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Katholizismus und Gemeinschaft der Heiligen
I
Man kann sich wundern, daß neben den vier Attributen der Kirche – die eine, die heilige, katholische und apostolische – noch ein weiteres Attribut im Credo als grundlegend erachtet und eingeführt wurde: die Gemeinschaft der Heiligen. Wir möchten im folgenden zeigen, wie sehr diese Einführung die vier anderen verdeutlicht und konkretisiert, wie sehr sie gerade das Katholische andern christlichen Kirchen gegenüber kennzeichnet.
Um dies in der Tiefe zu verstehen, ist vom Werk Jesu Christi auszugehen, auch sofern es den Alten Bund überschreitet. Denn es wäre schwer, im letztern von einer Gemeinschaft der Heiligen zu sprechen, die etwas anderes wäre als die Einheit der Volksgemeinschaft, von Jahwe mit starkem Arm aus dem Sklavenhaus herausgeführt und als Eigenvolk und priesterliche Gemeinschaft hergestellt. Aber abgesehen von der Zugehörigkeit zum erwählten Volk ist der einzelne darin in einer seltsamen Einsamkeit: Elija in seiner Verlassenheit: «Ich allein bin übriggeblieben», Jeremia in der völligen Vereinzelung seiner Sendung, Hosea und Ijob in der Unverständlichkeit ihres Auftrags. Im Grunde kann hier keiner etwas für den andern.
Das Wort, das die Existenz Jesu Christi am zentralsten kennzeichnet, heißt Stellvertretung. Der Gottesknecht bei Jesaja hatte das prophezeit, aber niemand hatte bisher diese Weissagung zu deuten vermocht, sie war links liegengeblieben. Stellvertretung ist das, was am Kreuz geschieht, der Unschuldige stirbt für den Sünder und kann ihn sterbend mit ins Paradies hinübernehmen, kann die Hoffnungslosen als Toter aus der alttestamentlichen Scheol emporreißen. Die Exegese der letzten Jahrzehnte hat Jesu ganze Existenz als «Pro-Existenz» zu bezeichnen unternommen (allen voran Heinz Schürmann), und dieses Wort hat sich – zunächst in der deutschen Exegese – fest eingebürgert. Karl Barth hat in einer Terminologie, der wir nicht folgen werden, Jesus als den (einzigen) «Menschen für die andern» bezeichnet, während alle übrigen «Menschen mit den andern» seien. Um die Zeit des ephesinischen Konzils kam das Wort vom admirabile commercium, vom «wunderbaren Tausch» auf, das in Liturgie und Theologie durch alle Jahrhunderte seinen festen Platz einnahm. Getauscht wird zwischen Christi Heiligkeit und der Menschen Sünde: «Gib mir deine Sünde, so kann ich dir meine Heiligkeit geben», spricht der Gekreuzigte. Er ist die in der Wüste erhöhte Schlange: wer zu diesem Tier, das alle Bosheit symbolisiert, emporblickt, wird von den tödlichen Schlangenbissen geheilt. Diese die innerste Verfaßtheit des Mitmenschen verändernde, in ihr Gegenteil umkehrende Tat ist in der Geschichte einmalig – unbeschadet aller erfundenen Heilungsgötter –, und deshalb kennzeichnet es das katholische Christentum auch so einmalig.
Warum? Weil die unvergleichliche und unnachahmliche Tat Christi das von ihm gebrachte Heil so tief prägt, daß etwas davon auf das von ihm den Seinen geschenkte Heil übergehen kann. Das Neue Testament zeigt dies mit einwandfreier Klarheit. Das Mittelglied ist Jesu Eucharistie: «Tut dies zu meinem Andenken.» Schon die Apostelgeschichte weiß, daß die «im Brotbrechen Verharrenden» folgerichtig äußerlich «alles gemeinsam haben» und innerlich «ein Herz und eine Seele» sind. Beides gehört sosehr zusammen, daß die, wie Ananias und Sapphira, im Äußeren nicht alles der Gemeinschaft hingeben, damit ihre innere Lüge und ihren Egoismus dartun und nicht zur Gemeinschaft der Brotbrechenden gehören können. Denn diese sind, wie Paulus aufs klarste erkannte, durch den Genuß des einen Brotes und einen Kelches mit Christus zusammen «ein Leib». Und diesen einen Leib beschreibt er bald darauf ausführlich als eine Gemeinschaft voneinander untrennbarer Glieder. Nicht bloß weil sie einander nicht entbehren können: «Das Auge kann nicht der Hand sagen: ich brauche dich nicht, ebensowenig der Kopf den Füßen: ich brauche dich nicht.» Vielmehr deshalb, weil der eine vielgliedrige Leib von einem einzigen Blut, dem Christi durchströmt wird und sein Für-Sein sich allen Gliedern mitteilt: so daß «kein Zwiespalt im Leib entsteht, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen (hyper allēlōn). Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit, wird ein Glied verherrlicht, freuen sich alle Glieder mit.»
