten Trennung. Das heißt: gegenüber dem Bestreben des Menschen, die Region des Fleisches, der Zeiträumlichkeit und der Kollektivität zu überspringen, um in einsamem Höhenflug ein geistig-pneumatisches, innerlich weltüberlegenes Wesen zu werden, eine vollkommene «Persönlichkeit», legt die Erlösungsordnung den Finger auf die weltliche Natur, die zeiträumliche Existenz, die Gemeinschaft. Ja gerade weil hier das Übernatürliche in seiner unverhüllten Form, als Logos Gottes selbst erscheint, wird der Akzent auf das unterscheidend Naturhafte gelegt: Christus erscheint nicht als der Freund, sondern als der Knecht des Vaters, und nur durch den Vollzug dieses naturhaften Knecht-Herr-Verhältnisses hindurch vollzieht sich die Erhebung ins Freundes- und Kindesverhältnis. Ja, weil der Mensch das unterscheidend Naturhafte seines Wesens, seine Leiblichkeit mit all ihren Mängeln, Armseligkeiten und Schwächen überwinden wollte, um das Geisthafte seines Wesens (als dem vermeintlich Gottnäheren) zu kultivieren, darum wird als der unterscheidende Ort der Erlösung die Schwachheit des Fleisches (sarx – nicht nur soma) erwählt, mit seinem ganzen Gefolge von Leiden, Ohnmacht, Mutlosigkeit, Verlassenheit, Schmerz und Tod. Gott erwählt somit das Schwache, um das Starke zu beschämen, er erwählt das Naturhafte und Sarkische, um das Geisthafte und Pneumatische zu beschämen. Denn dies letztere, Geist und Pneuma, wird der Mensch nur in dem Maße, als er in seiner fundamentalen Wahrheit, in der Wahrheit seiner Natur, verwurzelt bleibt.
Die Erlösungsordnung ist also die radikale Umkehrung der erbsündigen Ordnung: sie setzt gegen den eigenmächtigen Aufstieg des Menschen zu Gott (und dies als Sturz in die Hölle) den gnadenhaften Abstieg Gottes zum Menschen (und dies als Emporhebung, assumptio des Menschen in Gott). Im «Verbum caro factum est» und in der Weise, wie dies sich vollzog, nämlich in der Akzentuierung und Prononcierung des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch, wurde der ganzen Menschheit der genaue Ort gezeigt, an dem und von dem aus allein ihre alte Sehnsucht nach «Vergöttlichung» erfüllt werden sollte. Christus ist kein «Weiser», kein «Vollendeter» und «Erleuchteter», kein «pneumatischer Mensch», kein «hoher Geist» und keine «große Persönlichkeit». Sondern Christus ist Gott in der Natur eines «gewöhnlichen Menschen» (σχῆμα ἀνϑρώπου, Phil 2,7). Von der Armseligkeit des menschlichen Keimes an über die Armut der Krippe, die Unauffälligkeit und Unscheinbarkeit der dreißig Handwerkerjahre zur Schlichtheit und Mühseligkeit seines Wanderpredigerlebens, in dem nur die Erledigung eines Auftrags, der reine Gehorsam dem Vater gegenüber erscheinen, bis zur Schmach und Qual der Passion und die letzte Trennung vom Vater am Kreuze und im Tode ist überall der Ton auf die «Natur» gelegt. Freilich nicht auf eine «naturalistisch» verstandene Natur, auf eine «leidenschaftliche Liebe» zur «Erde», auf ein verzücktes und verliebtes Umfangen des «Menschlich-Allzumenschlichen», sondern auf jene illusionslose, schlichte und unpathetische Natur, wie sie eben die Natur der «einfachen Leute» ist, die die Härte des Daseins ebenso schlicht zu nehmen wissen wie seine gelegentlichen Freuden, wenig Worte machen, aber vieles erfahren und sich einprägen, die sich opfern und sich aufreiben, ohne es recht zu merken und «etwas Besonderes» daran zu finden, die sich mit Selbstverständlichkeit in den hinteren Reihen halten, die zuletzt, ohne sichtbare Spuren in der Weltgeschichte zu hinterlassen, verscheiden und jenseits es vermutlich zunächst nicht einsehen können, warum ausgerechnet sie nun «die Ersten» sein sollen. Diese Menschlichkeit ist die Atmosphäre des Evangeliums und sie ist der Ort, in dem das Unerhörte sich vollzieht, das Göttliche erscheint und sichtbar, tastbar wird, wie Johannes sagt. Von diesem Punkte aus vollzieht sich die Schwingungsbreite der Erlösung: der Tod dieser Welt, das Vergehen des alten Äons und die Auferstehung der neuen Welt, die Errichtung des neuen Äons.
Denn im Sterben der alten Welt vollzieht sich nur in der schärfsten und äußersten Form das fundamentale Gesetz der Geschöpflichkeit, werden nur die untersten Grundmauern der Kreatürlichkeit sichtbar, in einem Radikalismus, den die Sünde des Gottgleichseinwollens provoziert hat: Es wird klar, daß das Erste und Grundlegende die Einzigkeit und Göttlichkeit Gottes ist, daß also, wo er erscheinen soll, alles übrige zu verschwinden und in den Staub zu sinken hat. Weil die Sünde dies nicht einsehen wollte und die Distanz durch eine frevle Anbiederung überspringen zu können glaubte, darum muß die Erweisung der Wahrheit des Geschöpfs auf diese grauenvolle, mit dem Blut des Gottmenschen selbst unterstrichene Weise geschehen, muß die ganze Welt, soweit sie nur immer an dieser Erlösung teilnehmen soll, mit hineintauchen in diesen Tod, in diese Erweisung ihrer Ohnmacht und Schwäche, ihres Nicht-Gott-seins. Aber eben, weil dieser Vorgang Erlösung durch Christus, den «Gott von Gott», ist, darum wird unmittelbar und ohne Zwischenraum die Erweisung der Leere und Ausräumung des Geschöpfs zur Erweisung der Gegenwart der Fülle und Herrlichkeit Gottes, das Sterben, in dem die Grundmauern der Geschöpflichkeit sichtbar werden, wird ein Hinübersterben in die Auferstehung, ein Aufbau des Tempels Gottes, des neuen Himmels und der neuen Erde.
Aber dieser Einbruch der Herrlichkeit Gottes ist nun gerade nicht die eines Wiederzuschüttens der im Tode Christi sichtbar gewordenen Distanz zwischen Gott und Geschöpf. Diese Distanz, so sahen wir ja, ist die grundlegende Wahrheit, und die Präsenz der Herrlichkeit Gottes kann nicht ein Überblenden und Übertäuben der Wahrheit, sondern nur ihre endgültige Besiegelung, Vollendung und Verklärung bedeuten. Die Auferstehung Christi ist freilich die Erfüllung des ausgehöhlten und ausgebrannten Geschöpfseins durch die Glorie des unvergleichlichen Gottes, aber sie ist es gerade als eine letzte Betonung der Natur: sofern sie Auferstehung im Fleische ist, sofern ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen, welche die Vollendung der Natur, auch und gerade sofern diese Gott gegenübersteht, bedeuten. Der neue Äon ist die Erweisung der Endgültigkeit der größeren Verschiedenheit zwischen Gott und Geschöpf – gerade in der Intimität einer Gemeinschaft, wie sie enger und seliger nicht gedacht werden kann.
So kann auch die ewige Seligkeit nicht in der Richtung auf eine Art von Auslöschung des individuellen Bewußtseins hin vorgestellt werden, als ob das höchste Glück darin bestünde, in Gott «aufzugehen» und zu versinken. Diese Tendenz zeichnet höchstens die Hälfte der Wahrheit; die andere besagt, daß eben in der höchsten Einswerdung Gott als der ganz Andere erfaßt wird. Es gibt weder psychologisch noch metaphysisch betrachtet ein christliches «Vergottungserlebnis», es wird in der höchsten Einigung nicht die Vernichtung des individuellen Ich erlebt, sondern nur das Versinken des eigenen Seins vor der mich erfüllenden und überwältigenden Größe des göttlichen. Alle Schauder der Einigung vollziehen sich im tieferen Schauern der Anbetung. Je mehr die Gnade zur gleichberechtigten Freundschaft ruft, um so tiefer wird das Bewußtsein, nur Diener und Knecht zu sein. Nur der Liebende weiß, was in Wahrheit heilige Furcht ist. Nur die begnadetste Kreatur vermochte im Augenblick der höchsten Begnadung die ganze Wahrheit des «ecce ancilla Domini» zu erfassen. Was dem großen Auge als ein Erlebnis der «Vergottung» erscheinen möchte, ist in Wirklichkeit, dort wo es echt ist, die Erfahrung des Nicht-mehr-in-Betracht-Kommens vor dem alles erfüllenden Meer der Gottheit.
Somit erscheint das Christliche wirklich in der Formel: gratia non destruit, sed perficit naturam, am deutlichsten ausgedrückt. Der Mensch ist es, der «destruit», indem er aus seiner Natur heraus in eine «geistige» Existenz aufzusteigen strebt. Dies ist der Sinn aller außerchristlichen Religionen, vom Buddhismus bis zum Platonismus und Gnostizismus, der Sinn auch aller großen christlichen Häresien, vom Doketismus und Origenismus der Antike über den Joachimismus des Mittelalters bis zum protestantischen Spiritualismus der Neuzeit. Im Grunde wird hier überall das Gesetz der Menschwerdung als der unterscheidenden Herausstellung der Natur in seinem endgültigen und für alle Zeiten verpflichtenden Sinn aufgehoben. Sei es, daß die wahre Inkarnation im Fleische überhaupt geleugnet wird, weil sie Gottes, als reinen Geistes, unwürdig sei (die Doketen), weil sie für den heiligen Gott unmöglich sei (der konsequente Protestantismus, etwa bei Karl Barth), sei es, daß in der Erlösungstat Christi diese Natur ein für allemal «überwunden» oder «erhoben» gedacht wird, daß also der Christ nicht in das Gesetz Christi selbst, sondern in das Gesetz einer geistig-pneumatischen Existenz, nicht in die Spannung des alten und des neuen Äons, sondern in ein «Reich des Geistes» hineingestellt wird (wie im konsequenten Origenismus, im Joachimismus, und wiederum in den mannigfachsten Formen des echten wie des idealistisch-säkularisierten Protestantismus und Jansenismus). Diese Formen tragen von neuem die Struktur der Erbsünde ins Christliche hinein, indem sie die Vollendung der Welt nicht auf dem (durch Christus wiederhergestellten und unterstrichenen) formalen Grundriß des Seinsgesetzes selbst aufbauen. Sie alle glauben höher zu fliegen, wenn sie die berauschende Tatsache der «Annahme an Kindesstatt», der «Teilnahme an der göttlichen Natur» als ein unmittelbares Gott-ans-Herz-sinken deuten, in welchem das alte Gesetz der Natur, das Gesetz der Distanz und der «Knechtschaft», überwunden und aufgehoben sei. Aber sie alle sehen nicht, daß jede Direktheit in der Annäherung an Gott dem Gesetz der Menschwerdung schnurstracks entgegenläuft, die als den Ort und Schauplatz der Einigung die betonte Verschiedenheit, als Basis und Maß der Gnade die Natur, als Zugang – nein, als Ort der Auferstehung das Kreuz und das Grab festgesetzt hat. Darin spricht sich jene Indirektheit des Christlichen aus, welche Kierkegaard so tief als das Gesetz der Umkehrung beschrieben hat: «Mit jedem Fortschritt, den der Mensch macht, wird Gott unendlich erhabener – und dadurch wird der Mensch kleiner, selbst wenn dies durch einen Fortschritt geschah… Dieses ist, wenn ich so sagen darf, wie Gottes Zurückhaltung auf Grund seiner Majestät. Gerade indem er mehr sich hingibt, mehr mit dem Menschen sich einläßt, gerade da wird der Mensch, wiewohl eleviert, degradiert. In Wahrheit wird er eleviert, aber er wird eleviert dadurch, daß er eine unendlich höhere Vorstellung bekommt von Gott, und so wird er degradiert. Wie erhebend! So kann kein menschlicher Souverän sich sichern gegen Zudringlichkeit. ‹Ihm gebührt es, zu wachen, mir, geringer zu werden›, das ist das Gesetz für alle Annäherung an Gott. Ob er durch Millionen Treppenstufen entfernt wäre, er wäre doch nicht so gesichert gegen Zudringlichkeit, denn diese müßten ja doch einmal zurückgelegt werden. Aber durch das Gesetz der Umkehrung gesichert sein, daß die Annäherung entfernt ist: unendliche Majestät! ‹Aber so verliere ich ja auf eine Weise Gott!› Wie, er wächst ja! Nein, verliere ich etwas, verliere ich mein Selbstisches, mich selbst, bis ich ganz die Seligkeit finde in dieser Anbetung: Ihm gebührt es zu wachsen, mir, geringer zu werden. Aber dieses ist ja das Gesetz für alle wahre Liebe» (Tagebücher, ed. Haecker, II. 301, 312).
4. Das Grundgesetz des Christlichen: in der Kirche
Wir sind auf unserer Suche nach der Struktur des Christlichen dahin gelangt, die Menschwerdung Christi zu begreifen als die höchste Einigung des Menschen mit Gott durch die Betonung der größeren, gegenseitigen Verschiedenheit von Mensch und Gott. In der schlichten Sprache der Christen: Demut ist Wahrheit, und Demut ist die Grundlage aller Tugend. Demut will abnehmen, und nicht «aufsteigen», auch nicht dem sogenannten «geistigen» und «inneren Menschen» nach. Es ist eine allzu verkürzte, mißverständliche Formel, welche da sagt: Gott stieg herab, damit der Mensch aufsteige. So wie es eine allzu kurze, das unterscheidend Christliche nicht ausdrückende Wendung ist, welche sagt: Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde. Denn zunächst gilt hier Pauli Wort: qui descendit, ipse est et qui ascendit. Derselbe, der abstieg, stieg auch empor. Der Mensch vollzieht so wenig – wenn auch durch Gnade – die Gegenbewegung zu Christus, daß er vielmehr nur im genauen Nachvollzug der Bewegung Christi ein Christ ist. Das Gesetz Christi ist das Gesetz des einen Christus: Haupt und Leib.