Daß es bei dieser Sorge füreinander keinesfalls nur um etwas Äußerliches geht – etwa Krankenpflege oder mit Geld aushelfen –, zeigt das Beispiel Pauli: «Wer ist schwach, und ich werde nicht mit ihm schwach? Wem wird Anstoß bereitet, und ich empfinde darob nicht brennenden Schmerz?» Und darin ist er kein Isolierter: «Ahmt mich nach, wie ich Christus nachahme.» Derselbe Gedanke ließe sich durch das ganze Neue Testament verfolgen, er liegt, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, im johanneischen Weinstocksgleichnis: die Rebe, die im Weinstock bleibt, bringt viele Frucht, nicht für sich, auch nicht für Gott allein, sondern ebenso für die andern. Denn Johannes verbietet jede Trennung von Gottes- und Nächstenliebe, wie Jesus bei Mattäus alles von den Christen dem geringsten Bruder angetane Gute und Böse sich selber zuschreibt. Und dies – um zum Ursprung zurückzukehren –, weil der am Kreuz Erhöhte «alle an sich ziehen» kann und will, alle in ihrem Egoismus verstreuten Schafe zur einen Hürde zusammenführt, so daß alle ihre Zusammengehörigkeit dem Einen verdanken, jeder Gerettete die Rettung im andern sieht: «Keiner suche das Eigene, sondern das der andern.» «Die Liebe sucht nicht das Ihre.»
II
Ist diese Weisung der Schrift in den Christentümern durchgehalten worden? Soweit wir alle Sünder und Egoisten sind, gewiß nicht. Aber als Ideal ist sie in der Zeit vor den großen Spaltungen einhellig verstanden worden. Ein Beweis dafür ist die von den Vätern (zumal von Augustin, aber auch von vielen andern) immer neu entwickelte Lehre vom «wunderbaren Tausch». Doch gebe man acht: der Tausch findet für die Väter immer zwischen Christus und der Kirche statt. Die Kirche – so sagen sie oft – war vor ihrer Begegnung dem Herrn eine Dirne, Christus hat ihr seine Reinheit gegeben und sie zur Jungfrau gemacht. Diese Sicht wurde schwierig im Augenblick, da die Theologie begann, statt vom Zentrum Christus herzu denken, den Sündenfall in die Mitte zu rücken und zwischen Erwählten und Verworfenen zu unterscheiden. Und dies systematisch, das heißt so, daß wir ein absolutes Wissen besitzen, daß es auch ewig Verworfene gibt. Hier war der Gedanke des Tausches nur noch schwer durchzuhalten, es sei denn, man sage, Christus habe sich für eine Großzahl von Menschen, die massa damnata vergeblich hingegeben. Gottes Erlösungsabsicht wird vom Sünder durchkreuzt und widerlegt. Was wird dann aus dem wunderbaren Tausch?
Das, was leise bei Augustin angelegt ist, doch bei ihm vom Preis der Liebe noch übertönt wird, erhält aber in den protestantischen Kirchen das Übergewicht. Bei Luther erfolgt der wunderbare Tausch nicht mehr zwischen Christus und der Kirche, sondern zwischen Christus und dem «armen Hürlein Seele». Damit rückt nun ein Bild der Erlösung ins Zentrum, das wesenhaft individualistisch ist: der Artikel der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben. Die protestantischen Bekenntnisschriften erklären ihn als die Mitte der christlichen Offenbarung, als den articulus stantis et cadentis ecclesiae, also das, was Käsemann «den Kanon im Kanon» nennt. Das Heilsgeschichtliche ereignet sich wesenhaft zwischen Gott und dem einzelnen Glaubenden. Die Emphase, mit der Kierkegaard den «Einzelnen» in seinem Gottverhältnis und seiner polemischen Distanz von einer verweltlichten Kirche schildert, mag großartig klingen, sie ist trotzdem der offenkundige Verlust der Gemeinschaft der Heiligen.