Dies gilt es noch in Kürze auszuführen, bevor wir zur Gesetzlichkeit der großen Perioden der Kirchengeschichte übergehen können: wie das Grundgesetz der Menschwerdung sich im mystischen Leib Christi, in der Kirche auswirkt und fortsetzt. Der Grundsatz, der diese Fortsetzung beherrscht, ergibt sich aus dem Verhältnis von Haupt und Leib. Das Haupt ist hypostatisch eins mit dem Logos, der Leib ist es nicht; das Haupt ist sündelos und erlösend, der Leib ist sündig und erlöst. Wenn aber dies die «Wahrheit» des Leibes ist, dann potenziert sich gleichsam der Abstand des Geschöpfs von Gott durch den Abstand des Leibes zum Haupte. Es ist die Hybris der großen Häresien, diesen erneuten Abstand zu übersehen und Haupt und Leib gleichsam auf dem gleichen Fuße zu behandeln. Es ist auch die Hybris der religiösen Dämonie, sein Eingegliedertsein in den Leib Christi als eine unmittelbare Teilnahme am Erlöseramt aufzufassen (wie manche «Opferseelen» sich vermessen), während doch auch hier das «Gesetz der Umkehrung» interveniert. Die Kirche betet ihr Haupt an, obwohl sie der Leib dieses Hauptes ist; sie vermißt sich nicht, aus eigener Autorität zu reden, sondern nur in Stellvertretung Christi, dessen Offenbarung sie weitergibt und auslegt, ohne sie zu verändern; sie verkündet, was sie gehört hat, und nur so ist sie das Forthallen des Sprechenden selbst. Diese «Potenzierung des Abstandes» ist also immer im Auge zu behalten, wenn von der Auswirkung des Gesetzes Christi in seiner Kirche die Rede ist.
In diesem Sinne ist die Kirche grundlegend der gehorchende Mitvollzug der Abstiegsbewegung Christi in die Welt hinein, bis ins unterscheidend «Naturhafte» von Kreuz und Tod – und in dieser Abstiegsbewegung der Ort der Erscheinung des Göttlichen, der Ort der höchsten Einigung von Gott und Geschöpf. Und wiederum geschieht diese Erscheinung Gottes im Versagen und Verschwinden des Geschöpfes nicht als eine Aufhebung des unterscheidend Natürlichen, sondern als dessen höchste Bewahrung und Sanktionierung.
«Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.» In diesen Worten drückt sich die Fortsetzung der Abstiegsbewegung Christi aus. Wie Christus gerade im Weggehen vom Vater den Willen des Vaters erfüllt und so mit dem Vater eins bleibt, so erfüllt die Kirche den Willen Christi in ihrem Gang in die Welt hinein und bleibt so eins mit ihm. Ja, dieses «Hinweg» hat seine letzte Quelle und Rechtfertigung im innergöttlichen «Hinweg» des Sohnes vom Vater selbst, in der ewigen missio, darin alle heilsgeschichtliche missio und Mission wurzelt. Gerade dann, wenn wir von Gott an unseren unterscheidend menschlichen Platz in der Welt gestellt werden, werden wir zur Teilnahme an der göttlichen Natur, am innertrinitarischen Leben zugelassen. Und gerade wenn das Menschliche und Nicht-Göttliche an unserem Tun auf dem Höhepunkt ist, wenn das Schifflein der Kirche scheinbar verloren zwischen den Wogen und Stürmen der Welt treibt, fast ununterscheidbar in ihrer Knechts- und Sündergestalt von dem, was sie umgibt, dann vollzieht sich die entscheidende Einswerdung mit der Knechtsgestalt des Erlösers und darin mit Gott selbst.
So ist die Kirche in ihrer Sendung an die Welt grundlegend selbst ein Stück Welt, so wie Christus als Mensch ein Stück Welt war. An jener ersten Wahrheit rütteln, heißt zugleich die zweite in Frage ziehen. So sehr die Kirche auch eine von oben her gestiftete, übernatürliche Gemeinschaft ist – wie Christus von oben her aus Gott kam, und nicht «durch den Willen des Mannes» oder «des Fleisches» – so sehr ist sie doch eine echt natürliche, echt menschliche und echt sichtbare Gesellschaft – wie Christus ein natürlicher und sichtbarer Mann und Mensch war. Und diese Sichtbarkeit ist nicht nur eine äußerliche, exoterische, sondern eine wesentliche und unaufhebbare. Darum setzt sich die echte Natürlichkeit, ja die unterscheidende Natürlichkeit der Kirche fort bis in alle ihre Funktionen: in die Sichtbarkeit ihrer Sakramente, Aemter und Stände, ihrer Hierarchie und Liturgie (und nicht «unsichtbarer Geistkirche»), in die echte Natürlichkeit, Vernünftigkeit und Rationalität (und nicht «Gnosis») ihrer Theologie, in die echt menschliche, natürliche (und nicht «pneumatische») Gestalt ihrer Ethik, in die echte Möglichkeit ihrer Apologetik (da die Kirche sichtbare Gestalt unter anderen sichtbaren Gestalten ist). Dies alles heißt nicht, daß die Kirche Welt, daß der Glaube Vernunft, daß die theologischen Tugenden moralische Tugenden seien, so wenig als Christus darum aufhörte, Gott zu sein, weil er Mensch wurde. Wohl aber besagt es, daß, wie die Erlösung nur durch die Unterstreichung des Menschlichen, Weltlichen, Natürlichen, Nicht-Göttlichen vollzogen wurde – weil so allein der Ort der Begegnung von Gott und Welt bereitgestellt werden konnte –‚ so auch die Kirche durch ihr betontes Gehen in die Welt hinein in der Richtung der Erlösung schreitet und selbst Werkzeug derselben, instrumentum redemptionis wird.
An dieser Stelle aber wird es bedeutsam, daß die Kirche selbst nicht mit Christus, dem Erlöser, identisch ist, sondern in der Distanz der Anbetung und des Gehorsams zu ihm steht. Während der Welterlöser, der Gott ist und als Gott ein souveränes, direktes und unvermitteltes Verhältnis zu jeder Menschenseele, jedem Volk und jeder Zeit besitzt und als der einzige «Herzenskenner» begnaden und erlösen kann, wen er will, ist die Kirche ein sichtbarer, aus Menschen bestehender Organismus, der als solcher unter anderen sichtbaren Gemeinschaften steht. Sie hat sich an das Gebot der Sendung zu halten, das die Christuszugehörigkeit eines Menschen nach der Zugehörigkeit zu ihrem sichtbaren, sakramentalen und hierarchischen Organismus zu bemessen gebietet. Darum besteht zwischen der sichtbaren Kirche und dem unsichtbaren Reich der Erlösten eine Spannung; ihre Grenzen decken sich nicht. «Viele sind drinnen», sagt Augustinus, «die draußen zu sein scheinen, und viele sind draußen, die drinnen zu sein scheinen.» Diese Spannung erweist es nur um so deutlicher, daß die Kirche vor allem eine Sendung, einen Auftrag hat, das Heil der Welt zu predigen, sakramental zu vermitteln und durch ihre Gegenwart seine unsichtbare Gegenwart sichtbar zu repräsentieren, ohne sich doch einen Augenblick mit der Quelle dieses Heils zu verwechseln. Diese dienende, nicht herrschende Stellung in der Welt macht sie in ausgezeichnetem Sinne zu einer Weiterführung des «Knechtes Jahwes». Das eigentliche Reich Gottes, von dessentwillen sie da ist, zu dessen Bildung und Auferbauung sie gesandt ist, ist nicht sie selbst, sondern die Menschheit als ganze, die «Welt». Durch ihre Mühen, ihre Verfolgungen, ihre Schmach und ihre Untergänge muß sie dieser Menschheit das Heil mitverdienen, und auch äußerlich, als ein sichtbares, sakramentales Zeichen, den Heilsweg vorleben. Sie ist die Einübung der Welt in die Erlösung.
Diese Erlösung vollzieht sich aber, wir wissen es, im doppelten Rhythmus eines Sterbens und Begrabenwerdens mit Christus und eines Auferstehens mit ihm. Im Sterben wird der formale Grundriß der Geschöpflichkeit wiederhergestellt, in der Auferstehung vollendet sich das In-sich-Sein des Geschöpfes als Form des In-Gott-Seins. Diese doppelte Artikulation ist die letzte, alle anderen überformende Form des Weltseins, da ja die in Christus erschienene Übernatur alles natürliche Sein vollendet (perficit). Wie weit und in welchem Ausmaße die Welt als solche diesen Tod und diese Auferstehung in Christus tatsächlich mitvollzieht, das ist Gottes alleiniges Geheimnis. Wir wissen davon nur, daß es einerseits das allgemeine Gesetz der Welt ist (da die Welt als ganze übernatürlich erhoben und unter dem Königtum Christi steht und der Heilswille Gottes ein universaler ist), daß anderseits wir Glieder der sichtbaren Kirche dazu berufen sind, diesen Vollzug nach unseren Kräften zu verkünden und darzustellen.
Wir verstehen nun endlich den eigentlichen Sinn der Weltabgewandtheit, ja Weltflucht und der Weltzugewandtheit der Kirche. Als weltabgewandte, «kontemplative» Kirche, die «nicht von dieser Welt ist», lebt die Kirche dem Kosmos seinen eigenen Tod vor, schreitet sie zugleich sichtbar-symbolisch und sakramental-wirksam aus dem alten Äon hinüber in den neuen. Als weltzugewandte, «aktive» Kirche aber betrachtet sie die ganze Welt als das Feld der Erlösung, gleichsam als den neuen Äon in Potenz und durchstrahlt ihn als ganzen mit der Wärme und der Kraft ihres inneren Lebens. Sie ist so das bereits auferstandene Herz eines ungeheuren Leibes, der noch halb in Todesstarre liegt und sie treibt das Blut langsam in immer weitere Glieder hinaus.
Was wir damit sagen wollen, ist dies: das Verhältnis zwischen sichtbarer Kirche und Welt bringt es mit sich, daß die Doppelbewegung des kirchlichen Lebens nicht etwa als eine Spannung zwischen «Sendung» (in die «Natur» hinein) und «Rückzug» (aus der «Natur» heraus) verstanden werden darf, sondern daß die Idee der «Sendung» das Übergreifende ist gegenüber beiden Grundartikulationen des kirchlichen Lebens. Denn beide sind Äußerung und Funktion des welterlösenden Amtes der Kirche. Beide sind also gestellt in jenen Punkt der unterscheidenden Distanz des Leibes zum Haupte und – als Fortsetzung der Sendung Christi – in den Punkt der unterscheidenden Distanz der Menschheit Christi zu Gott. Der innere Erweis dafür ist die Art und Weise, wie Gnade, Beschauung, «Geist» der Kirche verliehen sind: als «Licht der Welt», als «Stadt auf dem Berge» soll das Weltenthobene und Entrückte in die Welt hinein wirken. Der Geistesbeistand ist der Kirche nur verheißen als Hilfe im Kampf von Entscheidungen mit Heiden und Häretikern, dem «Lehramt» also, und nicht einer selbstgenügsamen individuellen oder sozialen Beschaulichkeit. Nur im Vollzug ihrer Aufgabe, nur auf ihrem Posten in der Welt hat die Kirche die Garantie übernatürlichen Beistandes.
So sind auch die großen Ordensstiftungen, mögen sie nun mehr die Funktion der Weltentsagung oder diejenige der Aktivität betonen, alle unter dem übergreifenden Vorzeichen der Sendung entstanden: Das benediktinische Kloster ist in eminentem Sinn «Stadt auf dem Berge», ein weltentrückter, aber rings um sich die Welt ordnender, durchformender und erziehender Mittelpunkt; das franziskanische trägt den Tod Christi und sein Auferstehen wie ein sichtbares Zeichen in Volk und Natur hinein; das dominikanische bemächtigt sich aller Zonen des Wortes, Geistes und Denkens, um ihnen das Siegel des übernatürlichen Weltgesetzes aufzuprägen. Theresia baut ihre beschaulichen Klöster ausdrücklich als Bollwerke gegen den Protestantismus, Ignatius weiht seine Gesellschaft ganz den jeweiligen Bedürfnissen der apostolischen Kirche. Sie alle sind Funktionen des einen Gesamtdienstes der Kirche an der Welt. Das unterscheidende Merkmal der Gegenwart des Heiligen Geistes ist die dem Augenblick der Auserwählung folgende, ja ihm schon potentiell einwohnende Entlassung in den Dienst, die «Sendung». Pfingsten ist das Hochfest der Sendung. Paulus, der «Geist»- und «Gnosis»-Begabte hat sich zweimal mit aller Schärfe gegen ein «geistig-gnostisches» Christentum gewandt, das sich des unterscheidenden Stehens in Welt und Natur zugunsten eines «rein übernatürlichen», «pneumatischen» Daseins entschlagen zu können glaubte: gegen die eschatologischen Christen von Thessalonich, welche dadurch «jenseitige Menschen» zu sein vorgaben, daß der «alte Äon» für sie nicht mehr existierte, – und gegen die pneumatischen Christen von Korinth, welche mit dem Geist und seinen Gaben ein frevles, selbstzweckliches Spiel trieben, anstatt diese Gaben zum Vollzug ihrer Sendung zu gebrauchen, wozu allein sie geschenkt sind. Beide Formen, die eschatologische wie die pneumatische, waren Ansätze zu einer Rückkehr zum alten, erbsündigen Gnostizismus mit seinem Ideal eines reinen Geistseins, einer unmittelbaren Vergöttlichung an Stelle des christlichen «Gesetzes der Umkehrung».