Denn der auf den Glauben des einzelnen gelegte Akzent verändert das ganze Bild der Kirche. Es gibt fürderhin die (unsichtbare) Kirche der wahrhaft Glaubenden, der Erwählten, und die äußere sichtbare Kirche der zum Gottesdienst Versammelten und das Credo gemeinsam Aufsagenden. Welche dieser beiden Kirchen entspricht noch dem, was Paulus als den «Leib Christi» geschildert hat? Eigentlich keine. Denn die Kirche der Erwählten ist nicht die von Paulus geschilderte Gemeinde, in der es «ehrenhafte» und «unehrenhafte», das heißt heilige und sündige Glieder gibt, und die äußere Kirche kann zwar viele gute Werke verrichten, aber diese sind nicht mehr der direkte Ausfluß des rechtfertigenden Glaubens, sie können auch von den andern, Verworfenen, ausgeführt werden. Noch deutlicher gesagt: die Kirche der Apostel war eine aufgrund der Eucharistie und auch aufgrund der Einsetzung der Apostel durch den Herrn organische und darin auch hierarchisch gegliederte Gemeinschaft («ihr seid Christi Leib, als einzelne dessen Glieder, und Gott hat die einen in der Kirche bestimmt erstens zu Aposteln …»); die Kirche der Reformatoren ist in ihrem echten Kern die Summe der Prädestinierten, in der äußeren Schale die Summe der zum Gottesdienst Versammelten. In der Catholica gehört das Amt (mit Petrus als Symbol und Vollzug der Einheit) zum Organismus: die Kirche ist communio hierarchica, wie das II. Vaticanum sagt. In den Kirchen der Reformation besteht dieses Moment organischer Verfassung nicht, weshalb hier die einzelnen Ämter aus ihr selbst ausgegliederte Funktionen sind, die nach Belieben verliehen und wieder zurückgezogen werden können. Dies hängt innerlichst mit dem alles tragenden und begründenden Rechtfertigungsartikel zusammen, da nie die Kirche als die von Christus erlöste und (zur Stellvertretung der ganzen Menschheit) gestiftete ernstlich als «sein Leib» gelten kann.
Wenn der protestantische Ernst des Rechtfertigungsartikels innerlich schwindet, wird das übrigbleiben, was die Geschichte des Protestantismus, aber leider auch die der katholischen Kirche, sofern in ihr das Leibbewußtsein und der Sinn für die Wahrheit der Eucharistie geschwunden ist, wurde: eine Kirche der Ethik, der guten Werke, des sozialen Verhaltens, der Befreiung derer, die politisch und sozial unterdrückt sind. Im Grunde eine Karikatur der Gemeinschaft der Heiligen.
III
In der neueren Zeit wird mit großem Eifer an der Wiedervereinigung der Kirchen gearbeitet. Das zentrale Interesse, das die Diskussionen befeuert, ist einerseits der Glaube (faith), andererseits die kirchliche Organisation (order). Große Anstrengungen werden nach zwei Seiten gemacht: einmal ein gemeinsames Glaubensbekenntnis wiederzugewinnen (und diese Anstrengungen sind fruchtbar und dürften zu wirklichen Erfolgen führen), sodann das Problem der Kirchenleitung zu besprechen, wobei in manchen Gremien auch die Frage des Petrusamtes mutig und offen angegangen wird. Hier wird man typischerweise bis zu einer (nicht überschreitbaren) Grenze vorstoßen können: protestantisch gesehen kann das Amt, auch das Einheitsamt als sehr nützlich, vielleicht sogar als unentbehrlich erkannt werden, aber (jure humano) als eine aus der Kirche sich ausgliedernde Funktion; katholisch dagegen bleibt das Amt ein Moment innerhalb des von Christus aus sich entlassenen Organismus (jure divino).
Die besagten Diskussionen werden solange zu keinem letzten Ergebnis gelangen können, als der Kirchenaspekt von Glaube und Institution (faith and order) sich nicht mit dem Kirchenaspekt der communio sanctorum zusammenschließt; erst dieser zweite läßt die Kirche wahrhaft als christusförmig erscheinen, ob man sie nun mehr als seinen Leib oder als seine Braut versteht (was nur zwei Aspekte des Gleichen sind). Dann erhält auch der Akzent sanctorum seine ganze Fülle. Denn er ist, wie bei den Kirchenvätern zunächst, Gemeinschaft mit den im Himmel vollendet heilig und christusförmig Gewordenen, auf deren Für-Können die noch sündige Kirche vertrauen darf, er ist aber ebenso Gemeinschaft der «Heiligen» auf Erden, da wir alle jetzt schon vieles füreinander können und auch sollen. Und freilich um so mehr, je mehr ein Christ die Form Christi in sich ausgeprägt hat, eben das Für-Sein, die Selbstlosigkeit der Liebe.
Ökumenische Gespräche sollten sich mit gleicher Kraft diesem zweiten Aspekt zuwenden, der allein einen Fortschritt im ersten Aspekt verbürgt. Katholisch gesprochen hieße dies, daß es fruchtlos ist, über Petrus zu reden, wenn man nicht gleichzeitig über Maria spricht, und ebenso fruchtlos über Maria und Heiligenverehrung zu handeln, wenn man nicht über Petrus und das Amt spricht, denn beides findet sich begründet in der von Paulus so hervorgehobenen communio der Heiligen schlechthin. «Ich rede wie zu verständigen Leuten: urteilt selbst über das, was ich sage: Ist der Segenskelch, den wir segnen, nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Weil es ein einziges Brot ist, sind wir Vielen ein einziger Leib» (1 Kor 10,15-17).

Hans Urs von Balthasar
Titre original
Katholizismus und Gemeinschaft der Heiligen
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Fiche technique
Langue :
Allemand
Langue d’origine :
AllemandMaison d’édition :
Saint John PublicationsAnnée :
2025Genre :
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