Es ist aber das Grundgesetz nicht nur Christi, sondern auch seiner Kirche, daß einer den Geist Gottes – und also die Gabe der Vergöttlichung – in dem genauen Maße besitzt, als er Demut übt (also sich selbst als «Natur» versteht und als das von Gott unendlich Verschiedene), als er Gehorsam übt (also den sachlichen Dienst vollzieht, zu dem er berufen ist und so sich Christus gleichgestaltet) und als er sich zuletzt auch in der Distanz des Gliedes zum Haupte versteht (also in Leid und Versagen zunächst um seiner eigenen Schuld willen gestraft wird – worin es selbst wieder unverdiente Gnade Christi bedeutet, daß dieses Leid in das Leiden Christi hineingenommen und so zum miterlösenden werden darf).
5. Regeln der Deutung
Wir haben auf diesem langen Umwege uns einen Zugang zu unserem Hauptproblem gebahnt. Dieses gilt es nun anzugehen und die Frage zu stellen, wie die Struktur, die wir als die unterscheidend christliche fanden, in den drei großen Perioden der Kirchengeschichte ihre Darstellung findet.
Die Kirche ist an alle Völker und an alle Zeiten gesandt, und sie ist, da sie ausdrücklich in der Form der Sichtbarkeit und Natürlichkeit erscheinen soll, auch in die Buntheit und Verschiedenheit der dadurch entstehenden Situationen eingewiesen. Jede Epoche hat ihre Sprache, ihre Weltanschauung, ihre Perspektive; ihrer aller hat die Kirche sich zu bedienen, um «allen alles zu werden und so alle für Christus zu gewinnen». Nun aber sind geistige Sprache und Begriffswelt einer Zeit und eines Kulturraumes, an die die Kirche erst herantritt, von sich aus noch nicht christlich, im Gegenteil, sie werden notwendig und unfehlbar die Zeichen jenes Denkens und Sprechens – auch in religiösen Dingen – tragen müssen, die wir eingangs als ein «erbsündiges» bezeichneten. Wenn sich somit die Kirche dieser Begriffe und Anschauungen bedient, um in ihnen den christlichen Gehalt auszudrücken, so wird notwendig eine Art von Spannung, ja ein Kampf entbrennen zwischen dem weltlichen Gewand, das gleichsam von einem langen Gebrauch her sich in gewisse Falten gelegt hat, und dem neuen Träger dieses Gewandes. Sehr deutlich tritt das gerade am Anfang der Kirchengeschichte hervor, als die junge Kirche, noch mit keinerlei geistig-kulturellem Gut belastet, einzig mit ihrer Sendung als Beglaubigungsurkunde in der Hand, in den Raum der spätgriechischen, hellenistischen Kultur hineinschritt, deren Religiosität vielleicht stärker als jede andere die Züge des erbsündigen Spiritualismus besaß.
Wenn wir diese erste und alle folgenden und noch möglichen Begegnungen der Kirche mit derartigen kulturellen und weltanschaulichen Formen gerecht beurteilen wollen, dann gilt es, ein Vierfaches im Auge zu behalten.
1. Die heidnische Weltanschauung steht von vornherein in einem Weltzusammenhang, der ein übernatürlicher ist. Da die ganze Menschheit zu einem einzigen übernatürlichen Ziele hingeordnet ist und infolgedessen auch in der einen oder anderen Form von diesem Ziele Kenntnis hat – sei es durch Uroffenbarung, sei es durch ein noch so dunkles und implizites Bewußtwerden ihrer seinsmäßigen Erhobenheit in die Gnadenordnung – so gibt es auf Erden überhaupt keine rein natürliche Religion. Jede Religion steht im direkteren oder schrägeren Lichte der Offenbarung Christi, auch wenn sie von Christus und seinem Erscheinen nicht ausdrücklich weiß. Es kann also zwar wohl der Eros, der sie beseelt, ein erbsündig gefärbter sein, er kann aber nicht ein total pervertierter sein – dies käme auf eine Vernichtung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen durch die Sünde hinaus, was protestantische, nicht katholische Lehre ist –‚ noch kann er ein rein natürlicher sein. Dies muß mit allem Nachdruck festgehalten werden, wenn zum Beispiel der Einfluß heidnischer Religionsformen auf das Christentum untersucht und sogar nach gewiesen wird: etwa der Einfluß Plotins auf die Theologie der Kappadozier oder Proclus’ auf den Areopagiten. Der Glaube, daß mit dem Nachweis eines solchen Einflusses die Christlichkeit eines Theologen von selbst fragwürdig werden müsse, hat die Diskussion über die Anfänge des Christentums aufs schwerste und unnützeste verwirrt. Wer sagt uns denn, wieviel an echter, übernatürlicher Begnadung Plato oder Plotin zuteil geworden ist? Was läßt uns mit Sicherheit äußern, daß die neuplatonische Gottesschau oder die buddhistische Versenkung nicht, in vielen Fällen wenigstens, wahre Zugänge zum übernatürlichen Heil waren? Oft genug mag das erbsündige Moment darin nur ein falsches Vorzeichen, nur eine falsche Betonung sein, die mit geringer Mühe zu verbessern sind. Väter und Scholastiker haben sich um diese Korrektur bemüht, im Glauben, daß die heidnischen Philosophien nicht nur eine natürliche, sondern eine ausdrücklich übernatürliche «Erziehung zu Christus hin» waren.
2. Auf der anderen Seite wird man das «erbsündige Moment» dieser Weltanschauungen nicht unterschätzen dürfen. Und gleichwie die Taufe nur die Erbschuld tilgt, aber den «Herd der Begierlichkeit» in der Seele beläßt, so kann auch eine «getaufte» Weltanschauung vieles von ihrem früheren heidnischen Gehaben zurückbehalten. Ja, sie wird es, weil sie ein gewachsenes und organisches Ganzes ist, das aus langer Tradition sich gebildet hat, notwendig bewahren. Ihr allgemeiner Tenor, ihr gedanklicher Rhythmus, die Verteilung ihrer Akzente, ihrer Lichter und Schatten, ihre geschlossene Architektonik, die für gewisse Tatsachen und Ausblicke überhaupt keinen Raum läßt – all dies läßt von vornherein vermuten, daß diese Weltanschauung die christliche Botschaft wenn nicht verfälschen, so doch unvollständig und stilisiert wiedergeben wird. Hier aber gilt es, von neuem auf der Hut zu sein. Wenn das Christentum sich auch lange Zeit einer geistigen Sprache und Weltanschauung als seines Ausdrucksmittels bedient, so braucht es sich mit dieser Weltanschauung darum doch keineswegs zu identifizieren. Vielmehr hat oft genug zwischen beiden eine Art von symbolischem Verhältnis bestanden, demgemäß gewisse philosophische oder religiöse Anschauungen zum Zeichen, Ausdruck, Transparent für anders geartete, anders betonte christliche Anschauungen dienten. Man denke an den «Logosbegriff», wie ihn Johannes sich aneignet! Apatheia bedeutet bei Clemens von Alexandrien und im Mönchtum etwas völlig anders als in der Stoa, obgleich nicht nur das äußere Wort, sondern auch dessen geistiger Klang und Gehalt zum Ausdruckszeichen des neuen Inhalts übernommen wird. Dieses allgemeine Symbolverhältnis nicht gesehen und deshalb etwa die Kirchenväter eines völligens Verfallens an den Hellenismus, die Scholastiker eines solchen an Aristoteles geziehen zu haben, ist der grundlegende Fehler so mancher protestantischer Forscher, Harnacks an ihrer Spitze. Hat Christus nicht selbst sich jüdischer Begriffe und Sitten bedient, ohne sie deshalb schon jüdisch zu «meinen»? Dieses zweite Gesetz wird uns also behutsam umgehen heißen mit den Urteilen über Verweltlichung und Säkularisation der christlichen Lehre.
3. Wiederum aber werden wir die Möglichkeit solcher Verweltlichung nicht leugnen dürfen. Über die unvermeidliche Einseitigkeit und Bedingtheit jeder partikulären Epoche und ihrer geistigen Sprache hinaus werden wir in Erwägung ziehen müssen, daß der Kirche Unfehlbarkeit nur in dogmatischen Entscheidungen sowie in einer gewissen allgemeinen Orthodoxie der verkündeten Lehre verheißen ist, daß aber in diesem Rahmen manche partikuläre Verirrung möglich, ja wahrscheinlich ist. Denn wenn die Kirche selbst keine Gemeinschaft von sündelosen Wesen ist, sondern täglich neu aus ihren Verschuldungen und ihrem geistigen Götzendienst gereinigt werden muß, wie könnte dann ihr Denken frei bleiben von diesem je-neuen Abfall in die alten Erbsündigkeiten und dieser je-neuen Rückkehr zum Gesetz des christlichen Denkens? Auch hierin muß sich der «potenzierte Abstand» des Leibes vom Haupte äußern, daß dieser Leib von sich aus immer wieder ein rebellierender ist, der vom Haupte aus immer wieder neu sich unterworfen werden muß. Wie also Sünde und Welt immer neuen Raum innerhalb der Kirche gewinnen, so gewinnt auch die Häresie immer neuen Raum im kirchlich-theologischen Denken. Die Häresie ist ein analoger Begriff. Wenn auch ein scharfer Trennungsstrich zwischen jenen verläuft, die sich einem ausdrücklichen Verwerfungsurteil nicht fügen, und denen, die kein solches traf und die im Herzen zur Kirche halten –: wieviel objektiv Verkehrtes wurde im Verlauf der Zeiten nicht von den bedeutendsten Kirchenlehrern vertreten, wie vieles entging nur durch Zufall oder mit Not einer ausdrücklichen Verurteilung, wie viel unrichtige und ungenaue Ansichten treiben in den Köpfen fast aller Gläubigen ihr Wesen! Nur mannigfach gebrochen und gedämpft bricht sich das Licht der absoluten Wahrheit in den tausend verschiedenen Formen, in denen sie verkündet, systematisiert, vermenschlicht wird. In wichtigen Dingen, so lautet ein theologischer Satz, kann die ganze Kirche nicht eine lange Zeit hindurch irren. Aber wenn auch im großen und ganzen der verheißene Beistand den richtigen Kurs immer wieder finden oder zurückgewinnen läßt, mit wieviel Tasten und Straucheln geht die Bahn voran!
4. Dieser schwere Weg ist aber kein Drehen im Kreise. Die Kirche hat im Verlauf der Jahrhunderte vieles gelernt. Es gibt eine wahre Entfaltung des Dogmas. In die arianischen, donatistischen, pelagianischen Wirren wird die Kirche nie mehr verfallen. Und es blieben ihr aus diesen teuer erkauften Erfahrungen nicht nur ein paar trockene dogmatische Formeln als Ergebnis, sondern ein lebendiges Wissen um die Nachteile und Gefahren ganzer Weltanschauungen. So kommt sie auch niemals in die gleiche Situation zurück; wenn ähnliche Gefahren sie anfallen – etwa der messalinische und der protestantische Subjektivismus, der eunomianische und der aufgeklärte Rationalismus –, so trifft sie diese doch immer auf einer anderen Windung ihrer spiralischen Bahn. Darum gibt es auch keine reine Wiederholung und Repristination einer vergangenen Periode. Denn jenes symbolische Spiegelungsverhältnis, von dem wir sprachen, zwischen dem geistigen Gesamtausdruck einer Zeit oder Kultur und dem christlichen Kerygma, ist schlechthin einmalig und nur, in dieser Einmaligkeit gültig. Das Rad der Geschichte läßt sich nicht rückwärts drehen. Was dem Jüngling vollendet ansteht, das ziert den Mann nicht mehr. Hier gilt es einzusehen, daß die Kirche, wie jedes irdische Wesen, durch eine wechselnde Reihe qualitativ verschiedener Augenblicke und Situationen hindurchgeführt wird, deren jeweilige «Wahrheit» einmalig ist und nur analog mit den anderen übereinkommt. In diese Analogie ist auch die Philosophia und Theologia perennis hineingestellt: sie wandelt sich, um lebendig zu bleiben, in der gleichen Weise, wie die Entelechie jedes Lebendigen sich wandeln und entwickeln muß, um sich selbst, ihrer Idee und ihrem Wesen treu zu bleiben.
Diese vier Gesichtspunkte werden jedem vor Augen stehen müssen, der den Versuch unternimmt, das Verhältnis einer geistigen Epoche zum Gesamtsinn des Christentums zu klären. Es ist stets ein labiles und vieldeutiges Verhältnis; Bezwingung einer weltlichen Formel wird selten ohne ein Verfallen an sie erkauft werden, aber auch in der weltlichen Formel kann sich ein christlicher Kern verbergen. Eines aber ist sicher: keine Zeit gleicht völlig der anderen und immer steht die Kirche vor einer neuen Situation und Entscheidung, in der sie zwar von ihrer Erfahrung sich beraten lassen kann, in der ihr aber die Entscheidung selbst nie und nimmer von irgendeiner Vergangenheit her erleichtert oder gar erspart werden kann.
6. Das Gesetz der Patristik
Die erste große Episode der Ideengeschichte der Kirche ist die Patristik. Mit einem Maximum an unmittelbarem, glühendem christlichem Leben und instinktiver Sicherheit für das Wahre und Unterscheidende des Christlichen tritt die junge Kirche in die heidnische Welt, auch in deren geistigen Bereich hinaus, um sich ihm gegenüber zu behaupten und ihn für Christus zu gewinnen. Die ersten Vorstöße sind zum Teil noch schüchtern und in manchem linkisch und ungeschickt; die weltliche Rüstung des Geistes muß erst eingeübt werden. Die ersten Väter enthalten vielfach Formeln und Auffassungen, die objektiv überholt worden sind und heute als heterodox gelten müßten. Manche, wie Tatian, Tertullian, Hippolyt und Novatian, selbst Cyprian und Origenes geraten in Spannung zum kirchlichen Lehramt und zum sichtbaren Hort der Tradition. Aber die großen Häresien des Gnostizismus, Montanismus, Arianismus, Nestorianismus, Monophysitismus, Manichäismus und Donatismus engen das Feld des freien Spekulierens immer mehr ein: die lebendig-instinktive Orthodoxie setzt sich immer mehr um in eine auch explizit und rational geklärte und in Besitz genommene. Im Schatten der großen Konzilien entstehen jene gewaltigen kühnen Geistesgebäude, die mit einem sieghaften Glauben an die Wahrheit und aus einer seither nie wieder erreichten quellenden Fülle die christliche Theologie grundlegen. Ein unmittelbares Leben aus der Heiligen Schrift, die die ganze Patristik unterbaut und als nährender Ackerboden stützt, verleiht ihr den Charakter einer fast unmittelbaren Entfaltung und Fortführung der Offenbarung selbst. Dazu kommt die Unmittelbarkeit zu den Erfahrungen und Eindrücken der Welt, die jeder jungen Epoche eigen ist und die ihr ein viel offeneres und instinktsichereres Reagieren erlaubt als einem alternden, durch mancherlei festgelegte Begriffe und Gewohnheiten behinderten Geiste. Größe, Tiefe, Kühnheit, Wendigkeit, Sicherheit und eine flammende Liebe, alle Tugenden der Jugend, sind der patristischen Theologie eigen. Auch wird eine solche Reihe von überlebensgroßen Gestalten, wie sie von Irenäus zu Athanasius, Basilius, Cyrill, Chrysostomus, Ambrosius und Augustinus sich hinzieht – das Heer der kleineren gar nicht gerechnet – vielleicht in keinem Zeitalter der Kirche je wieder erreicht werden können. Leben und Lehre sind unmittelbar eins; von ihnen allen gilt, was Kierkegaard von Chrysostomus sagte: «Er gestikuliert mit seiner ganzen Existenz.»
Der erste, größte und schwerste Kampf mit dem heidnischen Geistesraum ist gewonnen und für die Kirche als ganze siegreich bestanden. Alle folgenden Generationen von Denkern, Predigern und Mystikern werden sich immer wieder an den Quellen der Väter laben, stärken, aufrichten müssen.
Dennoch war die Gefahr dieses Kampfes ungeheuer und es ist nicht nur das nachtwandlerische «Glück» dieser begeisterten Jugendzeit der Kirche, sondern letztlich die fast sichtbare Führung des Heiligen Geistes, die diesen Existenzkampf immer wieder zum Heile der Kirche ausschlagen ließ. Gerade die Siegesgewißheit, mit der die Väter alle ihnen begegnende Wahrheit als christlich betrachteten und für sich beanspruchten, mit der sie die evangelische Wahrheit in die Sprache ihrer Zeit, in die Denkformen des späten Hellenismus, vor allem des Neuplatonismus umgossen, barg die Gefahr einer unbewußten Veräußerung des ursprünglichen Offenbarungsgutes. Diese Gefahr war um so größer, als ja der späte Hellenismus selbst eine stark entwickelte Religiosität besaß, mit einem anscheinend übernatürlich-welttranszendenten Charakter, und somit im Nahkampf beider Religionsformen die gegenseitigen Verschiedenheiten zu verschwimmen drohten. Die größte und für die Folgezeit entscheidende und folgenreichste Begegnung vollzog sich in Alexandrien, zumal unter dem genialsten Denker der Patristik, neben Augustinus, unter Origenes. Daß bei ihm, trotz seinem ungebeugten Willen, echter Christ zu sein und zu bleiben, nicht nur äußere Worte, sondern Grundformen des Hellenismus in den christlichen Raum eindrangen und sich, durch den einzigartigen, noch nicht genug erforschten und gewerteten Einfluß dieses Geistesriesen auf die Folgezeit, auch weitgehend festsetzten, das dürfte heute kaum mehr zu leugnen sein. Nicht so sehr einzelne bestimmte Lehren sind es, die hier eindrangen – solche konnten, wie etwa die Vorgeburtslehre, sogleich als häretisch entlarvt werden –‚ als vielmehr einen geistigen Raum, ein ganzes, schwer faßbares Geflecht von uralten Denkgewohnheiten, eine Atmosphäre, eine formale Methodik.
Wir versuchen im Folgenden zunächst, diese Gefahrzone zu charakterisieren; sie liegt in der Tat nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe der patristischen Welt und wird uns somit helfen, deren «Formel» zu umschreiben. Das Korrektiv, das wir nachher anzubringen haben werden, ist aber ebenso wichtig und darf von vornherein nicht außer acht gelassen werden: Die Gefahr, ja die Krisis, in welche die Theologie durch den Hellenismus geriet, ist dieser nicht nur vielfach zum größten Heile geworden – ganz abgesehen von den großen Häresien, durch deren Widerlegung, wie Augustinus sagt, die kirchliche Dogmatik allererst ausgebaut wurde, ist das Werkzeug des griechischen Denkens für die Erhellung der Theologie von letztentscheidender Bedeutung geworden –‚ in einem innersten Punkte wurde die Christlichkeit der Lehre durch keine noch so tiefgreifende Hellenisierung berührt. Dieses mag Ausdrucksmittel, Kleid, Leib des Evangeliums geworden sein, seine Seele wurde davon nicht berührt. Dies wird uns immer wieder erschütternd offenbar, wenn wir selbst so gefährliche Experimente wie die des Origenes nachvollziehen. Eine letzte, oft in Worten kaum faßbare Kluft trennt hier Inhalt und Ausdruck. Wir spüren hinter dem neuplatonischsten Wort das christliche Pathos.
Doch zunächst nun die Schilderung dieser neuplatonischen Gefahr, wie sie sich im Raum der Kirche ausdrückte. Im Neuplatonismus wird das Verhältnis Gott-Welt grundlegend nach dem Schema der «Teilhabe» aufgefaßt. Die Welt ist wesenhaft das Teilhabende, Gott das Teilgenommene. Von Gott aus gesehen ist dieser der Teilgebende, gleichsam sein eigenes Sein aus sich selbst hinaus Haltende, sich Veräußernde, und diese Egressio Gottes aus sich selbst ist selbst die Welt. Eine Stufenfolge von Seinspotenzen bezeichnen diesen progressiven Ausgang Gottes aus sich selbst; bei Plotin heißen sie in absteigender Folge: Geist-Seele-Stoff. Bei den Gnostikern und späteren Neuplatonikern treten an Stelle dieses einfachen Emanationsschemas komplizierte Stufenfolgen von Ausgängen der Gottheit, die den Abstand zwischen dem vollsten Sein und dem Nichts ausfüllen. Dem «Ausgang» Gottes entspricht als zweite Phase der «Wiedereingang» in Gott, in welchem die Abstiegsbewegung sich umkehrt, die Potenzen stufenweise ineinander sich resorbieren und in Gott zurückkehren.
Es ist klar, daß dieses Schema in seiner reinsten und logischsten Ausprägung pantheistischen Charakter hat. Das geschöpfliche Sein wird als eine Depotenzierung des göttlichen Seins gefaßt, es ist in sich selbst «Teilnahme» (und erst auf Grund dieser Bestimmung auch ein «Teilnehmendes»), es ist innerlichst das Aus-sich-heraus-Treten der Gottheit selbst. Nun ergibt sich freilich aus dem schwimmenden, dehnbaren Wesen des Teilnahmebegriffes, daß man die pantheistische Logik des Schemas mehr oder weniger verschleiern und abschatten konnte. So steht es schon bei vielen Gnostikern, so auch bei Plotin, dessen Religiosität durchaus nicht eindeutig als eine pantheistische anzusprechen ist – schon bei ihm hat man den Eindruck einer Kluft zwischen innerer Erfahrung und symbolischem Ausdruck – so natürlich noch viel mehr bei den Vätern, die sich des Schemas bedienen. Und wenn man anfangs allzu einfache Transpositionen des Offenbarungsgehalts auf den platonischen Modus versuchte, indem man vor allem die drei göttlichen Personen in der Art einer absteigenden Reihe von Potenzen der Gottheit faßte (der Vater als Urgott und absolute Einheit, der Sohn als «zweiter Gott», Ort der Ideen und Ursprung der Vielheit, der Geist als «dritter Gott», gleichsam die Grenze zwischen Gott und Welt), so wurde man bald durch die offene Häresie des Arius zur Einsicht in die Unmöglichkeit dieses Schemas gebracht. Auch dachte man nicht daran, die Kreatur als ein im letzten Wesen rein Negatives und Depotenziertes zu fassen, dem widersprach zu scharf das Wort und der Sinn der Bibel.
Aber die innere Logik des platonischen Schemas war eine so zwingende, daß man abweichende Linien gleichsam nur mit einer bewußten Anstrengung ziehen konnte und daß – durch die hypnotisierende Kraft der inneren Architektonik – die Abweichung im Augenblick wieder vergessen werden konnte, wo sie nicht mehr thematisch im Blickfeld stand. Eine erste Anzeige dafür ist, daß (trotz immer wiederholter gegenteiliger Versicherungen) auch aus der postnicänischen Theologie das Abstiegsschema nicht ganz aus der Trinitätsdogmatik zu entfernen war. Obwohl nun die abstrakten und formalen Aussagen über die Dreifaltigkeit korrekt sind, steht vor dem Blick des griechischen Theologen gleichsam als begleitendes Phantasma das Abstiegsschema. Dies ist wohl der letzte Grund dafür, daß das Filioque in der griechischen Kirche nie heimisch werden konnte: eine Auffassung des Heiligen Geistes, die diesen als die substantielle Liebe «zwischen» Vater und Sohn stellt, widerspricht zu offen dem ersten Denkschema des Platonismus. Ein zweiter Hinweis darauf ist die Tatsache, daß trotz der seit Nicäa formell orthodoxen Trinitätsauffassung sich keine entsprechende trinitarische Frömmigkeit und Mystik entwickeln wollte. Es ist zum Beispiel in den mystischen Schriften Gregors von Nyssa beinahe mit Händen zu greifen, daß die schönsten trinitarisch-dogmatischen Stellen fast ohne Einfluß und Zusammenhang mit den eigentlich mystischen Partien bleiben, welche in ihrem Aufstieg nicht zum trinitarischen Gott, sondern zum absolut einfachen «Wesen» Gottes streben, das an der Spitze der platonischen Pyramide steht. Diese Tendenz zum strengen Monotheismus siegt denn auch völlig im grandiosen Ausklang der griechischen Patristik: bei Dionysius Areopagita und bei Maximus Confessor, wo das formal vorhandene Trinitätsbekenntnis so gut wie keine Rolle mehr im lebendigen Vollzug des christlichen Lebens spielt. Bei Maximus vollzieht sich sogar, über Kappadozien und Nicäa hinweg, ein bewußtes Anknüpfen an das origenistische Schema der Logostheologie. – Eng damit zusammenhängt die Auffassung von der Menschwerdung, die, trotz Antiochien und Nestorius, stets zu einer doketisch-eutychianischen Fassung neigt. Die Inkarnation ist folgerichtig als der äußerste Punkt des «Ausgangs» Gottes aus sich selbst gedacht, die Selbstentäußerung (kenosis) erscheint als eine Selbstentfremdung Gottes im Dienste der Heimholung der Welt in die Gottheit. Sie wird von den Alexandrinern beinahe als eine «Verstellung» des rein Geistigen in dessen Gegenpol, in der Materie, aufgefaßt, eine Verstellung, die aus pädagogisch-heilsgeschichtlichen Gründen nötig war, um die Gottferne der materiellen Welt einzufangen und in allmählicher Rückbewegung in den Bereich des Geistig-Göttlichen heimzuführen. Der Vorgeburtsmythus des Origenes und seine Idee, daß die materielle Welt eine Folge des Sündenfalles ist, zeigt dieses Denkschema, das vielerorts gedämpft und latent vorhanden ist, in seiner unverhülltesten und als solches heterodoxen Form. Aber auch wo der Mythus fehlt, bei Clemens, Athanasius, Gregor von Nyssa, Maximus, ist die Denkrichtung doch gegenwärtig. In diesem Schema muß die Menschwerdung als etwas Vorläufiges und Vorübergehendes erscheinen. Die Auferstehung des Fleisches, formell bekannt und festgehalten, erscheint wie eine Störung der systematischen Linien und wird zumeist in der einen oder anderen Form subtilisiert.
Das Entscheidendste aber, das sich daraus ergibt, ist die Gesamttendenz des christlichen Lebens, die Richtung seines Ideals, seiner Aszese und Mystik. Diese Richtung geht, folgerichtig zur Bewegung des aufsteigenden, stufenweisen Wiedereingehens der Weltpotenzen in Gott, eindeutig vom Materiellen weg zum Geistigen hin. Vergeistigung ist, in tausendfachen Abschattungen dargestellt, die Grundtendenz der patristischen Epoche. Das frühe Mönchtum und seine extremen aszetischen Experimente, sein Entkörperungstraining, seine enkratitischen Züge, sein Individualismus zeigt, neben herrlichen Lichtseiten, am deutlichsten die Gefährlichkeit dieser Bewegung. Aus symptomatischen Gründen sei hier nochmals auf Maximus Confessor verwiesen, bei dem das Schicksal der griechischen Patristik in geradezu beispielhafter Weise Gestalt wird. Er, der zum großen Wortführer und Märtyrer Chalcedons und der antimonophysitischen Bewegung wurde, der wie kein anderer in seinen dogmatisch-polemischen Schriften das «asynchytos», die Selbständigkeit, Endgültigkeit und Positivität der menschlichen Natur Christi verteidigte, der dieses Merkwort sogar zum Mittelpunkt seiner philosophischen Weltdeutung erhob, fällt in seiner Aszese und Mystik dennoch in mancher Hinsicht in einen monophysitisch gefärbten Spiritualismus zurück, und besiegelt damit weitgehend das Schicksal des byzantinischen Mittelalters.
Ein letzter, dazugehöriger Zug ist die immanente Tendenz des griechisch-christlichen Denkens, die sichtbare und hierarchische Struktur der katholischen Kirche (als Fortsetzung der Sichtbarkeit Christi) als ein transitorium, ein Exoterisches zu fassen, dem als bleibende Wahrheit eine innere, pneumatich-geistige Hierarchie entspricht und fortschreitend immer mehr zu entsprechen hat. Nun wirkt freilich all diesen spiritualistischen Tendenzen der urgriechische ästhetische Trieb zur Gestaltwerdung, zum Symbolischen und zum Schauspiel entgegen, und unter diesen Kategorien erhält denn auch der ganze materielle Kosmos bei den griechischen Vätern seinen positivsten Aspekt. In diesem Zeichen, als ein Stück des kosmischen Symbolismus, steht zuletzt auch die grandiose Welt der byzantinischen Liturgie vor uns. So zeigt sich, daß auch diese kosmische Liturgik einen platonischen Hintergrund besitzt, also auf anderen Grundlagen aufruht, als die westlich-römische, welche primär Funktion einer positiv gesetzten und in dieser Positivität endgültigen hierarchischen Ordnung ist.
Die Wurzeln des großen Schismas, dies wird man sich immer wieder zu sagen haben, liegen unverhältnismäßig tiefer, als es die immer wieder erneuten Unionsversuche wahr haben wollen. Um die echten und hintergründigen Unterschiede aufzufinden und in liebendem und geduldigem Gespräch so zu schlichten, daß beide Auffassungen ohne Abzug von wesentlich christlichem Gehalt sich zu versöhnen vermögen, müßten die ersten und geheimsten Denkgewohnheiten beider Parteien, die unbewußten und darum wirksamen Voraussetzungen geprüft, aneinander gemessen und durcheinander ergänzt werden.
Wir haben nun freilich im Vorausgehenden zunächst ein stark negatives Bild gezeichnet. Wir haben die Wirkungen und Ergebnisse der Begegnung von christlichem Gehalt mit griechisch-platonischer Denkform so beschrieben, als hätte diese Begegnung zu einer Überwältigung des ersten durch die zweite geführt. Aber die richtige Beurteilung wird auf jenen zweiten Grundsatz der Interpretation zu achten haben, den wir oben aufstellten. Zwischen Gehalt und Gestalt besteht kein Deckungs-, sondern ein labiles und schwer festzulegendes Symbolverhältnis. Überall sind Worte durchsichtig in einer tieferen als die Wortbedeutung. Die gesamte Dimension «vom Stoff zum Geist» ist ein Sinnbild für die Dimension «vom Geschöpf zu Gott». Die jeweilige echte Christlichkeit aber hängt davon ab, inwieweit das Symbol als Symbol erkannt und als solches behandelt ist. Inwiefern also Gott nicht mit dem «innersten Wesen des menschlichen Geistes», das «göttliche Pneuma» nicht mit jenem geschaffenen «Pneuma» verwechselt wird, das die griechische Anthropologie neben Leib und Seele zu den Bestandteilen der Menschennatur zählt.
Nun aber sind die Anzeichen dieser Christlichkeit (und damit des symbolischen Abstandes von Inhalt und Form) auf Schritt und Tritt vorhanden. «Pantheismus», im Sinn wie altgriechische Philosophen ihn vertraten, ist den Vätern das ärgste aller Greuel. Nichts bekämpfen sie energischer und eindeutiger. Immer wird die erste grundlegende Kluft zwischen Gott und Geschöpf betont und festgehalten. Alle «Vergottung» ist nur eine Teilnahme aus Gnade, nie eine Verschmelzung der Natur. Selbst ein so extremer Spiritualist und Einheitsfanatiker wie Evagrius Pontikus hält formell an dieser Scheidung fest. Das Korrektiv des anbetenden Abstandgefühls und der scharfe Sinn für das, was Gnade heißt, ist gerade bei den Größten, bei Athanasius, den Kappadoziern, Cyrill, Dionysius beispielhaft für alle folgenden Zeiten geworden. Der unmittelbaren Tendenz zur «Vergöttlichung» wirkt entgegen jene echte christliche Scheu vor dem unnennbaren und über alles Schauen und Erfassen hinaus entrückten Gott, das Wissen um Gottes ewiges Anderssein und darum um seine mitten im Licht überwältigende, immer größere Dunkelheit. Die Grundlehren der negativen Theologie sind von niemandem klarer entwickelt worden als von Griechen: den beiden Gregor und Dionysius. In der wunderbaren mystischen Theologie des Diadochus von Photike wirkt sich das Christliche in so unmittelbarer Weise aus, daß von hellenistischen Denkformen kaum Spuren aufzuweisen sind. Und wo fänden sich Beispiele heroischerer Kirchentreue als bei Athanasius, Basilius, Cyrill, Maximus?
Endlich muß die Berechtigung des Symbolismus, der Dynamik vom Stoff zum Geist herausgestellt werden. Einmal in sich selbst genommen: Jede religiöse Aszetik wird mit der Ordnung des sinnlichen Trieblebens einzusetzen haben. Das Grundschema Augustins: Leib unter Seele, Seele unter Gott, ist für alle Epochen des Christentums verpflichtend. Dann ausdrücklich als Symbol gefaßt: Das Absterben dieser Welt mit Christus, die Dynamik des Lebens auf den neuen, nicht mehr grobsinnlichen, sondern geisthaft verklärten Äon, den das Christenleben vorauszunehmen und vorauszuleben hat («Euer Wandel ist im Himmel», «Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott»), dieser grundlegende und in aller Weltzugewandtheit unaufhebbare Aspekt der Offenbarung läßt sich durchaus in den weltlichen Kategorien Stoff und Geist symbolisieren. Paulus und Johannes haben es selbst getan, wenn sie Gott «Geist» nennen und «Fleisch» und «Pneuma» als Symbolwerte für den alten und den neuen Äon aufstellen. Und so klingt bei den Vätern auch stets diese biblische durch die hellenistische Wortbedeutung hindurch.
Und zuletzt darf nicht vergessen werden, wie stark der Platonismus, auch der Neuplatonismus, zur Zeit der Väter mit aristotelischen und stoischen Elementen durchsetzt war. Nicht nur die Antiochener, als geborene Rivalen Alexandriens, auch die origenistische Theologie ist mit solchen Elementen durchsetzt, gewisse Traktate Gregors von Nyssa sind ohne Poseidonius nicht zu denken, so wenig wie der Ausbau der calcedonensischen Theologie und die Summa des Damasceners ohne Aristoteles. So mag in der mannigfachsten Weise die Gefahr des Platonismus gebannt und das, was wir sogleich als das Eigentümliche der Scholastik herausstellen werden, bereits von den Vätern vorweggenommen sein.
Dennoch muß hier, wo es nur um das hintergründigste und oft übermalte und korrigierte Denkgesetz der patristischen Periode geht, das platonische Schema als das überwiegende herausgestellt werden, das im grundlegenden «Teilnahme»-Begriff immer die Gefahrenzone eines gleitenden Übergangs aus dem Bereich des naturhaften Geistes in den gnadenhaften des göttlichen Pneuma in sich birgt. «Pneuma» als der Ort der eigentlichen Teilhabe schillert (wie die im selben Punkt sich entwickelnde, spätere russische Sophiaspekulation) in einer unklärbaren Zwei-Einheit zwischen der göttlichen und der geschöpflichen Sphäre. Dabei wird der fundamentale Mangel der ganzen platonischen Schematik offenbar: sie vermag, ins Christliche übertragen, ein ausgezeichneter Ausdruck des übernatürlichen Verhältnisses zwischen dem Gott der Gnade und dem begnadeten Geschöpf zu sein – Gnade ist ja wesenhaft «Teilnahme» an der göttlichen Natur –‚ sie ist aber nicht imstande, das jeder Begnadung zugrunde liegende Verhältnis der Naturen selbst genügend zu verdeutlichen. Denn sie vermag nur eine Beziehung, nicht ein in dieser Beziehung Bezogenes vorzuweisen. Vielmehr muß die Ersetzung des Bezogenen (als eines eigenständigen positiven Suppositums) durch die Beziehung das erstere zu einem reinen Negativum herabwerten. So beschreibt sich denn auch im platonischen Denken die Sphäre des geschaffenen Seins als ein me-on, ein Nicht-sein. Gewiß nicht als ein pures Nichts, aber als ein – dem Teilgebenden gegenüber – relatives Nichts. Daß die Schöpfung als solche etwas grundsätzlich anderes ist, als eine Depotenzierung Gottes, das vermag das platonische Schema nicht zu zeigen.
So kommt es, daß in allem platonisch-christlichen Denken Schöpfung (Natur) und (Sünden-)Fall eine geheime, wenn auch meist unausgesprochene Affinität besitzen und daß auf der anderen Seite das Positive in der erschaffenen Natur unmittelbar als ein Übernatürliches gesehen wird. Das als Gnade gedeutete «Pneuma» des Menschen gehört doch anderseits mit zur naturhaften Konstitution des Menschen. Das platonische Schema zeichnet den formalen Grundriß des Gott-Geschöpf-Verhältnisses zu einfach – (sie verhalten sich nach ihm wie n und -n) – und aus dieser Vereinfachung ergeben sich letztlich in genauer Logik alle Gefahren der patristischen Theologie und Geistigkeit. Nun war freilich der Versuch mit dem Platonismus das erste intellektuelle Abenteuer der Kirche. Insofern muß in diesem ersten Ausdrucksverhältnis all das Implizite und noch Unentwickelte mitberücksichtigt werden, das einem jugendlichen Entwurf anhaftet und ihm seinen Reiz verleiht. Gerade darum dürfen wir in den Vätern große Vorbilder intellektueller Kraft und christlichen Wagemutes erblicken, müssen wir sie mit Takt und Zartheit auslegen und erklären und immer die verborgene Spannung und Symbolik zwischen Sinngehalt und Ausdrucksform mit in Rechnung ziehen. Nichts aber wäre gefahrvoller, als von unserem völlig verschiedenen Standort aus eine reine, vorbehaltlose Rückkehr zum patristischen Platonismus zu fordern. Denn wir haben durch eine jahrtausendlange Reifung die Grenze dieses Platonismus immer deutlicher verstehen gelernt und können nicht ungestraft diese Entwicklung rückgängig machen wollen.
Freilich wird es immer einen Anstrich von Tiefe, von Frömmigkeit und Überlegenheit über die Niederungen eines «bloß formalen Philosophierens» tragen, wenn man das platonische Schema, das im christlichen Bereich das übernatürliche Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf ausdrücken kann, zum grundlegenden Gott-Geschöpf-Verhältnis verallgemeinert. Etwa in der Form, daß man das exoterische und flache «Kausalverhältnis» durch ein angeblich tieferes «Exemplarverhältnis» ersetzt. Wenn auch sicherlich das einzigartige und unfaßbare Verhältnis zwischen Schöpfer und Kreatur sich nicht in die Kategorie der causa efficiens im innerweltlichen Sinn bannen läßt, wenn auch das Verhältnis der Ursprungsähnlichkeit ein ganz grundlegendes ist, so ist doch die reine Überordnung des Exemplarverhältnisses und damit die Rückkehr zum betonten Platonismus ebenso einseitig wie in der Folge verderblich, denn sie bringt, wie die Erfahrung zeigt, in ihrem Gefolge zumeist jene ganzen Tendenzen der Väterzeit zum Spiritualismus und Supranaturalismus zurück. Hier gilt es, in einer «heiligen Nüchternheit» einzusehen, daß das scheinbar Interessantere und Erregendere nicht notwendig das wirklich Tiefere ist und daß man den tiefsten Wahrheiten der Gnade gerade dadurch sich nähert, daß man eine korrekte Lehre von der Natur ihr unterbaut.
Alles, was wir hier über die Struktur der patristischen Theologie sagten, ist keineswegs neu; jeder Theologe weiß vielmehr, daß das Verhältnis von Natur und Gnade bei den Vätern noch nicht endgültig geklärt ist. Was aber nicht im selben Maße eingesehen wird, ist die geistesgeschichtliche Ursache dieser Unklarheit und die alles durchdringenden Konseqenzen der platonischen Voraussetzungen, wenn diese einmal in den theologischen Raum eindringen.
Auch betonen wir nochmals ausdrücklich, daß es uns hier und im folgenden in keiner Weise um eine immanente Schätzung und Wertung des Platonismus und des Aristotelismus als philosophischer Theorien geht. Wir betrachten sie einzig auf ihre Eignung hin, gewisse Teilaspekte und Bereiche des christlichen, theologischen Weltbildes zu erhellen und kategorial zu durchleuchten. Einzig von diesem Standpunkt aus betrachten wir im folgenden den Weg der Scholastik als einer notwendigen Klärung von Grundstrukturen, die im Bereiche der Patristik, aus einem gewissen Mangel an begrifflichem Material, nicht zur vollen Durchsichtigkeit gelangen konnten.
7. Das Gesetz der Scholastik
Die Scholastik, in ihren größten Meistern bewußt auf dem von den Vätern Erarbeiteten fußend und ehrfürchtig in ihre Tradition eintretend, versucht die Klärung des noch schwebenden Verhältnisses zwischen Gott und Welt durch eine Wendung von Plato zu Aristoteles. Diese Wendung bedeutet in ihrer Tiefe die Ersetzung des Teilnahmeschemas (als formalem Grundriß) durch das Schema des Gewirktseins; und für das Gewirkte (d. h. das Geschöpf) die Ersetzung der μετοχή durch die ἐνέργεια oder ἐντελέχεια. Damit ist auf der einen Seite auch der Schein eines pantheisierenden Emanatismus noch vermieden; das Heraustreten Gottes aus sich selbst erscheint nicht mehr unter dem Gleichnis einer Selbstentfremdung und somit eines Abstiegs, einer Depotenzierung, sondern unter dem einer Schaffung, Erzeugung eines Andern, eines Gegenüber. Infolgedessen ist anderseits damit die positive Seinsmächtigkeit dieses Gegenüber ausgedrückt, sein innerer Selbstbesitz, seine Positivität. Thomas ist grundlegend der Philosoph der «Zweitursachen». Er ist eben damit der Theologe der «Natur», das heißt jener aller gnadenhaften und ungeschuldeten Teilhabe an Gott vorausliegenden und sie allererst ermöglichenden Eigenständigkeit des geschaffenen Seins. Damit ist ein Ausdruck für jene grundlegende Tatsache des Christlichen geschaffen, daß alle Gottbeziehung des Geschöpfs sich nur auf der Grundlage eines immer überwiegenden gegenseitigen Andersseins sich aufbaue und daß nur diese Grundlage genüge, eine höchste Einigung zu tragen und zu ermöglichen. Thomas hat das Paradoxe in seiner ganzen Schärfe eingesehen, als er den Grundsatz aussprach, daß, je näher ein Geschöpf Gott stehe, um so mehr es fähig sei, sich selbständig zu bewegen.
Es ist klar, daß mit dieser grundsätzlichen Wendung, prinzipiell wenigstens, alle jene Gefahren wegfallen, die das platonische Schema mit sich brachte. Denn nunmehr haben die Seinsstufen (Geist-Seele-Leib; beziehungsweise Mensch-Tier-Pflanze-Stoff) nicht mehr den ausschließlichen Charakter einer stufenförmigen Depotenzierung des Seins und einer progressiven Entfernung vom zentralen Feuer des Lebens. An die Stelle dieser Stufenleiter tritt der gerundete, in sich geschlossene und geordnete Kosmos, in dem jedes Individuelle seinen Wert und seine Würde besitzt und kein einzelnes, auch das Tote und Stoffliche nicht, dem Ganzen entbehrlich sein darf. Mit anderen Worten: die Richtung auf Gott zu ist nicht mehr eindeutig als Richtung auf den Geist zu (also vom Stoff weg) zu fassen; Gott steht als Schöpfer gleichsam in gleicher Entfernung und Nähe zu allen seinen Geschöpfen, und erst auf dem Grundriß dieses gleichmäßigen Abstandes, dieser «Indifferenz» der Geschöpfe, zeichnet sich das besondere Verhältnis des bewußten geschaffenen Geistes zu Gott ab. Hiermit ist die letzte Versuchung aus dem Wege geräumt, die innergöttlich-trinitarischen Beziehungen in irgend einer Weise heilsökonomisch oder kosmologisch zu bestimmen; es ist die Möglichkeit genommen, die Inkarnation in doketisch-monophysitischer Richtung als ein transitarium zu einem rein-geistigen Zustand zu mißdeuten, wie auch jedes Mißtrauen und jede Feindseligkeit dem Stofflichen und seinen natürlichen Gesetzen gegenüber prinzipiell gewichen ist. Die Linien, die im platonischen Schema nur durch eine gewisse Anstrengung richtig gezeichnet werden konnten (weil sie der Systemlogik widersprachen) fügen sich hier gleichsam von selbst in das grundgelegte Schema ein.
Auf diesem Fundamente baut sich die (platonische) Gnadenordnung auf, ohne es mehr in Frage zu ziehen. Denn nunmehr, da die Gnade keine pneumatische Substanz mehr ist (wie im unklaren anthropologischen «Pneuma» der Väterzeit), sondern eine, wenn auch unerhörte, Modifikation der naturhaften Substanz (ein «accidens»), kann alle Teilnahme und Einigung mit Gott nunmehr als eine gleichzeitige Vollendung und Krönung der «Naturhaftigkeit» der Natur aufgefaßt werden.
Birgt nun aber nicht diese aristotelisch orientierte Weltanschauung die umgekehrte Gefahr in sich? Nämlich: an Stelle des Supranaturalismus in einen Naturalismus, an Stelle der spiritualistischen Mystik in einen Rationalismus zu verfallen? Ist nicht die Scholastik bald in eine Überschätzung der natürlichen Ratio und ihrer Leistungsfähigkeit verfallen? Wir werden, diese immanente Gefahr nicht leugnen, ebensowenig wie die teilweise Ausartung der späten Scholastik in eine rationalistische Subtilisierung des Offenbarungsgehaltes. Aber zunächst gilt es, deutlich zu sehen, daß die großen Scholastiker weder reine Philosophie noch reine Theologie, sondern eine aus Natur und Übernatur sich durchdringende totale Weltschau anstreben. Sie sind sich darüber klar, auch wenn sie es nicht jeden Augenblick aussprechen, daß sie zu großen Teilen dort, wo sie scheinbar nur philosophieren, theologisches Gut verwerten und den Sinn der fides quaerens intellectum zu erhellen und zu ordnen suchen. Daß sie in etwa der ratio bei diesem Geschäfte ein größeres Vertrauen schenken als die Platoniker, ist in ihrer Auffassung von der Aktivität und Selbstmächtigkeit des geschaffenen Geistes gegeben, der gerade darin (und nicht so sehr in der passiven platonischen «Schau») seine größte Gottähnlichkeit besitzt. Die wirkliche Gefahr dieser Tendenz beginnt erst dort, wo in Vergessenheit gerät, daß diese totale Weltschau gerade in ihren abschließenden Erkenntnissen eine theologische, das heißt von Gott her gespendete ist, wo also das einheitlich philosophisch-theologische Denken der Hochscholastik – wie es die moderne Scholastik vielfach versucht – zu einem immanenten, rein philosophischen «System» von logischer Stringenz verengt wird.
Aber liegt in dieser Betonung des natürlichen Fundaments nicht wenigstens die naheliegende Gefahr einer Zerreißung des weltlichen Seins in zwei beziehungslose «Stockwerke», eine natürliche und eine übernatürliche Zone? Auch diese Gefahr besteht nicht, solange mit der Hochscholastik bewußt an der absoluten Einzigkeit des letzten, nämlichen übernatürlichen Endziels dieser Welt festgehalten wird. Alles in der natürlichen Ordnung ist ja schon von dieser Finalität geleitet und auf sie hin ausgerichtet. Jeder Mensch, lehrt der Aquinate, der zum Alter der Vernunft kommt, entscheidet sich, wenn auch noch so implizite, für oder gegen sein übernatürliches Heil, das heißt für oder gegen die Heilsordnung Christi. Weiterhin aber verleiht gerade die umgreifende theologische Weltschau, das heißt die Schau der Welt von Gott her, einen weit tieferen Blick in das gottgeschenkte und gottbezogene Wesen der geschaffenen Natur, als es je einem griechischen Philosophen möglich gewesen ist. In diesem Blick wird es offenbar, daß der höchste Adel des Geschaffenen darin besteht, wesenhaft und ontisch ein stets verfügbares Werkzeug des göttlichen Lobes und Dienstes zu sein, daß also diese restlose Verfügbarkeit – potentia oboedientialis – und infolgedessen die ihr subjektiv entsprechende Haltung restlosen Sich-Vertrauens und Überlassens das letzte Wesen und die vollkommenste Haltung des Geschöpfes bezeichnen. Wenn also in der Erhebung zur Teilnahme an der göttlichen Natur diese Verfügbarkeit in Anspruch genommen wird, so schreibt sich die Übernatur wirklich in den fundamentalen Grundriß der Natur selbst ein; die Einheit könnte, bei aller sachlichen Scheidung, nicht enger sein.
So seltsam es klingen mag: die eigentlichen Gefahren der Scholastik entstammen nicht dem Aristotelismus (wir sprechen hier nur von den Grundkonzeptionen, nicht von einzelnen, diskutablen Sentenzen), sondern von unüberwundenen Resten des Platonismus. So ist, um den wichtigsten und heikelsten Punkt zu nennen, die sachliche Scheidung von Natur und Übernatur (bei aller faktischen Durchdringung) auch bei Thomas noch nicht völlig vollzogen. Denn Thomas kennt noch kein der Natur des Geschöpf es als solcher zukommendes (wenn auch in der faktisch übernatürlichen Weltordnung immer schon überformtes, «aufgehobenes») natürliches Endziel. So muß er zur Konzeption einer «natürlichen Sehnsucht» des Geschöpfes zum übernatürlichen Schauen Gottes gelangen, womit freilich die Gefahr in Sichtweite kommt, die potentia oboedientialis als eine potentia naturalis zu deuten, was der patristischen Gefahr entspricht, das «Pneuma» als einen Wesensteil des Menschen aufzufassen. Die Idee einer geradlinigen Vergöttlichung erscheint im Hintergrunde, und es ist nicht zufällig, daß die Mystik des Seelenfünkleins bei Meister Eckehart neben den griechischen Vätern auch Thomas verpflichtet ist, auch nicht zufällig, daß die Realdistinktionslehre des modernen Thomismus (nach welchem dem actus im Geschöpf eine wahre Unendlichkeit der Fülle zukommt, die nur durch ein davon unterschiedenes «Wesen» eingeschränkt wird) sich immer wieder gegen den Vorwurf eines latenten Pantheismus zu rechtfertigen hatte. Mit dieser Lehre des «desiderium naturale visionis» hängt weiterhin zusammen die scholastische Tendenz eines stufenweisen Aufstiegs durch die verschiedenen Stufen und Reiche des Weltseins und dadurch eines Anzielens, gelegentlich fast eines Errechnens der inneren Struktur des übernatürlichen Seins. Dieser verborgene Rationalismus, der gelegentlich in manchen Konvenienzargumenten der Scholastik sichtbar wird, hat also seinen Ursprung nicht im aristotelischen, sondern im platonischen Denkschema. Ist doch der «Stufenbeweis», die berühmte «quarta via», der unterscheidend platonisch-plotinische Gottesbeweis! Mit diesem aufsteigenden Denken hängt wiederum letztlich zusammen, daß auch in der Scholastik die altpatristische Denkrichtung vom Materiellen und Partikulären weg zum Geistigen und Universellen hin als die eigentliche und vornehmste sich durchhält, daß etwa in echt-hellenischer Weise das Partikuläre als solches ein Nichtiges (ans Quantitativ-Materielle Gebundene) bleibt, und daß die Richtung zum Universellen und Geistigen zugleich den Weg zum Göttlichen weist. Als letzte Auswirkung dieser platonischen «Direktheit» muß das mittelalterliche Ideal des «Sacrum Imperium» gelten, jener organischen Einheit und Durchdringung von Staat und Kirche, welche aus einer noch ungenügenden Unterscheidung der beiderseitigen sachlichen Gehalte entsprungen ist.
Nun kann freilich gerade die Richtigkeit und das zeitweise Gelingen dieser letzten Einheit darauf verweisen, daß das Mittelalter eine einmalige Situation in der Gesamtentwicklung des Christlichen bedeutete, eine wesentliche Stufe also, die einmal durchzuexperimentieren war und darum in dieser Einmaligkeit ihre Berechtigung hatte. Aber ebenso klar wird aus dieser Betrachtung, daß auch hier das Rad der Geschichte nicht zurückzudrehen ist und daß eine immanente Logik die Hochscholastik – genau so wie die Patristik – über sich hinausführen mußte. Es gibt in dem Ablauf dieser Logik kein Stehenbleiben beim Mittelalter, noch viel weniger ein mögliches Zurück hinter das Mittelalter. Vielmehr müssen wir, beladen mit dem ganzen positiven Erbe der Vergangenheit, uns einen Weg in die Zukunft bahnen. Für das Mittelalter selbst aber ist jener «Symbolismus» zwischen Inhalt und Ausdruck einzuschalten, den wir schon in der Patristik beobachteten. Weil die Scholastik eine höchst lebendige Weltdeutung war, fehlen ihr nicht jene stillschweigenden Widerlegungen und Ergänzungen, welche der lebendige Instinkt eines großen Denkers an der starren Logik seines Denkens vornimmt. Ist aber dieser Symbolismus von einer späten Situation als eine Inadäquation durchschaubar, dann kann dieser Ausgleich nicht mehr spielen, dann gilt es, die Folgerungen klar zu ziehen.
Niemand würde uns also gründlicher mißverstehen, als wer unsere Zeichnung der beiden Perioden als eine «Wendung zur Scholastik» und «Abwendung von der Patristik» deutete. Beide Perioden haben ihre Stärke und ihre Gefahren. Die Versuchung der Scholastik, in aristotelische, irgendwie «erbsündig» gebundene Denkschemata die übernatürliche Ordnung hineinzubannen und zu rationalisieren, ist keine geringere als die umgekehrte Versuchung der Patristik, die natürliche Ordnung in einem mystischen Platonismus zu verflüchtigen. Aber es kam uns hier nicht auf die konkrete empirische Ausgestaltung der Scholastik an, sondern nur auf ihre abstrakte und gleichsam intelligible «Idee». Diese Idee aber kennzeichnet sich dadurch, daß sie die ganze Wahrheit der Patristik in sich aufnehmen kann – ob sie es faktisch getan hat, ist eine andere, rein historische Frage! – und überdies deren schwebende Unklarheit in einem grundlegenden, für die christliche Weltdeutung entscheidenden Punkte zu beheben vermag. Die Vermehrung des begrifflichen Materials und der zur Verfügung stehenden «Denkformen» erlaubt eine exaktere Beschreibung des Grundbestandes der Offenbarung.
Dieser Fortschritt besteht, wie gesagt, auch dann, wenn im empirischen und historischen Raum allerlei Ausartungen, vielleicht sogar eine Schwächung der ursprünglichen, genialgestaltenden Kräfte nachgewiesen werden könnte. Ja, es könnte vielleicht so sein, wie unsere pessimistische Perspektive am Anfang es glauben machen wollte: es könnte sogar der Ablauf von Patristik zu Scholastik zu Moderne ein fortschreitendes Abnehmen der denkerischen und synthetischen Gestaltungskraft in der Theologie aufweisen, – es würde damit doch in nichts die Tatsache berührt, daß die Abfolge der formalen Gesetze dieser Perioden das unterscheidend Christliche immer deutlicher zur Erscheinung gebracht hat.
8. Das Gesetz der Moderne
Der fernere Weg des christlichen Denkens in der modernen Zeit ist in seinen positiven Zügen die fortschreitende Ausschaltung der platonisch-hellenistischen Rückstände der Scholastik. Freilich fehlen streckenweise die großen und genialen Systematiker, die Führung geht zurück an die nichtkirchliche, ja nichtchristliche Philosophie und Theologie. Dennoch bleiben die großen Linien sichtbar.
Eine erste Linie führt vom intellektualistischen Universalismus der Scholastik weg in die fortschreitende Entdeckung und Wertung des Konkreten, Einmaligen und Geschichtlichen. Mit dem Ausbau des Nominalismus verliert der Allgemeinbegriff seine ontologische Würde und wird zum bloßen erkenntnishaften Hilfsmittel. Das Individuelle ist das einzig Existent-Reale. An Stelle der individuatio ratione materiae tritt fortschreitend die individuatio ratione formae. Entsprechend nimmt die Schilderung dieser einmaligen Individuen, die Geschichte, überhand und tritt neben und über die geschichtslose kosmische Systematik. Das Zeitalter der Entdeckungen bringt die Geschlossenheit der irdischen Welt ins Menschheitsbewußtsein und diese ist das sprechende Sinnbild der entdeckten sachlichen Selbständigkeit der geschöpflichen Natur. Die Renaissance begeistert sich für die Welt des Leiblichen und seine Ausdruckssprache, deren sich das Barock zur Darstellung auch des Transzendentesten bedient. Dieser Trieb ins Individuelle und Geschlossen-Natürliche entartet weiterhin als Empirismus, Rationalismus, Deismus, Materialismus und Historismus.
Eng damit zusammenhängend führt eine zweite Linie vom scholastischen Naturbegriff weg und vertieft den bisher noch wenig ausgebauten Begriff des Suppositums, der «Person». Gegenüber der naturhaft-gegenständlichen Denkweise bei Thomas erhebt sich die personal-akthafte von Skotus, die in letzter (späterer) Zuspitzung den ganzen Bereich der gegenständlichen, logisch-ontologischen Zusammenhänge als Äußerung und Vergegenständlichung des letzten akthaften Freiheitspunktes der Person faßt. Damit rückt auch die Beziehung von Welt und Schöpfer in ein neues Licht: die Welt erscheint von Augenblick zu Augenblick abhängig vom unergründlichen Willen, Wohlgefallen, Lieben einer majestätisch-souveränen Person. Die Kreatürlichkeit der Welt tritt in größter Schärfe hervor. Von Skotus her dringt dieses Pathos in den Thomismus (wie Báñez ihn ausprägt) über, es wird beherrschend in der Haltung eines Ignatius von Loyola und verdüstert sich in der rein aktualistischen Theologie des Protestantismus und des Jansenismus. Bei Kant und im 19. Jahrhundert säkularisiert sich dieser personale Aktualismus in mannigfachen Formen des Irrationalismus.
Beide Linien: die fortschreitende Entdeckung des Individuell-Konkreten und damit der eigentlichen Weltlichkeit der Welt und die fortschreitende Betonung des Personalen, ergänzen sich im Christlichen zu einer einheitlichen Sinnrichtung. Der formale Grundriß der Gott-Geschöpf-Beziehung verdeutlicht sich dahin, daß gleichzeitig mit der erhöhten Selbständigkeit des Naturbereichs die erhöhte Abhängigkeit vom Schöpfer hervortritt. Zugleich mit der Rundung der natürlichen Sphäre in sich selbst erscheint gleichsam nackt und enthüllt die formale Beziehung der Kreatürlichkeit. Damit sind aber in der Tat die letzten Reste des alten Hellenismus überwunden. Denn die beiden kennzeichnenden Thesen des Platonismus: der Vorrang des Universellen über das Einzelne bis zur Hineinnahme der Ideenwelt in die göttliche Sphäre, – und damit die Streberichtung vom Stofflich-Partikulären hinweg zum Geistigen und Allgemeinen erfahren hier geradezu ihre Umkehrung. Der personale Gott, der in seiner eigentlichen personalen Intimität nicht von unten und außen her angezielt und wie ein objektiver Gegenstand in geistigen Besitz genommen werden kann, muß, um erkannt zu werden, sich allererst offenbaren. Offenbarung als personale Selbsterschließung der göttlichen Majestät ist das schlechthin Ungesollte, schlechthin Unerwartete und von der Natur her so wenig im voraus «Ersehnte» und «Ahnbare», so wenig die Erfüllung eines «tiefsten Dranges», daß sie auch nach ihrem Vollzug für diese den bleibenden Charakter eines betont «positiv Gesetzten» behält, eines also in der unterscheidenden Haltung der Unterwerfung, der Hingabe, des Glaubens und des Dienstes Entgegenzunehmenden. Von hier aus rechtfertigt und erklärt sich die Betonung des rein «Positiven» in der gesamten verfügten Heilsordnung: die betonte Blickrichtung auf die Person Jesu in seiner irdisch-menschlichen Faktizität (gegenüber dem kosmisch-universalen Christusbild der Väterzeit), die Unterstreichung der «Positivität» der kirchlichen Hierarchie bis zur Unfehlbarkeitserklärung des Papstes, in dessen Wort die reine, im Gehorsam zu empfangende Positivität der Offenbarungsweise sich fortsetzt. Die potentia oboedientialis als letzter Grund der Kreatur ist somit in ihrem wörtlichen Sinn zutage getreten und endgültig von einer Verwechslung mit einer potentia naturalis bewahrt.
Wenn damit die reine Übernatürlichkeit der Offenbarung, das reine Von-oben-Herein fast unerträglich scharf heraustritt, so gilt als unentbehrliche Ergänzung dazu, daß gerade in der neuzeitlichen Formel das Übernatürliche nun auch wirklich und endgültig ins Natürliche hinein tritt. Die Welt, in die hinein die Menschwerdung sich vollzieht, ist eine echt weltliche Welt; nicht etwa ein schattenhaftes und symbolisches Abbild einer höheren, geistigen, idealen und universalen Welt, sondern eine Welt, in der es einmalig-individuelle Personen und Situationen gibt, in der Zeit und Raum die Grundlagen qualitativer Verschiedenheiten sind, die nicht ohne ein Wesentliches einzubüßen auf einen Allgemeinbegriff reduziert werden können, in der es also echte Geschichte gibt, Augenblicke, die dem Ewigen unmittelbar ins Auge blicken und durch nichts ersetzt werden können. Eine Welt also, in der das Leibliche kein Vorläufiges ist, sondern ein endgültiger Bestand, und die, falls sie durch Gottes Beschluß «verewigt» und «verklärt» werden sollte, es nur mitsamt dieser Leiblichkeit werden könnte. In diese so sehr weltliche, Gott so unähnliche Welt also tritt Gott ein und nimmt sie, gerade in dieser Weltlichkeit und Unähnlichkeit, in Beschlag. Gerade was sie unterscheidet: ihr Natursein mit allem, was es beinhaltet: vernunfthaftes, logisches Denken, freies Wollen, gemüthaftes Fühlen, das Vitale und Animalische seiner Leiblichkeit, seine Affekte, Schmerz und Lust, kurz der ganze große Jahrmakt des irdischen Alltags wird von Gott als Ort seiner Menschwerdung ausgesucht. Keine vergeistigte und pneumatische Natur, sondern das σχῆμα ἀνϑρώπου, das gewöhnliche Schema des Menschen. Und in dieses unverkürzte und unverwandelte Schema hinein ergießt er die «Fülle der Gottheit».
In dieser Auffassung ist die alte, erbsündige Versuchung des Menschen, sich durch «Aufstieg» zu etwas Nicht-mehr-Menschlichen zu vergöttlichen, radikal unmöglich gemacht. Denn einmal ist ihm die Möglichkeit, von sich aus zu Gott aufzusteigen, genommen. (Nicht natürlich in dem Sinn, daß er keine naturhafte Fähigkeit zur Gotteserkenntnis besäße, da es gerade der modernen Zeit vorbehalten blieb, diese gegen alle Leugnungen zu definieren. Sondern in dem Sinn, daß er Offenbarung nicht von sich aus erwarten, sondern nur als zu ihm absteigend gehorsam empfangen kann.) Sodann ist ihm in der eindringlichsten Deutlichkeit von Gott selbst vorgelebt, daß er sich nicht durch Ablegung seiner Natur «vergöttlichen» kann, sondern einzig allein auf der bleibenden Ebene dieser Natur.
Und dies, so müssen wir abschließend und zum Anfang zurücklenkend nun beifügen, durch den Mitvollzug des betonten Abstiegs Christi in das Natürlichste und scheinbar Ungöttlichste dieser Natur: in die Gewöhnlichkeit und Glanzlosigkeit der Armut, die Blindheit des Gehorsams, die Verstoßenheit und Verlassenheit eines armen und erbärmlichen Menschenwesens in Kreuz, Tod und Grab. Und nun wird auch der Christ, der diesen Abstieg Christi mitvollzieht, radikal gegen den versucherischen Gedanken gefeit zu sein, daß er nur dem «äußeren» und sinnlichen Menschen nach «absteige», dem «inneren», «geistigen» und «pneumatischen» nach dagegen «aufsteige». Denn nunmehr kann er nicht mehr sein eigenes, menschliches «Pneuma» mit dem «Pneuma» des Heiligen Geistes in ihm verwechseln. Weiß er auch zutiefst um das Geheimnis seiner Einigung mit Gott und Gottes Natur, welche sich durch diesen Mit-Abstieg mit Christus in Welt, Kreuz und Tod vollzieht, so wird er doch diesem innersten Geheimnis seines Herzens – Deus interior intimo meo! – die Ehre geben oder vielmehr – lassen, ja diesem Geheimnis durch sein möglichstes «Abnehmen» das «Wachsen» anheimstellen.
9. Die Gesamtstruktur
Wir haben, wie sich von selbst versteht, in dieser Kennzeichnung der modernen christlichen Idee noch mehr als früher verkürzt und schematisiert. Es kam uns einzig darauf an, den einen lebendigen Punkt zu finden und herauszuheben, von dem aus die mannigfachen geistigen Strömungen seit dem Mittelalter ihren letzten Sinn und ihre entscheidende Rechtfertigung erhalten.
Aber wie sieht dieser – unleugbare – Fortschritt in der Herausarbeitung der zentralen christlichen Idee im Konkreten aus! Nirgends vielleicht wuchert das Erbsündige stärker, nirgends auch Ohnmacht, Verfahrenheit, Zerfall. Ganz abgesehen von den häretischen und heidnischen Formen, welche diese Zeit ausfüllen, scheint das christliche Denken kaum eine ganz runde und ganz vollkommene Gestalt hervor gebracht zu haben, welche die gesamte Überlieferung in ihrem Echten und das Moderne in seinem Bleibenden zusammengefaßt hätte. Die einen halten an einer vergangenen Situation fest, die doch nur dann wahr bliebe, wenn sie sich lebendig verwandelte und fortentwickelte, die anderen geraten in bewußte oder unbewußte Abhängigkeit des Rationalismus, Empirismus, Idealismus, Traditionalismus usw. Andere endlich suchen das Prinzip des Modernen in irgend einer Richtung zu verabsolutieren und zu überspannen, in der Richtung eines reinen Aktualismus (der Sein und Wirken gleichsetzt) oder Personalismus (der unter dem Deckmantel der «religiösen Persönlichkeit» eine Art von pneumatischer Libertinage betreibt) oder einer «edlen Menschlichkeit» (humanisme chrétien) – der man aber das Ressentiment auf zehn Schritte schon anmerkt, – oder einer «tragischen Existentialität» mit hohler Stimme und papierener Maske, oder einer «Theologie der Krisis», welche um der Schärfe des Messers willen – das Messer selbst preisgibt…
Aber nicht darauf kommt es an, wie die Echtheit des Christlichen in schier unabsehbaren Formen aufs neue erbsündig entstellt und verbogen werden mag, sondern darauf, daß diese Echtheit in unserer Zeit sichtbarer sein kann als vielleicht jemals bisher. Die beiden Momente, die sich uns anfangs als seine Merkmale aufdrängten, sind in langsamer, jahrhundertelanger Entfaltung aus mannigfacher Verschleierung zu einer relativ größten Reinheit herausgetreten: die volle Transzendenz und die volle Immanenz des Christlichen gegenüber der Natur; oder deutlicher: das «Gesetz der Umkehrung»: daß Gott um so mehr als Gott (das heißt als der Ganz Andere) erscheint, je inniger unsere Einigung mit ihm wird.
Wir haben aber bisher die drei großen Perioden, die uns beschäftigten, nur in ihrer Aufeinanderfolge und darum in ihrer Übergänglichkeit und Relativität betrachtet, welche es uns verbietet, eine der vergangenen Epochen in ihrer Beschränktheit wieder zum Leben zu erwecken. Es erübrigt sich noch in Kürze jene andere Betrachtungsweise, die wir oben ankündigten, und die das Bleibende und Einmalige jeder Periode herausstellt und so aus den verschiedenen Strukturen die eine Gesamtstruktur zu lesen versucht.
Für diese ist bezeichnend, daß die dritte Epoche, die wir beschrieben, nicht eigentlich mehr einen ganz neuen Ansatz brachte, sondern eben nur noch ein Zuendeführen von bereits Angelegtem, daß also der fruchtbare Gegensatz, aus dem das Bild des Ganzen sich ergänzt, entscheidend doch zwischen Patristik und Scholastik sich ausspannt, oder wenn man will, zwischen Platonismus und Aristotelismus als den letzten formalen Denkrichtungen des menschlichen Geistes. Aber uns beschäftigt hier nicht dieser ewig labile Ausgleich des philosophischen Denkens zwischen «Idealismus» und «Realismus», sondern der Ertrag dieser Spannung für das Theologische und Christliche.
In diesem Sinn vertritt die Patristik, in höchster und formalster Perspektive betrachtet, das ewige Wahrheitsmoment der christlichen «Weltauskehr» bis zum vollen Sterben und Verschwinden der Kreatur vor dem Gott, der «alles in allem» ist und immer mehr werden muß. Die unaufhaltsame Reduktion der Seinsstufen auf das höchste Sein, die in der platonischen Logik liegt, das Übersichhinaus alles wesentlich nur teilnehmenden Seins und, als entsprechender Widerhall dieses Seinsverhalts im Reich des Bewußtseins, eine tiefe ontologische Frömmigkeit, für welche Dasein selbst Gebet ist, der Sinn dafür, daß das Geschöpf nichts anderes ist, als die Darstellung und Repräsentation Gottes außer ihm selbst, darum ein tiefes Verstehen des Kultischen, der Objektivität der symbolisch-sakramentalen Weltordnung – dies sind die ewigen Werte der patristischen Zeit. Sie sind dadurch beeinträchtigt, daß ein allzu einfaches Schema der Gott-Geschöpf-Beziehung ihnen zugrunde gelegt ist, oder besser, daß das echte christliche Schema gleichsam gegen den Strom der platonisch-pantheisierenden Logik durchgehalten werden mußte. Dieser Mißstand schwindet, wenn das patristische Prinzip sich vom scholastischen ergänzen läßt und so geklärt in die Einsicht der Moderne sich läutert. Denn hier, in der Moderne, ist das Prinzip des «Gott alles in allem» unverkürzt und sogar noch folgerichtiger durchführbar, da die Souveränität und Totalität Gottes nicht mehr auf Kosten des Weltlichen, sondern gerade in dessen unterscheidender Vollendung zur Erscheinung kommt. «Ich brauche nicht tot zu sein», sagt Claudel, «damit du lebest.» Gott ist so sehr Gott, daß er selbst in dem «alles» sein kann, was er nicht ist. Die Modifikation in der geistigen Haltung, die in diesem Übergang von patristischer zu moderner Frömmigkeit enthalten ist, läßt sich beschreiben als den Wandel von einem weltabgewandten «Absterben der Welt» zu einem weltzugewandten «Absterben der Welt». Mit anderen Worten, es tritt im Modernen unterscheidend hervor, daß auch das Moment der christlichen Weltabkehr unter dem übergreifenden Zeichen der Sendung steht. Der christliche Tod soll kein Verlassen des natürlichen, weltlichen Postens sein, auf den die Offenbarung und Heilsordnung uns stellt, sondern muß auf diesen Posten selbst durchlitten werden. Der patristische Sinn für Objektivität und Repräsentation weicht nicht etwa einem überhandnehmenden Subjektivismus und Anthropozentrismus (wie die Linie immer wieder verzeichnet wird), sondern dieser Sinn für Objektivität und Repräsentation kommt im Prinzip des Modernen gerade zu seiner Vollendung: sofern alle «Subjektivität» exstatischen Aufgehens in Gott umgriffen bleibt vom Sinn und Bewußtsein christlicher Sendung. Im Christlichen gilt, in einem letzten Sinn, daß jeder so viel ist, als er vorstellt. Das Ontologische und Liturgische der patristischen Frömmigkeit erhält im modernen Prinzip nur insofern eine andere Färbung, als die große liturgische Handlung sich nicht mehr gleichsam aus der Welt hinaus in eine jenseitig-göttliche Welt hineinspielt – man denke an die völlige Transzendenz der Ikonenkunst –‚ sondern von Gott her in die Welt hinein. In diesem «von Gott her» liegt das radikale Abgestorbensein für diese Welt, die Teilnahme an der «Indifferenz» Gottes allen Dingen gegenüber, und zuletzt das repräsentierende Gesendetsein; «in die Welt hinein» aber unterstreicht, daß diese Indifferenz sich mitten in der größten «Differenz» des Lebens zu bewegen und anzusiedeln hat, in echter, lebendiger Natur, ja selbst als ein Stück Natur. Nur eine oberflächliche Schauart wird die Gesetze der Patristik und Moderne als Theozentrik und Anthropozentrik, als liturgisch-ontologische und subjektiv-psychologische Frömmigkeit oder Mystik einander gegenüberstellen. Der Unterschied liegt einzig darin, daß die Patristik (unter den noch nachwirkenden platonischen Hemmungen) die «Subjektivität» selbst noch nicht als eine Funktion der totalen Repräsentation zu fassen verstand.
Die Scholastik ist, gegenüber der Patristik, die entscheidende Eroberung des naturhaften Bezirkes für die Welt des Christlichen. Indem sie auf die ἐνέργεια des geschöpflichen Seins, sein Für-sich und damit auf seine naturhaften Fähigkeiten den Ton legt, bedeutet sie gewiß das Erwachen der «Subjektivität» gegenüber der fast personlosen Objektivität der griechischen Welt. Augustin (nicht erst Bernhard) schlägt das Thema an, das bis Franziskus und Tauler nicht mehr abbricht. Aber es ist doch entscheidend, daß diese Form der sinnenden und sinnigen Subjektivität doch unter der übergreifenden Form der scholastischen Weltschau aufblühte, welche eine Schau der Gesamtordnung des Kosmos von Gott her war. In dieser Hinsicht bleibt die strengste Ordnungsgebundenheit selbst einer so schweifenden Subjektivität wie der Dantes vorbildlich, so wie auch die Abenteuereien des höfischen Rittertums von strengstem Zeremoniell geregelt wurden. Der ungestüme Drang zur Verleiblichung auch noch des Geistigsten, der in allen Gebieten (von der Kirchenstaatspolitik über die Baukunst zur Theologie) die Führung übernimmt, artet nicht zu einer Vergötzung der Welt aus, weil er im christlichen Abstieg zur Menschwerdung seine entscheidende Form hat. Insofern steht das Mittelalter wirklich in einer glücklichen Mitte zwischen zwei Zeitaltern: die ungeheure Naivität, mit der es die Dinge: Welt und Gott, Natur und Gnade, Staat und Kirche zusammensah, mit der ihm, wie dem Toren Parsifal, die unverhofftesten Werke glückten, war nur in dieser schwebenden Mittelstellung zwischen abklingendem Platonismus und aufdämmerndem modernem Realismus möglich. Es war ein Schweben, das die Realität der Dinge noch nicht in ihrer ganzen Schärfe zu sehen bekam – die «Art» und die «Gattung» bleiben dem Scholastiker noch immer die letzte geistig faßbare und revelante Wirklichkeit, nicht das Individuum –‚ aber doch schon in der Richtung auf sie zuging. So übersetzt sich das Ethos der Objektivität und Repräsentation der Patristik im Mittelalter in ein Ethos der «Diskretion» in allen Schattierungen dieses Wortes. Der Platz, der der ratio zugewiesen wird, kommt ihr nur von Gnaden der fides zu, und doch ist sie unter dieser schützenden Form zu selbständiger Funktion herangewachsen. Diese Selbständigkeit wird zunächst immer mehr wachsen, selbst auf die Gefahr hin, die Gegenwart der übergreifenden Realität zu vergessen oder ihr Joch bewußt abzuschütteln. Die Krisen des Nominalismus und Subjektivismus, des Rationalismus und Irrationalismus werden äußerlich zwar weit umher Verheerung stiften. Indem sie aber das innerste Prinzip des Mittelalters zum Siege bringen, dienen sie, ohne es zu wissen, dazu, die entscheidende Formel des Christlichen hervorzutreiben.
Diese Formel bedeutet, nach allem Gesagten, ein Dreifaches: die Vollendung der im Mittelalter begonnenen «Wendung zur Natur» als dem «Orte» der Menschwerdung und damit als dem Orte des Vollzugs der «Vergöttlichung» des Menschen, wie sie der Patristik vorschwebte, – die Vollendung der in der Patristik so stark betonten Letztform der Welt: das «Gott alles in allem», sofern gerade die konkreteste Sicht der Welt (als singulär, geschichtlich, personal) auch die konkreteste Sicht ihrer Kreatürlichkeit, bis hinab zum Fundament der potentia oboedientalis, dem Knüpfungspunkt von Natur und Übernatur, ermöglicht, – und so die Vollendung des Zueinander von Patristik und Scholastik über beide hinaus.
Damit ist zuletzt auch unsere Aufgabe vorgezeichnet. Allen vorwiegend rückgewandten Vereinseitigungen aus dem Wege gehend, haben wir den Gesamtsinn des Christlichen zu verwirklichen, wie der innere Sinn unserer Zeit ihn fordert. Dieser Gesamtsinn muß gewiß, gegenüber einem überhandnehmenden Naturalismus, das Grundgesetz des «Absterbens» und «Hinübersterbens» in die neue erlöste Welt mit aller Macht zur Sichtbarkeit verhelfen. Und insofern werden uns die Väter mit ihrem Ethos das lebendigste Vorbild sein. Aber dieses Absterben darf sich nur im übergreifenden Sinn einer Sendung in die Welt hinein vollziehen, ja einer unverkürzten Bejahung der unterscheidenden Menschlichkeit und Weltlichkeit, als des Ortes der Epiphanie des immer größeren und immer unbegreiflicheren Gottes.
In diesem Sinn ist der Bedeutungswandel des Begriffes der christlichen Liebe, als der Grundtatsache der Offenbarung und der Grundforderung der christlichen Existenz, von der Patristik zur Moderne bedeutsam und mag uns abschließend den Sinn unserer Ausführungen zusammenfassen.
Der Gegensatz besteht, zunächst negativ gesehen, keinesfalls darin, daß sich bei den Vätern «Liebe» als ein «ontologischer» übernatürlicher Zustand aus dem sakramentalen Leben der Kirche heraus entfaltete, während sie bei den Modernen einen primär «psychologischen» und (wie man schließt) daher «natürlichen» Klang besitzt. Daß christliche Liebe sich nur aus der ursprünglichen Wiedergeburt aus Gott (in Taufe oder Begierdetaufe), also aus einem ursprünglichen begnadeten Absterben der Welt und Teilnehmen an Gottes Natur, sich herleiten kann, darüber sind sich alle Zeiten der Geschichte einig. (Jene vereinfachenden Konstruktionen übersehen völlig die in der Patristik ständig latente Gefahr einer Subjektivierung und Individualisierung der Mystik, einer Umdeutung der Agape in das Ergebnis einer selbsttätigen und aufsteigenden Aszese: Origenismus und Messalianismus mögen hier nur als die stärksten Krisispunkte in Erinnerung gerufen werden.) Der wahre Unterschied besteht vielmehr darin, daß bei den Vätern jenes ursprüngliche Herausgehobenwerden aus der Welt als solches festgehalten wird, ohne daß der unterscheidende Ort dieses Vorganges hervorgehoben wird. Liebe ist also das Hineingenommenwerden des Geschöpfes in das abgründige Leben der Gottheit, ein volles Transzendieren und Übersich-hinaus-Bezogensein des ganz nur relativen und teilnehmenden Seins in die Bewegung, darin Gott aus der Welt zu sich zurückkehrt. Die Abstiegsbewegung der Inkarnation, darin Gott sich zur Welt wendet, mitzuvollziehen, hätte für die Väter keinen Sinn. Denn da die Schöpfung und vor allem der Sündenfall uns bereits in dieses «Unten»‚ diese «Gottferne» gebracht und Christus in der Menschwerdung uns in diesem «Unten» gesucht hat, so gilt es nun einzig, sich ihm anzuschließen und den Rückweg zu Gott anzutreten. Das tut der vollkommene Christ durch Regelung seiner Natur und Selbstreinigung (bis zum Ideal der christlichen Weltindifferenz, «Apatheia») und durch Beschauung der himmlischen Geheimnisse des neuen Äons (bis zum Vollmaß der «Gnosis»); er entfaltet so in seinem Leben das Prinzip des göttlichen Lebens, bis gleichsam sein Wesen ganz transparent geworden ist für jenen überweltlichen Frieden und jene Abgeschiedenheit der «lauteren Gottheit» in sich selber. Die Darstellung dieses Friedens vor der Mitwelt und den Menschen ist das Beispiel, an dem sich deren Sehnsucht nach Gott entfalten muß. Der «Ausfall» gewissermaßen der «persönlichen» Sphäre im Vollendeten ist sein entscheidendes Liebesgeschenk an die Menschen: in seinem Verschwinden erscheint Gott.
Für den Modernen ist die Neugeburt, die die Liebe begründet, primär ein Hineingestelltwerden in die Bewegung Christi: absteigend von Gott her in die Natur hinein. Sein «trinitarisches Leben» drückt sich in der Sendung (missio) des Sohnes vom Vater weg aus, in welcher Sendung der Geist der Liebe seinen Ursprung und seine Ermöglichung hat. Sein «Gott alles in allem» trägt daher die Züge eines weltoffenen «Hallar Dios en todas las cosas», dies aber gerade nicht als ein schwelgerisches Aufblühen «personaler Beziehung», sondern im strengen Vollzug der Sendung Christi. Liebe betont darum hier gewiß – entgegen den Vätern – das «Gegenüber zu Gott», aber dieses «Gegenüber» als Vollzug des kreatürlichen Gesetzes des Nicht-Gott-seins und darum des Gehorsams. Liebe und «Freundschaft» werden (um eine etwas überspitzte Formel zu gebrauchen) gleichsam zur «Seele» und vollendeten Überhöhung des Gehorsams- und Dienstverhältnisses, das der Grund der Natur ist (amor non tollit sed perficit et elevat oboedientiam). Im vollendeten Gehorsam vollendet sich auch der Sinn der Liebe Christi: in der vollen Verleugnung seiner Selbstheit als «Knecht Jahwes» in Kreuz und Tod vollendet sich und erscheint die selbstverschwenderische, «absteigende» Liebe Gottes zur Welt. Dort also, wo die Kreatur am kreatürlichsten ist, ist Gott am göttlichsten. Der Christ vollzieht diese Selbstentäußerung Christi mit, und dies im «aufreibenden» Dienste an der Erlösung der Welt. In dieser Vernichtung aber wird – nur mit dem «Gesetz der Umkehrung» versehen – die Selbstvernichtung und Entpersönlichung des patristischen Liebesideals eingeholt. Denn auch hier erscheint, wo die Natur zu ihrem Ende und ihrer Wahrheit gelangt ist, das göttliche Leben als Sinn und Erfüllung von allem. Aber gerade dieses «Gott alles» begründet die Auferstehung des neuen Äons und die Vollendung der Kreatur in ihrem immer größeren Gegenüber vor dem immer größeren Gott.

Hans Urs von Balthasar
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Patristik, Scholastik und wir
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Allemand
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AllemandMaison d’édition :
Saint John PublicationsAnnée :
2025Genre :
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